Die unschuldige Königin

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Die unschuldige Königin
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Hans-Peter Vogt

Die unschuldige Königin

(Queen of the Shadows)

Reihe: Die Wächter des Lebens / Band 4

Sozialkritischer Thriller, Fantasy, Familiensaga

Titel, Impressum

Hans-Peter Vogt

Die unschuldige Königin

(Queen of the Shadows)

Reihe: Die Wächter des Lebens / Band 4

e-Book, November 2018 / Deutsche Ausgabe

© vogt multimedia verlag, Reinheim. Ungekürzte, korrigierte, und leicht ergänzte Ausgabe / alle Rechte vorbehalten / ISBN 978-3-942652-68-1 / Empfohlen ab 16 Jahren / Vertrieb: Libreka

Umschlagentwurf: © vogt multimedia design © vogt multimedia verlag

Verlag: © vogt multimedia verlag, Dr. Hans-Peter Vogt, Erlenweg 18, 64354 Reinheim

Leser können im Internetshop bestellen: http://www.fahrrad-dvd.de

Buchhandelsbestellungen unter: http://www.vogt-multimedia-verlag.de

Inhaltsangabe

Titel / Impressum

Index

Einleitung

Kapitel 1. Elvira. Berlin und anderswo im Jahr 2053

Kapitel 2. Berlin in den Jahren 2054 und 2055

Kapitel 3. Die Unschuld der Jugend

Kapitel 4. Neue Aufgaben für Elvira und Irina

Kapitel 5. Die Stiftung

Kapitel 6. Neue Kräfte. Der Mantel der Unverwundbarkeit

Kapitel 7. Harte Jungs

Kapitel 8. Hindernisse und Aufbruch. Neue Projekte und Perspektiven. Ohne die Familie geht gar nichts. Alles greift irgendwie ineinander.

Kapitel 9. Irina, Dimmy und Elvira. Die Geschwister suchen ihren eigenen Weg

Kapitel 10. Die Friedensrichterin

Kapitel 11. Generationenwechsel

Nachwort 1 Ausblick

Nachwort 2 Neues Leben

Anhang:

- Die handelnden Personen im Buch und weitere Informationen

- Der Autor

Einleitung

Die Heldin des Buches ist diesmal Elvira, die Enkeltochter von Leon, die in Berlin aufwächst und die schon bald enorme Fähigkeiten entwickelt. Sie ist im Jahr 2041 geboren.

In diesem Band treffen wir einige Freunde aus der Berliner Szene wieder, die wir schon früher kennen gelernt haben. Sie sind jetzt erwachsen. Sie arbeiten irgendwo in der Organisation dea „Clans“ (oder auch der “Familie”) und sie haben inzwischen selbst Kinder, so wie Cindy, Aysa oder die Modezarin Elfi.

Die Jugendliche Elvira wächst bei ihrer Großmutter im „Musikzentrum“ auf, also in diesem riesigen Jugendzentrum, das vielen Kindern und Jugendlichen in Berlin zur eigentlichen Heimat geworden ist.

Elvira hat zwar die Grundlagen der übersinnlichen Kräfte ihres Vaters geerbt, entscheidend ist jedoch, dass ihre Tante Lara und noch einige andere Mitglieder der Familie schon früh damit beginnen, Elvira auszubilden.

Bald schon beginnt Elvira ihren ganz eigenen Weg, der sie schließlich an die Spitze des „Zentrums für Musik“ führt. Dank ihrer Kräfte wird sie in bestimmten Kreisen bald als „Königin von Berlin“ bezeichnet. Sie befreundet sich mit Irina, einer anderen Enkeltochter von Großvater Leon, und sie bestehen gemeinsam einige Abenteuer. Anders als ihre Cousine Irina steht Elvira allerdings in engem Kontakt zu dem, was man das „Leben in der Schattenwelt“ nennt. Sie ist davon geprägt und sie setzt sich mit diesem Thema der sozialen Ungleichheiten ganz bewusst auseinander.

