Das Komplott der Senatoren

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Potomac, Maryland, zwei Tage später

Wie lange war er nicht mehr hier gewesen? Lee erinnerte sich nicht an den letzten Besuch bei seinem Vater, aber er war sicher nicht angenehm verlaufen. Und jetzt war der allmächtige Senator tot.

»Mr. Lee!«, begrüßte ihn Maria mit Tränen in den Augen. Ihre Stimme klang, als würde sie im nächsten Augenblick zu schluchzen beginnen. Wenigstens ein Mensch, der dem Verblichenen ehrlich nachtrauerte, dachte er bitter.

»Maria, wie geht es Ihnen?«

»Es ist so schrecklich, Mr. Lee. Und ich war nicht da, als es passierte!« Sie sagte es, als trüge sie die Schuld an seinem Tod.

Lee trat durch den Triumphbogen ins Haus.

»Was ist denn geschehen?«, fragte er, obwohl ihn das Büro des Senators bereits eingehend informiert hatte. Marias Wortschwall bestätigte die traurige Geschichte: sie wäre fast selbst gestorben, als sie den Senator gestern Morgen tot in der Bibliothek gefunden hatte. Der Arzt stellte akutes Herzversagen fest. Ein Herz-Kreislauf-Kollaps, nichts Ungewöhnliches bei Menschen seines Alters. Der Sarg mit den sterblichen Überresten des großen Politikers wartete nun im Bestattungsinstitut auf die Überführung in seine alte Heimat, nach Phoenix. »Wenigstens hat er nicht lange leiden müssen«, sagte er, ohne zu erröten.

»Oh ja, Mr. Lee, das ist ein großer Trost für uns alle«, stimmte sie zu und begann hemmungslos zu weinen. Er wusste nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Sie hatte ihn wirklich geliebt, den alten Sack, der ihm auch tot kein bisschen sympathischer wurde. Lee kannte ihn seit er denken konnte als selbstgerechten Egomanen, der es geradezu darauf anlegte, seine politischen Gegner platt zu walzen. Gegner gab es genug, denn er politisierte am äußersten rechten Rand, die freie Marktwirtschaft möglichst ohne staatlichen Einfluss war sein Evangelium. Er war ein exzellenter Networker, seine Fäden reichten in die Verwaltungsräte und Chefetagen der wichtigsten Unternehmen. Er unterstützte die großen Energiekonzerne in ihrer rückwärts gerichteten Energiepolitik aus dem letzten Jahrtausend und wurde nicht müde, jeden unkonventionellen, zukunftsgerichteten Ansatz ins Lächerliche zu ziehen. Auch die Arbeit seines eigenen Sohnes. Dass Lees junge Firma ›Disruptive Technologies‹ mit neuartigen Technologien energiesparender Wasseraufbereitung schon schöne Erfolge erzielte, interessierte den alten Knacker nicht die Bohne. Auch nicht, dass Lee seinerzeit als einer der besten Physiker seines Jahrgangs an der U of C, der University of Chicago, abgeschlossen hatte. Seinen Master ›summa cum laude‹ nahm er nicht einmal zur Kenntnis. Ein ewiger Träumer wäre er, der sich mit lächerlichen Hobbies beschäftige, statt richtige Arbeit zu verrichten. Zu liberal, zu links war er seinem Vater selbstverständlich auch, wie fast jedermann. Senator O’Sullivan war ein stockkonservativer, irischer Dickkopf gewesen, der sich für allmächtig und nichts Grosses neben sich geduldet hatte, noch nicht einmal Gott. Von Haus aus Katholik, hatte er seit Jahrzehnten keine Kirche mehr von innen gesehen. Er hatte es nicht an die große Glocke gehängt und sich auch nie geoutet, war aber ein funktionaler Atheist gewesen, und das war auch das Einzige, was Lee an seinem Vater gemocht hattee. Ein Weiberheld war er überdies gewesen, der die Frauen schamlos ausgenutzt hatte. Gut, dass er nicht in den Armen einer Nutte gestorben war. Nein, Lee konnte beim besten Willen keine Träne vergießen um seinen toten Vater, noch nicht.

»Ich möchte sehen, wo es passiert ist«, sagte er zu Maria.

»Selbstverständlich«, antwortete sie schluchzend und ging voran die Treppe hinauf. Es war dunkel in der Bibliothek, die Luft roch abgestanden. Sie zog die schweren Vorhänge auf, öffnete die Terrassentür und zeigte auf den Sessel, in dem der Senator gestorben war.

