Die Erziehung der Gefühle

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

»Mich? Nein! Warum? Nicht im geringsten!«



Sie hatten sich nun absolut nichts mehr zu sagen. Arnoux, der sich eine Zigarette gedreht hatte, ging pustend um den Tisch herum. Frédéric stand am Ofen, betrachtete die Wände, die Etagere, das Parkett, und reizende Bilder zogen in seiner Erinnerung, fast an seinen Augen vorüber. Endlich ging er.



Ein Stück Zeitungspapier, zu einer Kugel zusammengeballt, lag im Vorzimmer auf dem Boden. Arnoux nahm es auf, hob sich auf die Zehen und steckte es in die Klingel, um seine unterbrochene Siesta fortzusetzen, wie er erklärte. Dann sagte er mit einem Händeschütteln:



»Sagen Sie, bitte, dem Hausmeister, daß ich nicht hier bin!«



Und heftig schloß er dicht hinter ihm die Tür.



Frédéric stieg Schritt für Schritt die Treppe hinunter. Der Mißerfolg dieses ersten Versuchs entmutigte ihn im voraus für die anderen. Nun begannen drei Monate der Langeweile. Da er keine Arbeit hatte, steigerte der Müßiggang seine Schwermut.



Er verbrachte Stunden damit, von seinem Balkon oben auf den Fluß hinunterzuschauen, der von Ort zu Ort zwischen graufarbigen geschwärzten Quais dahin floß, über die Rinnen der Abflußröhren, einen am Ufer verankerten Wäscherinnenkahn, worin Gassenjungen sich zuweilen damit belustigten, in einer Wanne einen Pudel baden zu lassen. Sein Blick streifte links die Steinbrücke von Notre-Dame, richtete sich aber immer wieder auf den Quai aux Ormes, auf eine Gruppe alter Bäume, die den Linden im Hafen von Montereau glichen. Der Turm Saint-Jacques, das Stadthaus, Saint-Gervais, Saint-Louis, Saint-Paul erhoben sich vor ihm zwischen einem Gewirr von Dächern, – und der Genius der Juli-Säule glänzte im Osten wie ein großer goldener Stern, während an der andern Seite der Dom der Tuilerien seine schwere blaue Masse scharfumrissen auf den Himmel zeichnete. Dahinter, auf dieser Seite mußte das Haus Madame Arnoux’ liegen.



Er trat in sein Zimmer zurück; dann, auf seinen Diwan hingestreckt, überließ er sich einem unklaren Nachdenken über Arbeitspläne, Vorsätzen für sein Verhalten, Zukunftsträumen. Schließlich ging er aus, um sich von all dem zu befreien.



Zufällig kam er durch das sonst so lärmende, zu dieser Zeit aber, da die Studenten zu ihren Familien gereist waren, verödete Quartier latin. Die hohen Mauern der Institute hatten, wie durch die Stille verlängert, ein noch viel düstereres Aussehen. Man vernahm allerlei friedliche Geräusche, Flügelschlag in Vogelkäfigen, das Knarren einer Drehbank, den Hammer eines Schuhflickers; und die Kleiderhändler mitten auf der Straße sandten vergebens fragende Blicke zu jedem Fenster hinauf. Hinten in den einsamen Cafés gähnten die Büffetdamen an der Kasse zwischen ihren gefüllten Flaschen, die Zeitungen blieben geordnet auf dem Tisch der Lesezimmer; in den Plättstuben fröstelte die Wäsche bei den kühlen Windstößen. Zuweilen blieb er vor der Auslage eines Antiquars stehen; ein Omnibus, der im Vorüberfahren das Trottoir streifte, veranlaßte ihn, umzukehren, und vor dem Luxembourg angelangt, ging er nicht weiter.