Das Buch ist der 4. Band der Reihe "Die Wächter des Lebens". Er spielt hier bei uns auf der Erde, aber es gibt da eine Spezies, die aus dem Weltraum zu uns gekommen ist, und die Gleichgesinnte um sich schart, um ihre Auffassung einer ausgeglichenen Weltordnung durchzusetzen. Dieses Volk der Cantara unterwandert systematisch die Menschheit und schafft eine neue Spezies aus Mutanten, den Clan der Auserwählten. Das Mädchen Elvira ist eine jener Mutanten, die mit extrem hoher Intelligenz und übermächtigen Fähigkeiten ausgestattet wird. Nicht mit einem Schlag, sondern Stück für Stück, um in das Geschehen eingreifen zu können. Dabei kommt die "menschliche Seite" nicht zu kurz. Es geht um Freundschaften, um Familie, um Jugendkultur, um Bedrohungen, und um Liebe.

Kapitel 1. Elvira.

Berlin und anderswo im Jahr 2053

1.1.

Elvira wacht auf, als jemand zu ihr unter die Bettdecke kriecht. Sie schreckt hoch, aber es ist nur Asha. „Bitte nicht böse sein“, flüstert Asha. „Kannst du mich in den Arm nehmen?“

Das muss wohl sein. Elvira schiebt den Arm unter Ashas Hals und schlägt mit der anderen Hand die Decke über sie. Asha seufzt und kuschelt sich eng an Elvira.

Asha.

Asha ist erst acht. Sie war aus Westafrika gekommen. Irgendwelche Stammeskriege und die Verwüstungen, die der Klimawechsel in ihrem Land hervorgerufen hatten, die hatten ihre Eltern erst nach Portugal, dann nach Frankreich und dann nach Deutschland getrieben. Sie waren illegal eingereist, und irgendwie immer auf der Flucht vor den Behörden. Ohne Pass, ohne Aufenthaltsgenehmigung und ohne Arbeitserlaubnis hatten sie eine Weile durch irgendwelche schlechtbezahlten Jobs gelebt. Erst im Ruhrgebiet, dann in Berlin, wo sie sich erhofft hatten, Landsleute zu finden. Dann waren die Eltern aufgegriffen worden. Sie waren kurzerhand zurückverfrachtet worden. Drei von Ashas Geschwistern wurden mitgeschickt. Nur Asha konnte der Ausländerpolizei entkommen.

Sie kannte damals einen der Kids aus dem Untergrund. Ein Junge mit dem Namen Bengasi. Er war damals elf, und irgendwie hatten sie einmal die Bekanntschaft gemacht, als Bengasi beim Klauen beobachtet worden war. Er musste schnellstens verschwinden, und er schob Asha, die nur zufällig vor dem Kaufhaus stand, ein kleines Päckchen in die Hand. „Schnell, hau ab“, sagte er auf portugiesisch. Das konnte Asha verstehen, in ihrer Heimat wurde das auch gesprochen. Sie verdrückte sich. Zwei Wochen später trafen sie sich wieder und Bengasi fragte. „Hast du mein kleines Päckchen noch?“

Asha hatte Angst gehabt. Sie hatte Zuhause nichts verraten, und auch das Päckchen nicht geöffnet, obwohl sie höllisch neugierig war. Sie hatte es unter der Matratze versteckt, und als Bengasi sie erneut traf, hatte sie es geholt und sie hatte ihm das Päckchen übergeben. Das war der Anfang einer Freundschaft, obwohl Bengasi so viel älter war. Er hatte sie manchmal mitgenommen. Er hatte ihr Pizza, Kuchen und heiße Schokolade spendiert. Bengasi hatte für Ashas Verhältnisse viel Geld und er war sehr großzügig. Er hatte sich nur eins ausbedungen. Asha müsste schön den Mund halten. Das hatte Asha gelernt. In ihrer Heimat war es nicht gut, den Mund zu weit aufzumachen, und für Mädchen ging das schon gar nicht.

Vier Monate später waren Asha und Bengasi gerade auf dem Nachhauseweg, als Bengasi die kleine Asha plötzlich, unerwartet und grob an der Schulter packte. „Halt, warte“. Dort vor der feuchten Kellerwohnung, in der Asha lebte, standen ein Peterwagen und ein Bus. Ihre Eltern wurden gerade in den Bus gestoßen.

Bengasi hielt Asha mit einem Arm fest, mit der andern Hand hielt er ihr den Mund zu. „Still. Da können wir jetzt nicht mehr helfen. Das sind die Ausis:“ So nannten die Kids die Beamten der Ausländerpolizei, die stets in Zivil erschienen. „Lass uns verschwinden.“ An diesem Tag hatte Bengasi Asha mit in den geheimen Bunker genommen, dort unter Berlin. Asha hatte viel geweint, aber sie hatte nach einer Weile gelernt, dass die Kids im Bunker wirklich gute Freunde waren. Sie waren alle durch ein ähnliches Schicksal miteinander verbunden. Irgendwie waren sie alle ausgebüchst. Mal weil der Vater prügelte, mal, weil die Mutter soff oder hurte. Einige waren aus dem Jugendheim ausgerissen und hatten irgendwie zu den Kids gefunden. Anderen war es genauso ergangen, wie Asha.