»Hat man nichts verändert?« Er stellte die Frage nur, um sie abzulenken. Ihr Schmerz und ihre echte Trauer waren unerträglich.

»Nein, Mr. Lee, ich habe das Zimmer seither nicht mehr betreten. Ich konnte nicht.«

»Das verstehe ich.« Er sah, dass sie gegen die Tränen kämpfte, aber er war beim besten Willen nicht die geeignete Person, bei der die junge Frau sich ausweinen konnte. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich eine Weile allein zu lassen? Ich – möchte Abschied nehmen.« Laut jammernd eilte sie hinaus. Er schaute sich nachdenklich im Zimmer um, in dem sich sein Vater oft aufgehalten, vertrauliche Gespräche mit Kollegen vom Hill geführt und Lobbyisten empfangen hatte. Sein privates Arbeitszimmer, das nun zum Sterbezimmer geworden war. Als einziger Sohn musste er sich um den Nachlass kümmern, und das schlug ihm schwer auf den Magen, ganz abgesehen davon, dass er keine Zeit dazu hatte. Wenn das Projekt in Indien jetzt nicht vorangetrieben wurde, konnte er es vergessen.

Lustlos betrachtete er die riesige Bücherwand: jede Menge juristischer Kram. Die Mitte des Gestells zierte eine, wie es aussah, unangetastete Sammlung klassischer irischer Literatur. Joyce natürlich, Shaw, Beckett, Swift. Swift? Er hätte gewettet, dass sein Vater noch nie von Gullivers Reisen gehört hatte. Was ihn ernsthaft verunsicherte waren die drei Bücher auf dem Schreibtisch. Hatte der Alte doch hin und wieder ein Buch in die Hand genommen? Der Titel des dicken Wälzers zuoberst auf dem Stapel überraschte ihn: Wasserkrieg, Studien zum globalen Klimawandel. Neugierig schlug er das Buch auf. Innen am Deckel klebte ein Zettel: ausgeliehen von der Library of Congress. Das handschriftliche Ausleihdatum war schwer zu entziffern, aber die Jahrzahl genügte. Das Buch hatte die Library vor fünf Jahren verlassen, das heißt, die Rückgabe dürfte auch etwa fünf Jahre überfällig sein. Auch die beiden anderen Wälzer stammten von der Library of Congress. Irgendwie beruhigte ihn diese Tatsache. Der Senator hatte einfach wieder einmal aufgeräumt.

Während er überlegte, wie er vorgehen sollte, stöberte er halbherzig in den Schubladen. Eines der Schubfächer war leer bis auf ein schwarzes Adressbüchlein, und plötzlich wusste er, was zu tun war. Er suchte die Telefonnummer von Garrah, McKenzie und Partners, der Anwaltsfirma in Washington, die den Senator seit Jahren betreute. Sein Anruf wurde sofort durchgestellt.

»Dr. O’Sullivan, ich möchte Ihnen, auch im Namen der Firma, unser tief empfundenes Beileid aussprechen«, begrüßte ihn eine samtweiche Frauenstimme. »Mein Name ist Marion Legrand, ich bearbeite das Dossier des Senators.«

»Gut, danke.« Ohne Lust auf Smalltalk mit den Winkeladvokaten kam er gleich zur Sache. »Hören Sie, ich habe eine Bitte. Der Haushalt des Senators hier in Potomac muss aufgelöst werden. Ich möchte, dass Sie das übernehmen, auch den Verkauf des Hauses und die Verwaltung des Nachlasses.«

»Selbstverständlich werden wir uns um alles kümmern. Wie kann ich Sie erreichen?« Um alles kümmern hieß eher: kräftig abkassieren, aber allein der Verkauf des Hauses würde die horrenden Spesen locker decken. Er gab ihr seine Handynummer und fügte hinzu: »Ich bin in nächster Zeit sehr viel unterwegs, darum möchte ich, dass Sie die Sache möglichst selbständig erledigen. Kann ich mich darauf verlassen?«

»Keine Sorge, wir werden Sie nur in dringenden Fällen kontaktieren. Sie können beruhigt sein, wir betreuen das Dossier seit vielen Jahren.« Hatte er einen spöttischen Unterton in ihrer Stimme gehört? Wie auch immer, als das Gespräch beendet war, fühlte er sich ausgesprochen erleichtert. Zentnerschwer hatte die plötzliche Verantwortung auf ihm gelastet. Jetzt hatte er eine große Sorge weniger, aber es blieb noch genug zu tun. Das Begräbnis, der Staatsakt in Phoenix, ihm graute vor den nächsten zwei Wochen.