Einigemal trieb ihn die Hoffnung auf eine Zerstreuung auf die Boulevards. Durch dunkle Gäßchen, die eine feuchte Frische ausdünsteten, gelangte er auf große, öde, von Licht geblendete Plätze, wo die Monumente am Rande des Pflasters schwarzes Schattenzackenwerk zeichneten. Aber die Karren, die Läden kehrten wieder, und die Menge betäubte ihn – zumal des Sonntags – wenn von der Bastille bis zur Madeleine ein ungeheurer Strom inmitten von Staub und ununterbrochenem Getöse auf dem Asphalt dahinflutete; er fühlte sich angewidert von der Gemeinheit der Gesichter, der Albernheit der Gespräche, des einfältigen Behagens, das auf den schweißigen Stirnen stand. Allein das Bewußtsein, mehr zu gelten als diese Menschen, verminderte seine Qual, sie zu sehen.



Er ging täglich in die Kunsthandlung; und um zu erfahren, wann Madame Arnoux zurückkehren werde, erkundigte er sich umständlich nach ihrer Mutter. Die Antwort Arnoux’ blieb immer die gleiche, »die Besserung schreite fort, seine Frau würde mit der Kleinen in der nächsten Woche zurückkommen«. Je länger sie zögerte, heimzukehren, desto mehr Unruhe verriet Frédéric, so daß Arnoux ihn, von soviel Liebe gerührt, fünf- oder sechsmal ins Restaurant zum Essen mitnahm.



Frédéric erkannte in diesen langen Zwiegesprächen, daß der Kunsthändler nicht sehr geistreich war. Doch Arnoux konnte diese Abkühlung bemerken; so benutzte er denn die Gelegenheit, seine Aufmerksamkeiten zu erwidern.



Da er seine Sache sehr gut machen wollte, verkaufte er bei einem Trödler all seine neuen Anzüge für die Summe von achtzig Francs, und nachdem er hundert dazu gelegt hatte, die ihm noch geblieben waren, ging er zu Arnoux, um ihn zum Diner einzuladen. Regimbart war gerade bei ihm, und sie gingen in die Trois-Frères-Provençaux.



Der Citoyen legte seinen Überrock ab, und der Willfährigkeit der beiden anderen gewiß, stellte er den Speisezettel zusammen. Aber obwohl er sich in die Küche begab, um selber mit dem Küchenchef zu sprechen, in den Keller hinunterstieg, wo er jeden Winkel kannte, den Wirt des Etablissements heraufkommen ließ, dem er einen Rüffel gab, war er weder mit den Speisen, den Weinen, noch mit der Bedienung zufrieden! Bei jeder neuen Platte, bei jeder weiteren Flasche ließ er beim ersten Bissen, beim ersten Schluck seine Gabel fallen oder stieß sein Glas weit von sich; dann schrie er, sich mit der ganzen Länge seiner Arme auf das Tischtuch stützend, daß man in Paris nicht mehr dinieren könne! Schließlich bestellte sich Regimbart, der nicht mehr wußte, was er für seinen Gaumen ausdenken sollte, Bohnen in Öl, »ganz einfach«, die ihn, halbwegs gelungen, ein wenig besänftigten. Darauf hatte er mit dem Kellner ein Gespräch, das sich um alte Kellner der »Provençaux« drehte: »Was ist aus Antoine geworden? Und aus einem namens Eugène? Und Théodore, dem Kleinen, der immer unten bediente? Damals war die Kost hier immer ausgezeichnet und es gab Kalbskopf in Burgunder, wie man ihn niemals wiedersehen wird!«



Darauf kam die Rede auf den Wert von Terrains im Vorort, eine unfehlbare Spekulation Arnoux’. Im Abwarten verlor er allerdings seine Zinsen. Da er nicht zu jedem Preis verkaufen wollte, sollte Regimbart ihm jemanden ausfindig machen, und die beiden Herren machten bis zum Ende des Desserts mit einem Bleistift Berechnungen.



Dann gingen sie in die Passage du Saumon, in ein Wirtshaus im Zwischenstock, um den Kaffee zu nehmen. Frédéric wohnte stehend endlosen, von unzähligen Schoppen befeuchteten Billard-Partien bei; – und er blieb bis Mitternacht da, ohne zu wissen warum, aus Feigheit, aus Dummheit, in der dunklen Hoffnung irgendeines seiner Liebe günstigen Ereignisses.