Es gab wirklich viele afrikanische, arabische, indische, und pakistanische Kinder hier unten im Bunker, in allen Farben. Auch aus Haiti und Cuba. Asha selbst war sehr dunkel, aber sie hatte helle Handflächen, rote Lippen, große braune Augen und sie trug ihr Haar in Rastalöckchen, in die kleine Bänder oder Schleifen gebunden waren.

Asha ist jetzt seit 2 Jahren bei den Kids im Untergrund. Sie hatte gelernt, sich hier unten im Netz der U-Bahntunnels einzuleben. „Der Bunker“, wie sie das nennen, war früher einmal ein Schutzraum der Stasi gewesen. So genau wissen die Kids das aber nicht. Es gibt hier eine fest verschlossene Tür, geheime Zeichen, Licht, Wärme und eine Toilette für alle. Sie haben hier richtige Betten und eine richtige Küche und sogar ein Krankenzimmer. Der Strom wird illegal gezapft, und, oh wunder, bisher war das nie aufgefallen.

Asha lebt jetzt, wie alle andern Kids hier unten, vom Diebstahl. Manchmal geht sie in die Berliner Suppenküchen zum essen. Mal ins Musikzentrum vor den Toren Ostberlins, manchmal in eine der Wohnungen, die irgendwelche Freunde oben in Berlin für die Kids eingerichtet haben. Dort können sie auch duschen und baden. Dort kommt auch immer mal ein Frisör hin und ein Arzt, der die Kinder regelmäßig untersucht. Irgendwelche Freunde schicken sie, die sich um das Wohl der Kinder sorgen.

 

Kleidung ist kein Problem. Dafür gibt es Rotkreuzcontainer. Ordentliche Sachen werden meißt geklaut. Die Kids haben da ein einzigartiges System entwickelt. Sie schirmen sich gegenseitig ab und geben sich geheime Zeichen, wenn die Luft rein ist.

Asha hat in den zwei Jahren gelernt, sich in verschiedenen Sprachen zu unterhalten und sie hat auch so ein Kauderwelsch, mit dem sie sich in deutsch sehr gut verständigen kann. Das ist in ihrer multikulturellen Gruppe die Verkehrssprache, die alle irgendwie wenigstens etwas beherrschen.

Es gibt hier unten sogar eine Art Schule. Regelmäßig und für alle. Schreiben, Lesen, Rechnen, Erdkunde, Wetterkunde, PC-Kunde. Alles, was sie im Leben brauchen können.

Asha ist aber immer noch ein kleines Mädchen und kleine Mädchen brauchen manchmal viel Wärme und Geborgenheit. Asha und die andern Mädchen unten im Bunker kriechen oft zusammen in ein Bett und halten sich warm.

Wenn Elvira da ist, kriecht Asha gerne zu ihr. Manchmal liegen sie sogar zu dritt oder zu viert in einem Bett. Elvira ist für Asha etwas Besonderes. Sie ist einer dieser Freunde aus der „Welt des Lichts“.

Elvira beteiligt sich nie an den Diebestouren der Kids, aber sie beobachtet, sie schirmt ab und sie gibt Tipps. Sie besorgt auch die Monatskarten für die U-Bahn, die für die Kids überlebenswichtig sind. Elvira hat irgendwo in Berlin ein richtiges Zuhause, aber sie lebt manchmal dort in diesem „Musikzentrum“ bei ihrer Großmutter. Ihr Großvater ist der große Leon, den hier unten alle nur „Großvater“, „Opa“, „Granni“ oder den „Grande“ nennen.

Nun. Leon ist für alle Kids hier unten der „Großvater“, aber für Elvira ist er wirklich der leibliche Großvater, und Elvira, die hat etwas von den sagenhaften Kräften, die auch Großvater Leon besitzt.

Elvira ist nicht immer da, aber sie ist eine der Verbindungen in die Außenwelt, die bei den Kids als „die Welt des Lichts“ gilt. Sie, ihre beiden großen „Schwestern“ Lara und Maria und ihr großer „Bruder“ Pablo. Eigentlich sind das für Elvira Tanten und Onkels, aber das genau zu unterscheiden ist den Kids egal.