Bevor er das Haus verließ, informierte er Maria. Ihr Schicksal berührte ihn, ob er wollte oder nicht. Er würde sie bald nicht mehr weiter beschäftigen können, aber er nahm sich vor, im Büro des Senators ein gutes Wort für sie einzulegen. Sie würde nicht lange arbeitslos bleiben. Als er ihr das sagte, fiel sie ihm um den Hals, und er drückte die Geliebte seines Vaters doch noch an sein Herz. Schon auf dem Kiesweg vor dem Portal, drehte er sich nochmals um.

»Ach, beinahe hätte ich es vergessen. Auf dem Schreibtisch liegen drei Bücher, die Sie an die Library of Congress zurücksenden sollten.«

Phoenix

Die offizielle Trauerfeier auf dem National Memorial Cemetery im Norden von Phoenix zog sich wie erwartet in die Länge. Lee drückte die Hand seiner Verlobten, als ihr Vater vor die Trauergemeinde trat, um letzte Worte an seinen guten Freund und treuen Weggefährten Finn O’Sullivan zu richten. Im Gegensatz zu seinem Vater hatte Neill Douglas, der Senator aus Chicago, seine helle Freude daran, als bekannt wurde, dass sich seine Tochter Anna Hals über Kopf ausgerechnet in den blitzgescheiten Lee O’Sullivan verliebt hatte. Seit rund einem Jahr lebten sie ihre Liebe als Verlobte sozusagen öffentlich, doch mit heiraten schien weder sie noch er es sonderlich eilig zu haben, zu beschäftigt waren beide. Seit Anna bei der Tribune angeheuert hatte, war wenigstens nicht immer er derjenige, der Rendezvous absagen musste. In dieser Hinsicht musste keiner dem anderen etwas vorwerfen.

»Droben in Washington«, fuhr Neill fort, als gehörte er auch zu denen unten im Süden, »gibt es viele Leute, die behaupteten, Finn wäre ein sturer Bock.« Beifälliges Raunen ging durch die Reihen. »Und lassen Sie es mich mal so ausdrücken: genau solche Böcke braucht es auf dem Capitol Hill.« Solche Sprüche gefielen den Gästen, die mehrheitlich aus dem Süden stammten und nicht viel am Hut hatten mit dem undurchsichtigen Treiben in Washington. Theatralisch wandte er sich um und schloss seine Rede mit einem letzten Gruß zum Sarg: »Finn, alter Haudegen, wir vermissen dich.«

 

Die endlose Reihe der Honorablen des Staates Arizona zog an Lee vorbei, um dem hinterbliebenen Sohn die Hand zu schütteln. Dann endlich war die Feier zu Ende und eine sorgfältig ausgewählte Gesellschaft aus nächsten Verwandten und Bekannten geleitete den Verstorbenen zu seiner letzten Ruhestätte.

»Nun, Lee, wann werden Sie in die Fußstapfen Ihres Vaters treten?«, fragte ein untersetzter, braungebrannter Mann neben ihm. Eine massive Sonnenbrille verbarg seine Augen, und die schwarz glänzende Frisur aus dem Windkanal zeigte straff nach hinten. Diego Martinez, der Ehemann von Lucy Martinez, der Gouverneurin von Arizona, und noch so ein Winkeladvokat.

»Diese Fußstapfen sind mir entschieden zu groß«, antwortete Lee trocken. »Wenn immer möglich meide ich ausgetretene Trampelpfade und versuche neue Wege zu beschreiten.« Darauf fiel dem Anwalt keine intelligente Antwort ein. Er schwieg, und Lee bemerkte, wie ein schadenfrohes Lächeln über die Lippen der Gouverneurin zu seiner Rechten huschte.

»Erzählen Sie mir etwas von den neuen Wegen, die Sie beschreiten«, wollte sie wissen, als sie später beim Dinner im Ritz-Carlton neben ihm saß. Zögerlich begann er, von seiner Firma und den Projekten zu sprechen, doch als er bemerkte, dass sie sich ehrlich für seine Arbeit interessierte, holte er weiter aus, froh, endlich ein vernünftiges Thema gefunden zu haben.