Wann würde er sie wiedersehen? Frédéric war in Verzweiflung. Aber eines Abends, gegen Ende November, sagte Arnoux zu ihm:



»Meine Frau ist gestern zurückgekehrt!«



Am nächsten Tage, um fünf Uhr, trat er bei ihr ein.



Er fing damit an, sie ihrer Mutter wegen zu beglückwünschen, deren Krankheit so ernst gewesen war.



»Aber nein! Wer hat Ihnen das gesagt?«



»Arnoux!«



Ihr entschlüpfte ein kleines »ah«, dann fügte sie hinzu, daß sie anfangs ernste Befürchtungen gehegt, die jetzt geschwunden seien.



Sie saß dicht am Kamin auf dem gestickten Lehnsessel, er mit dem Hut zwischen den Knien auf dem Sofa, und die Unterhaltung war mühsam, sie ließ ihn jede Minute im Stich; er fand nicht die Gelegenheit, seine Gefühle auszudrücken. Aber als er sich beklagte, Rechtsverdrehung studieren zu müssen, erwiderte sie: »Ja… ich verstehe… Geschäfte…!« indem sie, plötzlich in Nachdenken versunken, das Gesicht senkte.



Ihn verlangte danach, ihre Gedanken zu kennen, und er dachte an nichts anderes mehr. Die Dämmerung verdichtete den Schatten um sie her.



Sie erhob sich, da sie einen Gang zu machen hatte, erschien dann wieder in einer Samtkapuze und einem schwarzen, mit Grauwerk verbrämten Mantel. Er wagte, ihr seine Begleitung anzubieten.



Man konnte nicht mehr sehen; das Wetter war kalt, und ein dichter Nebel, der die Fassaden der Häuser verwischte, verpestete die Luft. Frédéric atmete sie mit Wollust, denn er fühlte durch die Wattierung des Mantels die Form ihres Armes; und ihre Hand in einem zweiknöpfigen Wildlederhandschuh, ihre kleine Hand, die er mit Küssen hätte bedecken mögen, stützte sich auf seinen Arm. Auf dem schlüpfrigen Pflaster glitten sie ein wenig aus; ihm war, als würden sie beide inmitten einer Wolke vom Winde gewiegt.



Der Glanz der Lichter auf dem Boulevard versetzte ihn in die Wirklichkeit zurück. Die Gelegenheit war günstig, die Zeit drängte. Er verschob es bis zur Rue de Richelieu, seine Liebe zu erklären. Aber bald darauf blieb sie mit einemmal vor einem Porzellangeschäft stehen, indem sie zu ihm sagte:



»Da sind wir, ich danke Ihnen! Auf Donnerstag, nicht wahr, wie gewöhnlich?«



Die Diners begannen wieder, und je öfter er Madame Arnoux besuchte, desto stärker wurde sein Sehnen.



Der Anblick dieser Frau entnervte ihn wie der Gebrauch eines zu starken Parfüms. Sein ganzes Wesen war davon erfüllt, es wurde fast zu einer Manie, einem neuen Lebensinhalt.



Die Prostituierten, denen er beim Licht der Gasflammen begegnete, die Sängerinnen, die ihre Läufe herausschmetterten, die Reiterinnen auf ihren galoppierenden Pferden, die Bürgerinnen zu Fuß, die Grisetten an ihren Fenstern, alle Frauen erinnerten ihn durch Ähnlichkeiten oder starke Gegensätze an die eine. Er sah sich in den Läden die Kaschmirs, die Spitzen und die Ohrgehänge von Juwelen an, indem er sie sich um ihre Hüften geschlungen, an ihr Mieder genäht, in ihrem schwarzen Haar funkelnd vorstellte. In den Blumenläden entfalteten sich die Blüten nur, um im Vorübergehen von ihr gewählt zu werden. Die kleinen Seidenpantöffelchen, mit Schwanenpelz umrändert, in den Auslagen der Schuhhändler schienen nur auf ihren Fuß zu warten; alle Straßen führten zu ihrem Hause. Die Wagen standen nur auf den Plätzen, um schneller hinzugleiten; ganz Paris bezog sich auf ihre Person, und die große Stadt mit all ihren Stimmen umbrauste wie ein ungeheures Orchester nur sie.