Das Leben hier unten ist nicht leicht und es gibt strenge Regeln, die das Überleben sichern. Aber sie sind hier wie eine große Familie. Sie sorgen füreinander und sie haben gelernt, zu lachen und fröhlich zu sein. Dabei ist das Leben im Untergrund alles andere als ungefährlich. Da gibt es die Überwachungskameras auf den Bahnsteigen, die schnellen Züge mit ihrem gewaltigen Sog, der dich durch die Luft wirbelt, wenn er dich erfasst. Es gibt die Bahnpolizei und die Sicherheitsinspektoren. Auch beim Klauen müssen sie höllisch aufpassen, und wenn sie sich oben „in der Welt des Lichts“ bewegen, müssen sie die Augen gut aufmachen, damit sie nicht verfolgt werden.

Wer das alles zum ersten Mal erlebt, der kann vor Angst und Vorsicht die Lebenslust verlieren, aber die Kids haben sich diese Vorsicht zu eigen gemacht. Sie ist in Fleisch und Blut übergegangen,

Wie schnell kann man fahrlässig werden. Unachtsam, weil die Vorsichtsmaßnahmen so antrainiert sind, dass man manchmal gar nicht mehr so genau darauf achtet. Es gibt deshalb einen strengen Sicherheitscodex. Die Kids gehen fast nie alleine. Sie schirmen sich gegenseitig ab, und sie beschützen sich, wenn sie unterwegs sind.

Es gibt auch andere Gefahren. Konkurrierende Gangs, rabiate Kontrolleure, Fahnder in Zivil. Aber die Kids kennen sich im Untergrund aus. Sie kennen alle die U-Bahnschächte, Quergänge und Nischen. Schon oft hatten sie die Notbremse gezogen, und waren in den Gängen verschwunden, wenn es brenzlig wurde. Nur die Inspektoren getrauen sich, ihnen in die Gänge zu folgen, aber die Kids sind höllisch schnell. Das hier unten, das ist ihre Welt. Sie sind wie die Ratten, und so seltsam sich das anhört, die Ratten hatten die Kids schon oft beschützt. Sie hatten sich Kontrolleuren in den Weg gestellt, oder sie hatten Mitglieder anderer Gangs angegriffen.

Es gibt da so ein Gerücht, dass Großvater Leon der König der Ratten sei. Sie haben ihn schon oft danach gefragt. Opa Leon hat stets gelächelt. „Schaltet nie eure Vorsicht aus. Verlasst euch immer auf euch selbst. Es kann solche Situationen geben, dass ihr die Hilfe von Freunden braucht. Ihr müsst eins wissen. Die Ratten sind die wahren Herrscher der Unterwelt. Sie sehen alles. Sie riechen euch auf einen Kilometer. Wir haben seit langem einen Pakt miteinander. Achtet und beschützt die Ratten, dann werden sie auch euch achten und beschützen.“

„Und wie ist es mit den andern Gangs“, hatten die Kids gefragt und Leon hatte gelächelt. „Dieser Pakt gilt nur in unserer Familie. Die Ratten sind ein Teil davon. Vergesst das nie und sorgt für die Ratten, wie für eure eigenen Brüder und Schwestern.“

Asha und die Freunde haben sich das zu Herzen genommen, und manchmal bringen sie den Ratten Brot, Käse, Wurst, Obst und Gemüse. Die Container bei den Discountern quellen davon über, und den Ratten ist es egal, ob es schimmlige oder faulige Stellen gibt. Sie fressen alles. Es ist noch nie vorgekommen, dass die Ratten ihnen etwas getan haben. Ihnen nicht. Anderen schon.

Asha hat gelernt, vor den Ratten keine Angst zu haben. In den Gängen des Tunnels wird sie oft von den Ratten begleitet. Sie springen vor, oder neben ihr her und sie wispern. Wenn ein Zug kommt macht es Husch. Weg sind sie. Dann weiß auch Asha, dass es gefährlich wird, und sie sucht sich sofort eine dieser schützenden Nischen, die auch den Kontrolleuren einen sicheren Zufluchtsort bieten.

Jetzt liegt sie in den Armen ihrer großen Freundin Elvira und sie ist glücklich. Sie kuschelt sich an diesen warmen Körper, sie fühlt sich geborgen, und sie schläft sofort ein.

1.2.