»Sie lassen sich auf ein gefährliches Spiel ein, Gouverneurin«, warnte Anna. »Wenn er über die Arbeit spricht, vergisst er die Zeit.«

»Oh, kein Problem«, lachte Lucy. »Es ist sicher gut investierte Zeit. Von einem Spitzenwissenschaftler über die neusten Entwicklungen im Kampf gegen den Wassermangel aufgeklärt zu werden, erspart mir mühsames Literaturstudium.«

»Nicht zu vergessen, dass gute Literatur zum Thema Mangelware ist«, warf Lee ein, und er verstand die Bemerkung keineswegs als Scherz. Es gab genug Scharlatane, die Bücher über die Folgen des Klimawandels publizierten, ohne sich im Geringsten um die physikalischen Zusammenhänge zu kümmern. Leute, die einfach mit einem populären Stichwort ihr Schäfchen ins Trockene bringen wollten, oder, schlimmer, von gewissenlosen Lobbyisten gesteuert wurden. »Im Grunde genommen kennt niemand die wahre Ursache der zunehmenden Trockenheit, die man in den letzten Jahren auch hier in den Staaten beobachtet. Jeder, der etwas anderes behauptet, weiß entweder nicht, wovon er spricht, oder er will die Leute gezielt manipulieren. Damit will ich nicht sagen, dass die Ursachenforschung versagt hat oder unnötig ist. Die Wissenschaft ist einfach noch nicht so weit. Die Klimamodelle sind immer noch viel zu grob. Wir kennen lange nicht alle Parameter und Zusammenhänge, um zu begreifen, was in den verschiedenen Schichten der Atmosphäre vor sich geht, ganz zu schweigen von den Vorgängen in den Weltmeeren und ihrem Einfluss auf das Klima. Tausende renommierter Wissenschaftler im Weltklimarat sammeln seit Jahrzehnten Erkenntnisse aus der Klimaforschung, und sie verstehen die Schwächen und Grenzen ihrer Modelle.« Mit einem Seitenblick auf den skeptisch grinsenden Anwalt gegenüber fügte er schnell hinzu: »Und durch die enormen Fortschritte der Computertechnik sind wir heute weit besser in der Lage als noch vor wenigen Jahren, die Ungenauigkeiten abzuschätzen. Man sollte daher nicht den Fehler gewisser Politiker und Lobbyisten begehen, die gesicherten Erkenntnisse einfach zu ignorieren oder zu leugnen, nur weil wir noch nicht alles begriffen haben. Wir wissen viel, aber immer noch viel zu wenig, leider.«

»Die beste Motivation für euch Forscher, nicht wahr?«, lächelte Lucy.

»So ist es. Wie fast immer in der Wissenschaft muss man sich in kleinen Schritten dem Ziel nähern, Voraussetzungen und Konsequenzen von Modellen und Beobachtungen ausloten und eben auch unkonventionelle Wege beschreiten.« Anna hatte sich inzwischen an einen anderen Tisch zurückgezogen und Lee bemerkte, dass er zu dozieren begann, wie sie angedeutet hatte. Leicht errötend entschuldigte er sich: »Tut mir leid, ich rede zuviel.«

»Ganz und gar nicht.« Die Gouverneurin schien eine gute Zuhörerin zu sein. »Wenn ich Sie richtig verstehe, wird es noch lange Zeit dauern, bis konkrete Gegenmaßnahmen in Sicht sind?«

»Gegen die zunehmende Trockenheit, meinen Sie?« Sie nickte. »Ja und nein«, fuhr er fort. »Wir sehen zwar noch nicht, wie die Ursachen zu bekämpfen sind, im Gegensatz zum Kampf gegen die Erwärmung, wo man das CO2 als wichtigen Bösewicht entlarvt hat. Wobei man, nebenbei bemerkt, andere Treibhausgase wie Methan üblicherweise vergisst. Nein, die Ursache der Trockenheit bleibt ein Rätsel, aber wir können und müssen natürlich die Folgen bekämpfen.«

»Und da kommt Ihre Firma ins Spiel, wie ich vermute«, lächelte sie.

»Ja, eines unserer aktuellen Projekte geht gerade jetzt in die entscheidende Phase. Wir haben ein völlig neuartiges Verfahren zur Entsalzung von Meerwasser entwickelt, das nur einen Bruchteil der Energie konventioneller Anlagen benötigt. Schade, dass Ihr Staat keine Küste hat, sonst könnten wir unsere Technologie hier einsetzen und müssten den Pilotversuch nicht in Indien durchführen.«

»Indien?« Er nickte.