 



Ging er in den Jardin des Plantes, so versetzte der Anblick einer Palme ihn in ferne Länder. Sie reisten miteinander auf dem Rücken von Dromedaren, unter Zelten, die von Elefanten getragen wurden, in der Kabine einer Yacht durch ein blaues Inselmeer, oder Seite an Seite auf zwei schellentragenden Maultieren, die auf dem Gras über zertrümmerte Säulen stolperten. Zuweilen blieb er im Louvre vor alten Bildern stehen, und da seine Liebe zu ihr selbst entschwundene Jahrhunderte umfaßte, identifizierte er sie mit Personen der Bilder. Mit einem spitzen Frauenkopfputz betete sie auf den Knien hinter in Blei gefaßten Scheiben. Als Edeldame von Kastilien oder Flandern saß sie mit steifer Halskrause und dicken Troddeln an der Schnürbrust da. Dann stieg sie inmitten von Senatoren unter einem Baldachin von Straußenfedern in einem Brokatgewande eine hohe Porphyrtreppe herab. Ein andermal träumte er, wie sie in gelbseidenen Pantalons auf den Polstern eines Harems saß; – und alles Schöne, das Funkeln der Sterne, gewisse Melodien, der Klang eines Satzes, ein Kontur, lenkte unvermittelt und unvermerkt seine Gedanken auf sie hin.



Denn sie zu seiner Geliebten zu machen, war sicher ein vergebliches Bemühen.



Eines Abends küßte sie Dittmer, der gekommen war, auf die Stirn; Lovarias tat es ebenfalls mit den Worten:



»Sie gestatten doch, nicht wahr, in anbetracht des Privilegiums der Freunde?«



Frédéric stammelte:



»Ich denke, wir alle sind Freunde?«



»Nicht alle alte!« erwiderte sie.



Das hieß ihn indirekt von vornherein zurückstoßen.



Aber was sollte er tun? Ihr sagen, daß er sie liebe? Sie würde ihn ohne Zweifel abweisen oder ihn entrüstet aus dem Hause jagen! So zog er der furchtbaren Aussicht, sie nicht mehr zu sehen, alle Qualen vor.



Er beneidete die Pianisten um ihr Talent, die Soldaten um ihre Narben. Er wünschte sich eine gefährliche Krankheit in der Hoffnung, dadurch ihr Interesse zu wecken.



Eines wunderte ihn: daß er nicht eifersüchtig auf Arnoux war; und er konnte sie sich nicht anders als angekleidet vorstellen, – so natürlich schien ihre Schamhaftigkeit, die ihr Geschlecht in ein geheimnisvolles Dunkel hüllte.



Indessen träumte er von dem Glück, mit ihr zu leben, sie zu duzen, mit der Hand langsam über ihre Scheitel zu streichen oder, vor ihr auf der Erde kniend, den Arm um ihre Taille, ihr die Seele aus den Augen zu trinken! Dazu aber hätte er das Schicksal zwingen müssen, und unfähig, etwas zu tun, lästerte er Gott, zieh sich der Feigheit und wand sich in seinem Verlangen, wie der Gefangene in seiner Zelle. Eine beständige Angst erstickte ihn. Stundenlang saß er unbeweglich, oder er brach in Tränen aus; und eines Tages, als er nicht die Kraft hatte, sich zusammenzunehmen, fragte ihn Deslauriers:



»Himmeldonnerwetter! was hast du denn?«



Frédéric schob alles auf seine Nerven. Deslauriers glaubte nicht daran. Vor einem solchen Schmerz fühlte er seine Liebe zu ihm wieder erwachen und er tröstete ihn. Ein Mann wie er sollte verzagen, welche Torheit! Das ginge noch in der Jugend hin, später aber hieße das seine Zeit verlieren.