Elvira ist jetzt wach und sie denkt, wie so oft, an ihre eigene Geschichte.

Sie ist hier unten ein Teil der Familie der U-Bahn-Kids, und sie hat noch zwei Leben, oben in der „Welt des Lichts“. Eines bei ihrer leiblichen Familie. Bei ihrer Mutter, bei ihren drei kleinen Geschwistern und bei ihrem Stiefvater. Das andere Leben ist bei Großmutter Katharina im Musikzentrum, bei Tante Lara, bei Maria und bei Pablo. Tante Lara hatte sie irgendwann auch zum ersten mal mit in den Untergrund genommen, in die U-Bahn, in die Schächte und in den „Bunker“. Elvira kann sich nicht mehr daran erinnern, wann das war, solange ist das schon her. Damals hatte sie zum ersten Mal die Kids im Untergrund kennengelernt, und seitdem ist sie immer wieder hier unten. Nicht regelmäßig, das läßt die Zeit nicht zu, aber so oft sie kann.

Mama ist Mexikanerin und Papa? Nun ja, er ist Peruaner, aber er hatte Mama damals einfach angebummst. Mama war nicht die einzige. Papa hatte es ziemlich wild getrieben. Unanständig wild. Elvira kennt nicht einmal alle ihre Geschwister. Sie hat mindestens 35 davon. Allein der Gedanke macht Elvira schwindlig. Großvater Leon war schließlich der Kragen geplatzt. Er musste fuchsteufelswild gewesen sein.

Jedenfalls hatte Opa Leon ein Machtwort gesprochen. Er hatte Mama einfach mitgenommen nach Deutschland. Oma Katharina (die eigentlich gar nicht Elviras richtige Großmutter ist), hatte Mama mit offenen Armen bei sich aufgenommen. Das war, bevor Elvira geboren wurde.

Elvira war in Berlin zur Welt gekommen. Ihre ersten Lebensjahre hatte sie bei Mama und Oma Katharina in dieser riesigen Wohnung im Musikzentrum verbracht. So war sie in das Geschehen einfach hineingewachsen, in all diese Musik-, Tanz-, und Filmgruppen, in die Welt der Cracks auf den Halfpipes, in all die Läden, Restaurants und die ständigen Besucherströme. Das ist wie eine eigene Stadt vor den Toren Berlins.

Tante Lara (die Tochter von Oma Katharina) war wie eine zweite Mutter für sie gewesen und Aysa, die Leiterin der ganzen türkischen Imbissstuben im Zentrum, die war für sie wie eine zweite Oma gewesen. Drei von Aysas fünf Kindern hatten längst eigene Kinder. Mit denen ist Elvira zusammen aufgewachsen. Es war nur natürlich gewesen, dass Elvira ihre Nachmittage irgendwo im Zentrum verbrachte. Sie brauchte nur aus der Wohnungstür zu treten und schon war sie im Mittelpunkt des Geschehens.

Als die Enkelin der Chefin des Musikzentrums (als die Elvira immer angesehen wird), ist sie in einer privilegierten Situation. Alle Türen stehen ihr offen, und weil dieses riesige Gebäude mit all den Aktivitäten, und den Tausenden von Besuchern, Elviras Leben bestimmt, ist es nur natürlich, dass sie sich hier bestens auskennt. Das „Zentrum“, wie es bei den Kids heißt, das bestimmt zu einem großen Teil Elviras Leben und Denken.

Oma Katharinas Wohnung ist ganz oben unter dem Dach. Ein Aufzug und eine Treppe führen hinauf. Beides ist gesichert. Es gibt einen Wachdienst, der niemanden dort hinauf lässt, der dort nichts zu suchen hat.

Man muss dieses Zentrum einmal beschreiben, um es zu verstehen. Ganz früher waren das einmal Kasernenbauten für die russischen Besatzungstruppen gewesen. Das Zentrum war damals umgeben von einem riesiges Gelände mitten in Wald. Später hatte die Staatspolizei dort ein Ausbildungsgelände und Verhörzimmer. Verfolgte des DDR-Regimes hatten hier leiden müssen. Das Gelände war berüchtigt gewesen.

Nachdem die Mauer gefallen war, hatte das Gelände lange brach gelegen, und es war dem Verfall preisgegeben. Offiziell gehörte es jetzt dem Land Berlin. Irgendwann hatte Opa Leon gemeint, es müsse für die Berliner Jugendlichen mehr getan werden, eine Art Jugendzentrum müsse her. Naja, für so was ist in den Länderhaushalten meist kein Geld da, und die Behörden waren zunächst gar nicht begeistert.