»Mit einem großen Projekt im Bundesstaat Kerala wollen wir die Machbarkeit beweisen.«

»Faszinierend. Ich kann mir vorstellen, welcher Segen eine solche Technologie für viele Küstenregionen wäre.« Die Frau war in Ordnung, aber warum hatte sie nur diesen windschlüpfrigen Advokaten geheiratet? Mehr von ihrer Sorte könnte seine Meinung über die Politiker in diesem Land durchaus positiv beeinflussen. Durch die angeregte Unterhaltung hatte er das Steak auf seinem Teller ganz vergessen. Als er zum Messer griff, entschuldigte sich Lucy unvermittelt: »Nun ist Ihr Steak kalt. Tut mir leid, dass ich Sie vom Essen abgehalten habe.« Mit einem Blick auf ihren Teller schmunzelte er:

»Gleichfalls. Lassen Sie sich’s schmecken.« Er aß ein paar Bissen und legte dann Messer und Gabel weg. Am Essen war nichts auszusetzen, aber auf solchen Gesellschaften fühlte er sich nie richtig wohl, und das dämpfte seinen Appetit. Überdies hätte er sich gerne mit Anna unterhalten, aber sie war in den Schoss ihrer Familie geflüchtet. Sie saß am Tisch des Senators aus Illinois, zwischen Neill und ihrer Mutter Myra. Eine Bilderbuchfamilie, dachte er spöttisch und gleichzeitig ein wenig wehmütig. In seiner Familie hatte es eine solche Idylle nie gegeben. Irgendwie lebte jeder sein eigenes Leben in seiner eigenen Welt. Manchmal hatte er das Gefühl, die Eltern und er hätten sich nur zufällig getroffen und eine Weile im gleichen Haus gewohnt. Es war Zeit, sich zu seiner neuen Familie zu gesellen. Er entschuldigte sich bei der Gouverneurin und wollte sich erheben, als sie ihn zurückhielt. Sie zeigte auf einen kultivierten Herrn mit feinen Zügen und angegrauten Schläfen, der neben ihr stand und sagte:

»Nur einen Augenblick noch, Mr. O’Sullivan. Ich möchte Sie kurz Mr. Leblanc hier vorstellen. Er ist CEO von Mamot SA.« Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Jedes Kind kannte den Nahrungsmittelkonzern Mamot, einen der größten der Welt. Das war er also, Maurice Leblanc, Franzose oder Schweizer, einer der mächtigsten Wirtschaftsbosse. Sein Konzern kontrollierte unter anderem fast jedes Wasserloch, füllte das kostbare Trinkwasser in Flaschen ab und vertrieb es rund um die Welt. Allein mit dem Wassergeschäft erzielte Mamot Milliardenumsätze. Lee kannte sich aus auf diesem Gebiet, denn in gewisser Weise war seine Firma mit den Entsalzungsanlagen eine, wenn auch unbedeutende, Konkurrentin. Ich werde dir das Wasser abgraben, dachte er böse, wechselte ein paar nette Worte mit Leblanc und schlenderte zum Tisch des Senators.

»… disruptive, was soll das? Eine Abbruchfirma? DT, ich bitte dich! Klingt eher nach Insektenvertilger als nach Hightech«, hörte er Neill zu seiner Tochter lästern, als er sich näherte.

»Abbruchfirma ist eine gute Bezeichnung, Neill«, lächelte er, zog einen verwaisten Stuhl heran und setzte sich neben Anna an den illustren Tisch. »Wir räumen nämlich auf mit veralteten Technologien und ersetzen sie durch Sinnvolleres.«

»Er hat es nicht so gemeint, Lee«, versuchte seine zukünftige Schwiegermutter zu schlichten.

»Schon O. K., Myra, ich bin es gewohnt, dass man meine Arbeit nicht versteht«, und zu Neill gewandt fuhr er fort: »vielleicht solltest du unser Projekt in Kerala besuchen, das wäre gutes Anschauungsmaterial.«

Der Senator rümpfte die Nase. »Indien?«, sagte er schaudernd. »Ich glaube, ich verstehe ganz gut, was ihr treibt, aber das sind doch alles ganz kleine Fische. Das große Geld liegt hier, zum Beispiel dort drüben am Tisch der ›Big Coal‹. Der Glatzkopf, der sich gerade den Mund fusselig redet ist Ken Holden, Chef von Clearwater Power. Der könnte kostensparende, neue Technologie gebrauchen. Ihr könntet etwas für die Umwelt tun und erst noch unanständig reich werden dabei.« Es war nicht das erste Mal, dass er solche Vorschläge hörte. Auch sein Vater hatte nicht mit ähnlichen Kommentaren gespart, aber auf diesem Ohr war er taub. Die Kohlekraftwerke hatten keinen Platz in seiner Welt. Diese Dreckschleudern musste man ohne wenn und aber einfach schließen. Mit oder ohne Hightech: es existierte keine saubere Kohle. Er hatte keine Lust, die Diskussion zu vertiefen, gab Anna einen Wink, und sie zogen sich auf die Terrasse zurück, um sich eine Weile ungestört zu unterhalten.