»Du gehst mir zu Grunde, Frédéric! Sei wieder der alte! Immer dieselbe Geschichte! Früher gefielst du mir besser! Komm, rauche deine Pfeife, alter Junge! Raffe dich auf, du bringst mich zur Verzweiflung!«



»Es ist wahr,« sagte Frédéric, »ich bin ein Narr!«



Der Schreiber fuhr fort:



»Ach, du alter Troubadour, ich weiß wohl, was dich betrübt. Das Herzchen? Gestehe es! Ach was! Eine verloren, vier gewonnen! Über die tugendhaften Frauen tröstet man sich mit den anderen. Willst du, daß ich dich mit Weibern bekannt mache? Du brauchst nur in die Alhambra zu kommen.« (Es war ein kürzlich oben in den Champs-Elysées eröffnetes öffentliches Ballhaus, das durch einen für diese Art von Etablissements verfrühten Luxus schon in der zweiten Saison einging.) »Man amüsiert sich dort, wie es scheint. Laß uns hingehen! Du nimmst deine Freunde mit, wenn du willst; ich gestatte dir selbst Regimbart!«



Frédéric lud den Citoyen jedoch nicht ein. Deslauriers verzichtete auf Sénécal. Sie nahmen nur Hussonnet, de Cisy und Dussardier mit; und dieselbe Droschke setzte alle fünf an der Tür der Alhambra ab.



Zwei maurische Galerien zogen sich parallel nach rechts und links hin. Die Wand eines Hauses nahm den ganzen Hintergrund ein, und die vierte Seite (die des Restaurants) stellte ein gotisches Kloster mit bunten Scheiben dar. Eine Art chinesisches Dach schützte die Estrade, wo die Musikanten spielten; der Boden ringsum war asphaltiert, und an Pfosten hängende venetianische Laternen bildeten, von weitem gesehen, an den vier Abteilungen vielfarbige Lichtkronen. Ein Postament hier und da trug eine Steinschale, aus der ein dünner Wasserstrahl emporstieg. In dem Laubwerk bemerkte man Gips-Statuen, Heben und Cupidos, ganz klebrig von Ölfarbe; und die zahlreichen Alleen, mit sehr gelbem, sorgfältig geharktem Sand bedeckt, ließen den Garten noch größer erscheinen, als er schon war.



Studenten spazierten mit ihren Mädchen; Kommis in Mode-Neuheiten spreizten sich mit einem Stöckchen zwischen den Fingern; Schüler rauchten Regalias; alte Hagestolze strichen behaglich ihre fahlen Bärte mit einem Kamm; man sah dort Engländer, Russen, Südamerikaner, drei Orientalen im Turban. Loretten, Grisetten und Mädchen waren in der Hoffnung gekommen, einen Gönner, einen Liebhaber, ein Goldstück zu finden, oder einfach um des Tanzvergnügens willen; und ihre Kleider mit wassergrünen, blauroten oder violetten Überwürfen bewegten sich, glitten zwischen Ebenholzbäumen und Fliederbüschen vorüber. Fast alle Männer trugen karierte Stoffe, einige weiße Beinkleider trotz der Frische des Abends. Die Gasflammen wurden angezündet.



Hussonnet kannte durch seine Beziehungen zu den Zeitungen und kleineren Theatern viele Damen; er warf ihnen Kußhände zu und verließ von Zeit zu Zeit seine Freunde, um mit ihnen zu plaudern.



Deslauriers wurde eifersüchtig auf dieses Gebaren. Er redete eine große, in Nanking gekleidete Blondine an. Nachdem sie ihn mit mürrischer Miene betrachtet hatte, sagte sie: »Nein, dir trau’ ich nicht, mein Lieber!« und kehrte ihm den Rücken.



Er versuchte es von neuem bei einer vollen Braunen, die offenbar verrückt war, denn sie prallte beim ersten Wort zurück und drohte die Polizei zu holen, wenn er sie weiter belästigte. Deslauriers zwang sich zu lachen; dann forderte er ein junges Mädchen, das er abseits unter einer Gaslaterne sitzen sah, zu einem Kontretanz auf.