Opa Leon und Oma Katharina hatten dann die Idee, das mit einem Musikzentrum zu verbinden, Proberäume für Bands, Veranstaltungsräume, Musikmanagement, Säle für Tanzgruppen, ein oder zwei Tonstudios und vor allem noch etwas: eine richtige Akademie, teils in Art einer Volkshochschule, teils als richtige Ausbildung, mit Abschlüssen für instrumentale Ausbildung, Tontechnik, Videofilm, Bühnenbild und Tanz.

Damit hatten sie die Berliner Politiker schließlich geködert. Damit hofften sie, viele Kids von der Straße wegzubringen, und das Konzept war aufgegangen. Damals gab es schon die Stiftung zur Förderung unentdeckter Talente, die Oma Katharina heute immer noch leitet. Die Stiftung verfügte damals über viel Geld. Geld, das Opa Leon aus Südamerika mitgebracht hatte, wo er mit Oma Mila diese alte Stadt der Péruche-Krieger wiederfand, und noch einiges mehr. Die alte Stadt war verschüttet worden. Sie lag unter vielen Metern aus Vulkanasche und sie fanden dort Gold, Edelsteine, Schmuck, und vor allem tonnenweise Brillianten, die sie sich mit den anderen beiden „Miteigentümern“ teilten.

Die Stiftung verfügt wirklich über viel Geld und sie investiert unter anderem in diese Musikakademie.

Heute ist das eine Ansammlung von fast 20 zusammengewachsenen Gebäuden, die über Gänge, Hallen, Innenhöfe und verschiedene Etagen miteinander verbunden sind. Es ist noch viel größer geworden, als das einstige militärische Gelände. Immer noch gibt es dichten Wald rings um das Gelände, es gibt aber auch diverse Sportanlagen, Halfpipes, BMX Gelände, Waldlaufpfade, ein Squash Center, Tennis. Es gibt mehrere Busverbindungen, die im Fünfminutentakt zwischen Berlin und dem Zentrum verkehren und Parkplätze.

Die Stiftung, die inzwischen die alleinige Eigentümerin des Geländes ist, die hat inzwischen ein großes Verwaltungsgebäude gebaut. Es gibt so viele Aktivitäten. Konzerte, Tanzstudios, Betreuung für internationale Gruppen, Anwaltskanzleien, Eventmanagement, Tonstudios und natürlich die Akademie mit ihrem Schulbetrieb. Die ganzen Kellerräume sind als Übungsräume für mehr als 50 verschiedene Bands ausgebaut worden. All das muss irgendwie organisiert sein. Es gibt auch Sozialarbeiter und Wachleute. Es gibt diverse Läden für Sport, Instrumente, Kleidung. Es gibt Unmengen von Cafés, Obst- und Imbissläden, vier Bäckereien und drei Metzgereien, die auch warme Gerichte anbieten, Maultaschen, Tagliatelle und andere Nudelgerichte, Rippchen, Hacksteak mit Gemüse oder im Weinblättermantel, und natürlich Würstchen in allen Variationen, von Pommes mit Majo ganz zu schweigen.

 

Schließlich gibt es auch einen Kartenvorverkauf und eine Abendkasse. An den Wochenenden spielen hier meist 10 oder 15 Bands. Alle möglichen Stile, von Klassisch bis Hiphop. Es gibt Tanzaufführungen, Theater und Sketche, Pantomime und Zauberer. Oma hat dafür gesorgt, dass auch die Straßenkünstler ein Zuhause gefunden haben. Es gibt Jongleure, Stelzenmänner, Verwandlungskünstler, alles mögliche.

Es ist viel mehr als nur ein Musikzentrum. Es ist ein Kulturzentrum, das Tausende von Jugendlichen und auch Erwachsenen anlockt. Wenn hier am Wochenende bekannte Bands spielen, kommen manchmal 50.000 Jugendliche hierher, an einem Abend.

All das muss organisiert werden. Ohne einen Sicherheitsdienst geht das nicht. Oma ist die Leiterin des Zentrums und sie hat einen großen Stab an Mitarbeitern.