»Auch wenn du es nicht glauben wirst, Lee, aber du bist genau der gleiche Dickschädel wie dein Vater«, sagte Anna halb lachend, halb tadelnd.

»Also habe ich doch noch eine positive Eigenschaft geerbt.«

Sie schaute ihn eine Weile nachdenklich an, dann murmelte sie: »Es ist schon traurig, weißt du.«

»Was meinst du?«

»Es braucht einen tragischen Todesfall, damit wir uns wieder einmal länger als zwei Stunden sehen.« Er nickte schweigend. Sie sprach nur aus, was ihn schon den ganzen Tag beschäftigte. »Und bald wirst du längere Zeit ganz weg sein.«

»Einen Monat«, sagte er leise, wie zu sich selbst. Er hoffte, sie würde die gefürchtete Frage nicht stellen, vergeblich.

»Wie soll es nur mit uns weitergehen?« Er nahm sie in die Arme und küsste sie zärtlich auf die Stirn. Antwort wusste er keine.

Library of Congress, Washington DC

»A faier sol im trefn!«, schimpfte Jerry außer sich und knallte das Buch auf den Tisch. Jeremy Glickman musste sich schon sehr echauffieren, bis er das einem Buch antat, aber erstens war dieser hanebüchene Bericht über den Selbsterfahrungstrip des Hinterbänklers Lindsay in den Appalachen kein richtiges Buch und zweitens war das neue Katalogsystem soeben zum dritten Mal ausgestiegen an diesem Freitag.

»Immer mit der Ruhe, Jerry, die Ferien stehen vor der Tür«, rief ein junger Kollege, der schnelle Paul, hinter seinem Pendenzenberg.

»Eben, das ist es ja. Heute muss unbedingt zeitig Feierabend sein, ich kann Sarah nicht enttäuschen. Mit dem neuen System kommt man nicht vom Fleck. A schand ist das. Rückgaben dauern viermal so lange wie früher. Habe ich recht oder habe ich recht?« Bald würde er ein trauriges Jubiläum feiern können: das zehnte neue Katalogsystem. Diese Katastrophe war schon das neunte in seiner langen Karriere an der ehrwürdigen Library of Congress. Wie zu jedem Ferienbeginn hatte er seine Tochter zu einem festlichen Schmaus in seine Dachwohnung eingeladen. Wie jedes Mal würde Sarah ihre kleine Buchhandlung in Adams-Morgan ausgerechnet am Freitagabend, wenn die meisten Kunden kamen, frühzeitig schließen, um ihrem alten Vater Gesellschaft zu leisten. Nein, heute durfte er sich unmöglich verspäten, schon gar nicht wegen eines mangelhaften Computerprogramms.

»Kaffee?«, fragte Paul, der schon an der Tür wartete.

»A Schnaps könnte ich jetzt vertragen.« Mit einem bekümmerten Blick auf den Stapel Bücher, der noch bearbeitet werden musste, erhob er sich und schlurfte hinter Paul her zu den Aufzügen. Wenigstens war er bisher von den meisten Reorganisationen verschont geblieben, hatte nicht andauernd umziehen müssen, sondern thronte nun schon fünfzehn Jahre in seinem Penthouse-Büro im fünften Stock des John Adams Building.

Schweigend fuhren sie zur Cafeteria hinunter. Nicht weniger als ein halbes Dutzend weitere Angestellte der Bibliothek machten mehr oder weniger gelangweilt Zwangspause an den Tischen. Jerry sah auf die Uhr und brummte:

»Um fünf bin ich draußen, das schwöre ich.«

»Guter Vorsatz«, lachte Paul. »Die Bücher warten schon, bis du wieder zurück bist. Zwei Wochen, mein lieber Schwan, was machst du nur so lange ohne uns?« Ein fast schon verklärtes Lächeln umspielte seinen Mund, als er an die bevorstehende Reise dachte.

 

»Ich werde mich bestimmt nicht langweilen«, antwortete er.