Die auf der Estrade wie Affen hockenden Musikanten kratzten und bliesen ungestüm. Der Dirigent schlug stehend in automatenhafter Weise den Takt. Man drängte, amüsierte sich; aufgeknüpfte Hutbänder streiften die Krawatten; Stiefel verirrten sich unter die Röcke; alle hüpften im Takt. Deslauriers drückte das junge Mädchen an sich und bewegte sich, von dem Delirium des Cancans angesteckt, bei der Quadrille wie eine große Marionette. Cisy und Dussardier setzten ihre Promenade fort; der junge Aristokrat lorgnettierte die Mädchen, wagte aber trotz Dussardiers Ermahnungen nicht, sie anzusprechen, da er sich einbildete, daß diese Frauen immer »einen Mann mit einer Pistole bei sich im Schrank verborgen halten, der daraus hervorkommt, um einen zur Unterschrift von Wechseln zu zwingen«.



Sie gingen zu Frédéric zurück; Deslauriers wollte nicht mehr tanzen und alle fragten sich, wie sie den Abend beschließen sollten, als Hussonnet ausrief:



»Seht! die Marquise d’Amaëgui!«



Es war eine blasse Frau mit Stülpnase, bis zum Ellbogen reichenden Halbhandschuhen und langen, schwarzen Locken, die zu beiden Seiten der Wangen wie zwei Pudelohren herabhingen. Hussonnet sagte zu ihr:



»Wir möchten ein kleines Fest bei dir veranstalten, einen orientalischen Rout. Versuche, einige deiner Freundinnen für diese französischen Kavaliere aufzutreiben. Nun, was hält dich davon ab? Erwartest du deinen Hidalgo?«



Die Andalusierin senkte den Kopf, da sie die ein wenig verschwenderischen Gewohnheiten ihres Freundes kannte und fürchtete, für die Bewirtung aufkommen zu müssen. Bei dem von ihr hingeworfenen Worte Geld bot de Cisy endlich fünf Napoleons, seine ganze Börse, an; die Sache war geordnet. Aber Frédéric war nicht mehr da.



Er hatte geglaubt, die Stimme Arnoux’ zu erkennen, hatte einen Frauenhut bemerkt und war schnell in das Bosket nebenbei eingetreten.



Mademoiselle Vatnaz befand sich allein mit Arnoux.



»Verzeihung! Ich störe wohl?«



»Nicht im allergeringsten!« erwiderte der Kaufmann.



Bei den ersten Worten ihrer Unterhaltung begriff Frédéric, daß er in die Alhambra geeilt war, um mit Mademoiselle Vatnaz eine dringende Sache zu besprechen; und Arnoux war offenbar noch nicht ganz beruhigt, denn er sagte mit besorgter Miene zu ihr:



»Sie sind ganz sicher?«



»Ganz sicher! Sie werden geliebt! Ach! welch ein glücklicher Mann!«



Und sie schnitt ihm, ihre vollen, fast blutroten Lippen vorschiebend, ein Gesicht. Aber sie hatte wundervolle, malvenfarbige Augen mit einem Goldpunkt in den Pupillen, voll Geist, Liebe und Sinnlichkeit. Sie erhellten den etwas gelben Teint ihres mageren Gesichts wie eine Flamme. Arnoux schien Gefallen an ihren Mätzchen zu finden.



»Sie sind nett, geben Sie mir einen Kuß.«



Sie nahm ihn bei beiden Ohren und küßte ihn auf die Stirn.



In diesem Augenblick hörte der Tanz auf; und auf dem Platz des Dirigenten erschien fett und wachsbleich ein schöner junger Mann. Er trug langes, nach Christusmanier geordnetes, schwarzes Haar, eine Weste von azurblauem Samt mit goldenen Palmen und sah stolz wie ein Pfau und dumm wie ein Truthahn aus. Als er das Publikum begrüßt hatte, stimmte er ein Lied an, das von einem Dörfler handelte, der seine Reise in die Hauptstadt beschreibt; der Künstler sprach das Platt der Normandie und spielte den Betrunkenen; der Refrain:





Ah! j’ai t’y ri, j’ai t’y ri, dans ce gueusard de Paris!





rief einen Sturm der Begeisterung hervor, und der Charaktersänger Delmas war zu schlau, sie abkühlen zu lassen. Man reichte ihm schnell eine Guitarre, und er säuselte eine Romanze mit dem Titel »der Bruder des Albanesen«. Die Worte erinnerten Frédéric an das Lied, das der zerlumpte Mensch auf dem Dampfboot gesungen hatte. Unwillkürlich hefteten seine Augen sich auf den Saum des Kleides, das vor ihm ausgebreitet lag. Nach jeder Strophe kam eine lange Pause, – und das Rauschen des Windes in den Bäumen glich dem Geräusch der Wellen.