Was für viele Jugendliche so wichtig ist, dass ist die Chance auf eine Zukunft. Nicht nur eine vage Hoffnung, sondern eine reelle Chance. Über die Verwaltung des Zentrums kommt man in Ausbildungsberufe beim Fernsehen, beim Rundfunk, bei Tanzgruppen, im Bereich Eventmanagement und es gibt Handwerksberufe, wie Bühnenbauer, Elektriker, Lichtingenieure, Installateure. Aber auch die Bäcker und Kneipen stellen Leute ein. Bedienung, Kassierer, Tellerwäscher, Köche. Der bekannteste europäische Zauberkünstler Marco Francasi (so nennt er sich), ist aus dem Zentrum hervorgegangen. Junge Musiker und Sänger bekommen hier ihre Chance, ihren Stil zu entwickeln und groß rauszukommen. Das Berliner Fernsehen hat hier sogar ein eigenes Studio mit mehreren Teams, denn hier ist jeden Tag etwas los. Für die Presse gibt es sogar einen eigenen Raum mit Internetzugang, das was man ein ständiges Pressecenter nennt.

Das Zentrum hat sich in Berlin zu einem Machtfaktor entwickelt, an dem niemand mehr vorbeikommt. Die Politiker geben sich bei Oma Katharina die Klinke in die Hand und auch viele Handwerker, freie Berufe und Industrielle. Wenn sie guten Nachwuchs für ihre Firmen brauchen, dann fragen sie zuallererst bei Oma Katharina nach. Die Mitarbeiter von Katharina gucken sich die „Kandidaten“ vorher an, und es gibt eine Vorauswahl an geeigneten Bewerbern für die verschiedenen Berufe. Das erleichtert den Firmen die Arbeit, und sie können ziemlich sicher sein, die richtigen Mitarbeiter zu finden.

Oma Katharina nimmt die Firmen aber auch in die Pflicht. Falsche Versprechen werden genausowenig geduldet, wie Hungerlöhne und Verträge mit Hintertürchen.

Elvira ist in all dieses Geschehen hineingewachsen. Dieses Zentrum ist ihre Welt. Sie kann nicht jeden kennen, aber sie kennt mit ihren 12 Jahren jeden Winkel dieses Zentrums. Sie kennt die wichtigen Personen und Gruppen. Sie kennt auch die Kids da draußen auf ihren Inlinern und ihren Skateboards. Das sind oft festgefügte Gruppen. Richtige Freaks. Elvira kennt natürlich die Bedienungen und Verkäufer, die Sicherheitsleute und die Leute von den Musikagenturen.

Mama arbeitet immer noch im Zentrum. Mama ist bei Oma Katharina angestellt, und sie betreut spanischsprechende Musikgruppen und Filmsternchen. Seit sie noch drei Kinder bekommen hat, hat sie die Arbeit auf einen Halbtagsjob reduziert. Vier Kinder müssen schließlich versorgt werden. Der Bereich Promotion verlangt, dass sie immer an den Wochenenden arbeiten muss, manchmal an den Abenden unterhalb der Woche und es gibt auch Vormittage, wo sie ins Zentrum fährt. Die Betreuung von Künstlern erfordert auch einen gewissen Verwaltungsaufwand, Telefonate, Terminplanung und eine Dokumentation der Erfolge. Auch Rechnungen müssen geschrieben werden. Das macht Juanita zwar nicht selbst, sie muss aber die korrekten Daten an die Rechnungsabteilung weitergeben, sonst würde das ein Durcheinander werden. Juanita hat mit zunehmender Zahl ihrer Kinder einfach die Zahl ihrer Klienten reduziert. So kann sie sich um die Arbeit, um die Kinder, um ihren Mann und auch um den Haushalt kümmern.

In den ersten Jahren in Berlin hatte sie nur die spanischsprechenden Gruppen betreut, die hier auftraten, oder Tourneen in Europa machten. Das ergab sich einfach so, weil Mama sich auf spanisch viel besser ausdrücken konnte. So ist das bei der Muttersprache. Inzwischen spricht Mama gut deutsch, aber es gibt Dinge, die kann sie nur in spanisch so richtig mit Gefühl vermitteln, und wenn sie einmal anfängt richtig zu schimpfen, dann fällt sie immer ins Spanische. Das kommt aber selten vor.

Nach vier Jahren in Berlin hatte sich Mama auch wieder verliebt. Ihr neuer Mann ist ein Filmregisseur. Er kam eigentlich vom Fernsehen, aber er arbeitet jetzt für Tante Lara und macht mit Lara zusammen Videoclips für Musikgruppen.