»Wohin geht’s denn?«

»In den Süden, Santa Fe und Kalifornien.«

»Route 66?« Paul war ehrlich überrascht.

»Nicht so, wie du denkst. Mit dem Zug.«

»Gute Nacht!«

»Ganz recht, mein Junge. Nach St. Louis und dann im feudalen Schlafwagen des Southwest Chief nach Westen. In Lamy unterbreche ich die Fahrt und sehe mir die Kunst in Santa Fe an.«

»Cool. Ein Glück, dass das Klima wieder besser geworden ist da unten.«

»Klima? Was meinst du damit?«

»Liest du keine Zeitungen?«, wunderte sich Paul, dann schlug er sich an die Stirn. »Ach so, dumm von mir, ich vergesse es immer wieder. Ihr Humanisten lest ja nur das Feuilleton.«

»Was ist mit dem Klima?«, fragte Jerry ungerührt, während er wieder auf die Uhr schaute.

»Die Durchschnittstemperatur ist in den letzten Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Sogar in Arizona gibt es neuerdings längere Perioden unter hundert im Sommer.«

»Hört sich gut an«, sagte er abwesend und stand auf. Er musste zurück an die Arbeit. Wenn die Techniker nicht geschlafen hatten, sollte das System inzwischen wieder hochgefahren sein.

Ohne aufzublicken widmete er sich den letzten Büchern des Stapels, freute sich über jede Eingabe bei der keine Fehlermeldung auf dem Bildschirm erschien. Noch zehn Minuten und noch ein Buch. Das war zu schaffen. Er klappte den Deckel des Wälzers auf und stutzte. Die Abhandlung über den Klimawandel war fünf Jahre überfällig. Ein Spezialfall, auch das noch. »A schand ist es, a schand«, grantelte er verärgert, doch als er die Adresse des Kunden sah, hellte sich seine Miene auf. Ein Senator, der durfte sich so etwas natürlich ohne Konsequenzen erlauben. Rasch tippte er die notwendigen Angaben in die Tastatur und meldete sich beim widerspenstigen System ab. Zum letzten Mal für zwei Wochen. Er atmete auf. Bevor er das Buch zur Ablage weitergab, hob er es auf und ließ die Seiten mit geübtem Griff über seinen Daumen gleiten, um sicher zu gehen, dass nichts im Buch steckte, was nicht hinein gehörte. Laien machten sich keine Vorstellung davon, was die Leute alles zwischen Buchseiten steckten. Fotos, Geld, Briefe, er hatte schon einen Präservativ gefunden, original verpackt, glücklicherweise. Eine Minute vor fünf, und prompt fiel ein dünnes Bündel zusammengefaltete Papiere auf seinen Schreibtisch. Der liebe Gott wollte ihn ärgern, den ganzen Tag schon. Vielleicht wusste Rabbi Katzenstein, was den Allmächtigen an solchen Tagen umtrieb, aber er musste jetzt zu dieser Tür hinaus, vergessene Briefe hin oder her. Kurz entschlossen stopfte er die Papiere in einen Umschlag, beschriftete ihn mit der Adresse des Senators und steckte ihn ein. Er konnte die paar Seiten ebenso gut von zu Hause aus an den vergesslichen Kunden zurücksenden.

Bevor er zur Metrostation hinunterstieg, sog er seine Lungen einige Male voll mit der frischen Luft. Er liebte die Arbeit mit den Büchern, aber jetzt war er froh, für zwei Wochen alles vergessen zu können. Wer weiß, vielleicht erwartete ihn ohnehin ein neues Computersystem, wenn er um viele Erfahrungen reicher ins Penthouse zurückkehrte.

Kochi, Indien

Lee hätte sich am liebsten hingelegt, wo er gerade stand. Er wäre wohl auf der Stelle eingeschlafen. Die mühsame, zeitraubende Suche nach dem zuständigen Beamten des Regional Transport Office in Kochi, die Hitze, die unerträglich dicke Luft im Stau und zu viele Pappadoms mit scharfem Chutney zehrten arg an seinen Kräften. Aber noch lag ein halber Arbeitstag vor ihm, und das hieß in dieser Phase des Projekts: weitere acht Stunden.