Indem sie Zweige eines Ligusterbusches auseinanderbog, die ihr die Aussicht auf die Estrade verdeckten, betrachtete Mademoiselle Vatnaz mit geblähten Nasenflügeln und zusammengezogenen Brauen unverwandt den Sänger, wie verloren in aufrichtiger Freude.



»Jetzt begreife ich, warum Sie heute abend in der Alhambra sind!« sagte Arnoux. »Delmas gefällt Ihnen, meine Liebe.«



Sie wollte es nicht eingestehen.



»Mein Gott! welche Scheu!«



Und auf Frédéric weisend:



»Ist es seinetwegen? Da tun Sie unrecht. Es gibt keinen diskreteren jungen Mann!«



Ihren Freund zu suchen, kamen die anderen in den Gartensaal. Hussonnet stellte sie vor. Arnoux reichte Zigarren herum und bewirtete die Gesellschaft mit Sorbet.



Mademoiselle Vatnaz war errötet, als sie Dussardier bemerkte. Sie erhob sich sogleich, reichte ihm die Hand und sagte:



»Sie erinnern sich meiner nicht, Monsieur Auguste?«



»Woher kennen Sie sie?« fragte Frédéric.



»Wir arbeiteten zusammen in demselben Hause!« erwiderte er.



Cisy zupfte ihn am Ärmel und sie gingen; kaum waren sie verschwunden, als Mademoiselle Vatnaz eine Lobrede auf Dussardiers Charakter begann. Sie fügte sogar hinzu, daß er das Genie des Herzens habe.



Darauf wurde von Delmas gesprochen, der als Schauspieler Erfolg auf der Bühne haben könnte; und so entspann sich eine Diskussion, in die Shakespeare, die Zensur, der Stil, das Volk, die Einnahmen von Porte-Saint-Martin, Alexandre Dumas, Victor Hugo und Dumersan hineingezogen wurden.



Arnoux hatte mehrere berühmte Schauspielerinnen gekannt, und die jungen Leute neigten sich vor, um ihm zuzuhören. Aber seine Worte wurden von den Musikern erstickt; und sobald die Quadrille oder Polka beendet war, ließen sich alle an Tischen nieder, lachten und riefen nach dem Kellner. Im Gebüsch hörte man Flaschen mit Bier und Brauselimonade knallen. Frauen kreischten wie Hühner; ein paarmal wollten zwei Herren sich schlagen; ein Dieb wurde verhaftet.

 



Im Galopp stürmten die Tänzer durch die Alleen. Keuchend, lächelnd, mit roten Gesichtern, zogen sie in einem Wirbel vorüber, daß die Kleider und die Rockschöße flogen. Die Posaunen dröhnten stärker; der Tanz wurde immer wilder; hinter dem mittelalterlichen Kloster hörte man es prasseln; Petarden zersprangen, Sonnen drehten sich; der Schein von smaragdgrünem bengalischen Licht erhellte für eine Minute den ganzen Garten; – und bei der letzten Rakete stieg ein tiefes Seufzen aus der Menge auf.



Sie verlief sich langsam. Eine Wolke von Pulver schwebte in der Luft. Frédéric und Deslauriers gingen Schritt vor Schritt mitten durch das Gedränge, als sie plötzlich auf Martinon stießen. Er ließ sich an der Ausgabestelle der Regenschirme Geld wechseln und begleitete darauf eine häßliche Frau in den Fünfzigern, die prachtvoll gekleidet war und von problematischem sozialen Rang zu sein schien.