Hennes (so heißt Elviras Stiefvater) hat mit Mama eine schöne Wohnung in Ostberlin gefunden. Dort wohnen auch Elvira und ihre drei kleineren Geschwister.

Trotz des Umzugs ist die Wohnung von Oma Katharina immer Elviras Heimat geblieben. Unter der Woche schläft sie meist bei Mama. Sie hat ja auch Schule, und sie muss Mama mit den Geschwistern helfen.

An den Wochenenden ist Elvira immer bei Oma Katharina. Manchmal trifft sie sich mit ihren anderen Geschwistern, entweder in Peru, Mexiko oder in den USA. Die einzigartigen Kräfte der Familie machen das möglich, und Elvira hat aus irgendeinem Grund ziemlich viel davon. Die Kinder springen einfach durch den Raum. Niemand kann sie aufhalten. Sie kündigen sich kurz an und schwupp, sind sie da. Das ist lustig und bequem. Aber nicht alle Kinder der Familie haben diese großen Kräfte.

Elvira hat Glück gehabt. Opa Leon, Tante Lara, Pablo und Tante Maria haben immer mit ihr geübt. So kann Elvira nicht nur „durch den Raum gehen“, sie kann sich auch in Tiere verwandeln, sie kann diese internationale Sprache, die es ihr möglich macht, sich mit jedem Menschen auf der Welt zu verständigen, egal, wo er herkommt. Sie kann tote Materie bewegen und die großen Geschwister haben ihr beigebracht „zu summen“. Das ist eine ganz besondere Fähigkeit. Elvira kann andere Menschen damit beeinflussen. Sie kann Meinungen damit manipulieren.

Dann gibt es noch etwas. Lara hatte ihr das beigebracht. Elvira hat die Fähigkeit zu elektrostatischen Entladungen entwickelt. Die können einen erwachsenen Mann einfach von den Füssen heben und ihn um mehrere Meter zurückschleudern, bis er durch irgendetwas aufgehalten wird, das dort im Weg steht. Lara hat das immer wieder mit Elvira trainiert, aber Elvira hat das noch nie im Ernstfall angewendet. Bisher hat sie immer Glück gehabt. Sie ist noch nie bedroht worden, und sie hat sich noch nie auf solche Weise verteidigen müssen.

Schließlich hat Lara ihr gezeigt, eine Art Schutzwall um sich zu ziehen. Das ist wirklich genial. Lara kann das anwenden, wenn es gilt, sich gegen Übergriffe zu wehren. Niemand hat die Kraft, diesen Schutzwall zu durchbrechen, der nicht über die Fähigkeit der Familie verfügt. Nur eine Pistolenkugel hätte diesen Ring aus Energie durchbrechen können. Auch das hat Elvira noch nie anwenden müssen, aber manchmal sitzt sie in der U-Bahn und zieht diesen Schutzwall um sich, wenn sie einfach ihre Ruhe haben will. Dann bleibt der Platz neben ihr frei, wie durch „ein Wunder“.

Manchmal fragen alte Damen oder Opas freundlich, „ist der Platz da noch frei?“ Dann hebt Elvira diesen Schutzwall auf. Die alten Leute können Platz nehmen und Elvira beginnt mit ihnen ein Gespräch. Sie ist neugierig und sie ist kontaktfreudig, und sie hat keine Hemmungen, mit den alten Leuten zu reden. Auf diese Weise hat sie schon viele Menschen kennengelernt. Sie hat ihnen sogar bereitwillig Einkäufe Nachhause getragen, wenn die schwer sind. Elvira hat damit gar keine Probleme.

Sie hat gelernt, dass viele Menschen nicht auf der Sonnenseite stehen. Sie hat bitteres Elend und Armut gesehen, und sie hat schon oft mit Oma Katharina darüber gesprochen. Oma Katharina hat ihr dann Tipps gegeben, wie sie den Menschen helfen kann, manchmal hat sie einen Anwalt vermittelt, um Rechte durchzusetzen. Wirklich. Oma Katharina ist prima.

Elvira hat in ihrer Tante Lara eine phantastische Lehrerin. Sie wird nun schon seit ihrer Geburt in diesen übersinnlichen Fähigkeiten trainiert, die es in der Familie von Opa Leon gibt. Sie ist schon ziemlich gut, aber sie kann nicht so viel üben, wie sie das gerne möchte. Sie hat viele Aufgaben. Nicht nur in der Schule und nicht nur bei Mama.