Er hatte die Mannschaft im Maschinenraum versammelt, um den Arbeitsfortschritt zu besprechen. Die Halle mit den mächtigen Tanks, Pumpen und dem Gewirr silbern schimmernder Röhren, die nur darauf warteten, Salzwasser aus dem Meer zu saugen und sauberes Trinkwasser auszuspeien, bildete die richtige Ambiance für die täglichen Meetings. Trotz der auf den ersten Blick verwirrenden Vielzahl von Apparaturen staunte er jedes Mal, wenn er hier stand, wie einfach ihre Anlage doch im Grunde funktionierte. Konventionelle, ältere Entsalzungsanlagen arbeiteten nach dem Destillationsprinzip, indem man das Salzwasser erhitzte und den kondensierten Wasserdampf als Süßwasser auffing. Meist geschah das unter stark reduziertem Druck, um den Siedepunkt des Wassers herunterzuschrauben. Viele neuere Anlagen benutzten ein anderes Verfahren: Umkehrosmose oder Reverse Osmose, RO. Der natürliche Vorgang der Osmose, bei dem Wasser durch eine halbdurchlässige Membran von Regionen niedriger Salzkonzentration in Regionen höherer Konzentration fließt. Setzte man aber die Region mit höherer Salzkonzentration, also das Meerwasser, genügend hohem Druck aus, wanderte das Wasser in die andre Richtung, und auf der anderen Seite der Membran sammelte sich das Trinkwasser. Beide Verfahren waren aufwändig und verbrauchten Unmengen an Energie. Die neue Technologie seiner Firma war dagegen geradezu primitiv, trotz der abschreckenden Bezeichnung: Kapazitive Ionenpumpe. Sie leiteten das Meerwasser einfach zwischen elektrisch aufgeladenen Platten hindurch. Die gelösten Salzteilchen, elektrisch geladene Ionen, wanderten dabei zur Platte mit der entgegengesetzten Ladung, und am Ende des Wegs kam nur noch Süßwasser aus der Anlage. Zu- und Abflussröhren, Verteiler und ein paar mechanische Filter war alles, was ihre Fabrik außer den Platten und der Elektrotechnik brauchte. Revolutionär an ihrer Technologie war die Beschichtung dieser Platten: Nanostrukturen, die wie feinste Schwämme eine millionenfach größere Oberfläche für den Ionentausch boten als konventionelle Elektroden. Dadurch verschlang ihr Apparat nur einen Bruchteil der Energie anderer Anlagen für die Entsalzung des Meerwassers. Lee war überzeugt, dass sich ihre Technologie über kurz oder lang durchsetzen würde.

»Sayed, ich muss gestehen, ich hätte dich heute Morgen gebraucht«, sagte er, als er seinen kurzen Lagebericht beendete.

Sayed Chandra, der Maschineningenieur aus Kochi, den er an der Universität in Chicago kennen gelernt hatte, grinste schadenfroh.

»Du wolltest dich ja unbedingt allein durchschlagen, aber ich habe dich gewarnt. Unsere Beamten haben die seltsame Gabe, plötzlich taub zu werden oder die englische Sprache nicht mehr zu verstehen, insbesondere bei Ausländern.«

»Danke, ich hab’s begriffen. Das nächste Mal wirst du wieder dabei sein.« Sayeds Team motivierter, junger Techniker schien Lees Missgeschick königlich zu amüsieren. Er konnte es ihnen nicht verübeln, denn wenn er etwas gelernt hatte in den wenigen Tagen seit er hier im Südwesten des indischen Subkontinents angekommen war, dann die Tatsache, dass er als Fremder absolut nichts verstanden hatte von der Art, wie man hier Geschäfte abwickelte. »Wie sind eure Durchlauftests verlaufen?«, fragte er, um das Thema zu wechseln. Sayed setzte eine betrübte Miene auf, als er antwortete:

»Statik und Druck sind mit größter Wahrscheinlichkeit O. K., aber ich kann das nicht mit letzter Sicherheit behaupten. Wir tun unser Bestes, die Produktion mit den Ersatzpumpen zu simulieren, aber sie sind viel zu schwach, um die Anlage wirklich in Betrieb zu nehmen, das weißt du ja.«

»Ich habe gute Nachrichten, Leute. Der Frachter mit dem restlichen Material läuft heute ein.« Die Hafenverwaltung hatte ihn informiert. Höchste Zeit, dass die Ware geliefert wurde, denn die Entsalzungsanlage an der Küste von Veli im Süden der Stadt war nichts als ein Schrottplatz ohne die richtigen Spezialpumpen. Die Männer, und es arbeiteten tatsächlich nur Männer im Projekt, applaudierten erleichtert. Jeder wartete ungeduldig auf das erste Wasser.