»Dieser Schelm«, sagte Deslauriers, »ist nicht so schüchtern, wie man annimmt. Aber wo ist denn de Cisy?«



Dussardier zeigte auf das Rauchzimmer, wo sie den Abkömmling tapferer Ritter vor einem Punschglas in Gesellschaft eines rosa Hutes erblickten.



Hussonnet, der für fünf Minuten fortgegangen war, erschien im selben Augenblick.



Ein junges Mädchen stützte sich auf seinen Arm, indem es ihn ganz laut »mein Kätzchen« nannte.



»Nicht doch!« sagte er zu ihr. »Nicht öffentlich! Nenne mich lieber Vicomte! Dabei denkt man an einen Kavalier aus der Zeit Ludwigs XIII. und an Jagdstiefel, die mir gefallen.«



»Ja, meine Lieben, eine alte Flamme! Ist sie nicht nett?« Er faßte sie unters Kinn. – »Ihr Diener, meine Herren! das sind alle Söhne von Pairs von Frankreich! ich verkehre mit ihnen, damit sie mich zum Gesandten ernennen!«



»Wie ausgelassen Sie sind!« seufzte Mademoiselle Vatnaz. Sie bat Dussardier, sie bis zu ihrer Tür zu begleiten.



Arnoux sah sie sich entfernen und wandte sich dann an Frédéric:



»Gefiel Ihnen die Vatnaz? Übrigens sind Sie darin nicht aufrichtig. Ich glaube, Sie verheimlichen Ihre Liebschaften?«



Frédéric wurde bleich und beteuerte, daß er nichts zu verbergen habe.



»Es ist nur, weil man keine Geliebte von Ihnen kennt,« fuhr Arnoux fort.



Frédéric hatte Lust, irgendeinen Namen zu nennen. Aber die Sache konnte ihr wiedererzählt werden. Er erwiderte, daß er tatsächlich keine Geliebte habe.



Der Kaufmann schalt ihn dafür aus.



»Heute abend war eine gute Gelegenheit! Warum machten Sie es nicht wie die anderen, die alle eine Frau mitnahmen?«



»Nun, und Sie?« sagte Frédéric, durch diese Hartnäckigkeit ungeduldig geworden.



»Ach, ich! mein Junge! das ist etwas anderes! Ich kehre zu meiner Frau zurück.«



Er rief ein Kabriolet heran und verschwand.



Die beiden Freunde gingen zu Fuß. Ein Ostwind blies. Weder einer noch der andere sprach. Deslauriers bedauerte, nicht vor einem Zeitung-Redakteur »geglänzt« zu haben, und Frédéric gab sich seinem Schmerze hin. Schließlich sagte er, daß er den ganzen Rummel stumpfsinnig finde.



»Und wer hat Schuld? Wenn du uns nicht um deinen Arnoux im Stich gelassen hättest!«



»Ach was! alles, was ich hätte tun können, wäre nutzlos gewesen!«



Aber der Schreiber hatte Theorien. Um Dinge zu erlangen, genüge es, sie nachdrücklichst zu wünschen.



»Und du selber hast doch eben…«



»Ich mache mir nichts daraus!« entgegnete Deslauriers, der klaren Anspielung ausweichend. »Soll ich mich mit Weibern einlassen?«



Und er zog gegen ihre Ziererei, ihre Dummheiten los; kurz, sie mißfielen ihm.



»Verstelle dich doch nicht!« sagte Frédéric.



Deslauriers schwieg. Dann plötzlich sagte er:



»Willst du hundert Francs wetten, daß ich die erste, die vorübergeht, ›stelle‹?«



»Ja, angenommen!«



Als erste ging eine häßliche Bettlerin vorüber, und sie gaben die Hoffnung auf eine Gelegenheit auf, als sie mitten in der Rue de Rivoli ein großes Mädchen mit einem kleinen Karton in der Hand bemerkten.



Deslauriers sprach sie unter den Arkaden an. Sie wandte sich rasch nach der Seite der Tuilerien, bald hatte sie die Place du Caroussel erreicht und blickte nach allen Seiten. Sie lief hinter einer Droschke he