Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil

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Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil
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Gustav Schwab

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums sind eine Sammlung überlieferter Mythen aus dem Griechenland der Antike.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Erstes Buch

Zweites Buch

Drittes Buch

Viertes Buch

Fünftes Buch

Sechstes Buch

Impressum neobooks

Erstes Buch

Erster Teil

Erstes Buch

Prometheus

Himmel und Erde waren geschaffen: das Meer wogte in seinen Ufern, und die Fische spielten darin;

in den Lüften sangen beflügelt die Vögel; der Erdboden wimmelte von Tieren. Aber noch fehlte es an

dem Geschöpfe, dessen Leib so beschaffen war, daß der Geist in ihm Wohnung machen und von ihm

aus die Erdenwelt beherrschen konnte. Da betrat Prometheus die Erde, ein Sprößling des alten

Göttergeschlechtes, das Zeus entthront hatte, ein Sohn des erdgebornen Uranossohnes Iapetos,

kluger Erfindung voll. Dieser wußte wohl, daß im Erdboden der Same des Himmels schlummre;

darum nahm er vom Tone, befeuchtete denselben mit dem Wasser des Flusses, knetete ihn und

formte daraus ein Gebilde nach dem Ebenbilde der Götter, der Herren der Welt. Diesen seinen

Erdenkloß zu beleben, entlehnte er allenthalben von den Tierseelen gute und böse Eigenschaften

und schloß sie in die Brust des Menschen ein. Unter den Himmlischen hatte er eine Freundin,

Athene, die Göttin der Weisheit. Diese bewunderte die Schöpfung des Titanensohnes und blies dem

halbbeseelten Bilde den Geist, den göttlichen Atem ein.

So entstanden die ersten Menschen und füllten bald vervielfältigt die Erde. Lange aber wußten diese

nicht, wie sie sich ihrer edlen Glieder und des empfangenen Götterfunkens bedienen sollten. Sehend

sahen sie umsonst, hörten hörend nicht; wie Traumgestalten liefen sie umher und wußten sich der

Schöpfung nicht zu bedienen. Unbekannt war ihnen die Kunst, Steine auszugraben und zu behauen,

aus Lehm Ziegel zu brennen, Balken aus dem gefällten Holze des Waldes zu zimmern und mit allem

diesem sich Häuser zu erbauen. Unter der Erde, in sonnenlosen Höhlen, wimmelte es von ihnen, wie

von beweglichen Ameisen; nicht den Winter, nicht den blütenvollen Frühling, nicht den

früchtereichen Sommer kannten sie an sicheren Zeichen; planlos war alles, was sie verrichteten. Da

nahm sich Prometheus seiner Geschöpfe an; er lehrte sie den Auf‐ und Niedergang der Gestirne

beobachten, erfand ihnen die Kunst zu zählen, die Buchstabenschrift; lehrte sie Tiere ans Joch

spannen und zu Genossen ihrer Arbeit brauchen, gewöhnte die Rosse an Zügel und Wagen; erfand

Nachen und Segel für die Schiffahrt. Auch fürs übrige Leben sorgte er den Menschen. Früher, wenn

einer krank wurde, wußte er kein Mittel, nicht was von Speise und Trank ihm zuträglich sei, kannte

kein Salböl zur Linderung seiner Schäden; sondern aus Mangel an Arzneien starben sie elendiglich

dahin. Darum zeigte ihnen Prometheus die Mischung milder Heilmittel, allerlei Krankheiten damit zu

vertreiben. Dann lehrte er sie die Wahrsagerkunst, deutete ihnen Vorzeichen und Träume, Vogelflug

und Opferschau. Ferner führte er ihren Blick unter die Erde und ließ sie hier das Erz, das Eisen, das

Silber und das Gold entdecken; kurz, in alle Bequemlichkeiten und Künste des Lebens leitete er sie

ein.

Im Himmel herrschte mit seinen Kindern seit kurzem Zeus, der seinen Vater Kronos entthront und

das alte Göttergeschlecht, von welchem auch Prometheus abstammte gestürzt hatte.

Jetzt wurden die neuen Götter aufmerksam auf das eben entstandene Menschenvolk. Sie verlangten

Verehrung von ihm für den Schutz, welchen sie demselben angedeihen zu lassen bereitwillig waren.

Zu Mekone in Griechenland ward ein Tag gehalten zwischen Sterblichen und Unsterblichen, und

Rechte und Pflichten der Menschen bestimmt. Bei dieser Versammlung erschien Prometheus als

Anwalt seiner Menschen, dafür zu sorgen, daß die Götter für die übernommenen Schutzämter den

Sterblichen nicht allzu lästige Gebühren auferlegen möchten. Da verführte den Titanensohn seine

Klugheit, die Götter zu betrügen. Er schlachtete im Namen seiner Geschöpfe einen großen Stier,

davon sollten die Himmlischen wählen, was sie für sich davon verlangten. Er hatte aber nach

Zerstückelung des Opfertieres zwei Haufen gemacht; auf die eine Seite legte er das Fleisch, das

Eingeweide und den Speck, in die Haut des Stieres zusammengefaßt, und den Magen oben darauf,

auf die andere die kahlen Knochen, künstlich in das Unschlitt des Schlachtopfers eingehüllt. Und

dieser Haufen war der größere. Zeus, der Göttervater, der allwissende, durchschaute seinen Betrug

und sprach: »Sohn des Iapetos, erlauchter König, guter Freund, wie ungleich hast du die Teile

geteilt!« Prometheus glaubte jetzt erst recht, daß er ihn betrogen, lächelte bei sich selbst und sprach:

»Erlauchter Zeus, größter der ewigen Götter, wähle den Teil, den dir dein Herz im Busen anrät zu

wählen.« Zeus ergrimmte im Herzen, aber geflissentlich faßte er mit beiden Händen das weiße

Unschlitt. Als er es nun auseinandergedrückt und die bloßen Knochen gewahrte, stellte er sich an, als

entdeckte er jetzt eben erst den Betrug, und zornig sprach er: »Ich sehe wohl, Freund Iapetionide,

daß du die Kunst des Truges noch nicht verlernt hast!«

Zeus beschloß, sich an Prometheus für seinen Betrug zu rächen, und versagte den Sterblichen die

letzte Gabe, die sie zur vollendeteren Gesittung bedurften, das Feuer. Doch auch dafür wußte der

schlaue Sohn des Iapetos Rat. Er nahm den langen Stengel des markigen Riesenfenchels, näherte sich

mit ihm dem vorüberfahrenden Sonnenwagen und setzte so den Stengel in glostenden Brand. Mit

diesem Feuerzunder kam er hernieder auf die Erde, und bald loderte der erste Holzstoß gen Himmel.

In innerster Seele schmerzte es den Donnerer, als er den fernhinleuchtenden Glanz des Feuers unter

den Menschen emporsteigen sah. Sofort formte er, da des Feuers Gebrauch den Sterblichen nicht

mehr zu nehmen war, ein neues Übel für sie. Der seiner Kunst wegen berühmte Feuergott

Hephaistos mußte ihm das Scheinbild einer schönen Jungfrau fertigen; Athene selbst, die, auf

Prometheus eifersüchtig, ihm abhold geworden war, warf dem Bild ein weißes, schimmerndes

Gewand über, ließ ihr einen Schleier über das Gesicht wallen, den das Mädchen mit den Händen

geteilt hielt, bekränzte ihr Haupt mit frischen Blumen und umschlang es mit einer goldenen Binde,

die gleichfalls Hephaistos seinem Vater zulieb kunstreich verfertigt und mit bunten Tiergestalten

herrlich verziert hatte. Hermes, der Götterbote, mußte dem holden Gebilde Sprache verleihen und

Aphrodite allen Liebreiz. Also hatte Zeus unter der Gestalt eines Gutes ein blendendes Übel

geschaffen; er nannte das Mägdlein Pandora, das heißt die Allbeschenkte, denn jeder der

Unsterblichen hatte ihr irgendein unheilbringendes Geschenk für die Menschen mitgegeben. Darauf

führte er die Jungfrau hernieder auf die Erde, wo Sterbliche vermischt mit den Göttern

lustwandelten. Alle miteinander bewunderten die unvergleichliche Gestalt. Sie aber schritt zu

Epimetheus, dem argloseren Bruder des Prometheus, ihm das Geschenk des Zeus zu bringen.

Vergebens hatte diesen der Bruder gewarnt, niemals ein Geschenk vom olympischen Herrscher

anzunehmen, damit dem Menschen kein Leid dadurch widerführe, sondern es sofort

zurückzusenden. Epimetheus, dieses Wortes uneingedenk, nahm die schöne Jungfrau mit Freuden

auf und empfand das Übel erst, als er es hatte. Denn bisher lebten die Geschlechter der Menschen,

von seinem Bruder beraten, frei vom Übel, ohne beschwerliche Arbeit, ohne quälende Krankheit. Das

Weib aber trug in den Händen ihr Geschenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel versehen. Kaum bei

Epimetheus angekommen, schlug sie den Deckel zurück, und alsbald entflog dem Gefäße eine Schar

von Übeln und verbreitete sich mit Blitzesschnelle über die Erde. Ein einziges Gut war zuunterst in

dem Fasse verborgen, die Hoffnung; aber auf den Rat des Göttervaters warf Pandora den Deckel

wieder zu, ehe sie herausflattern konnte, und verschloß sie für immer in dem Gefäß. Das Elend füllte

inzwischen in allen Gestalten Erde, Luft und Meer. Die Krankheiten irrten bei Tag und bei Nacht unter

den Menschen umher, heimlich und schweigend, denn Zeus hatte ihnen keine Stimme gegeben; eine

Schar von Fiebern hielt die Erde belagert, und der Tod, früher nur langsam die Sterblichen

beschleichend, beflügelte seinen Schritt.

Darauf wandte sich Zeus mit seiner Rache gegen Prometheus. Er übergab den Verbrecher dem

Hephaistos und seinen Dienern, dem Kratos und der Bia (dem Zwang und der Gewalt). Diese mußten

 

ihn in die skythischen Einöden schleppen und hier, über einem schauderhaften Abgrund, an eine

Felswand des Berges Kaukasus mit unauflöslichen Ketten schmieden. Ungerne vollzog Hephaistos

den Auftrag seines Vaters, er liebte in dem Titanensohne den verwandten Abkömmling seines

Urgroßvaters Uranos, den ebenbürtigen Göttersprößling. Unter mitleidsvollen Worten und von den

roheren Knechten gescholten, ließ er diese das grausame Werk vollbringen. So mußte nun

Prometheus an der freudlosen Klippe hängen, aufrecht, schlaflos, niemals imstande, das müde Knie

zu beugen. »Viele vergebliche Klagen und Seufzer wirst du versenden«, sagte Hephaistos zu ihm,

»denn des Zeus Sinn ist unerbittlich, und alle, die erst seit kurzem die Herrschergewalt an sich

gerissen [Zeus hatte den Kronos (Saturn), seinen Vater, und mit ihm die alten Götterdynastie gestürzt

und sich des Olymps mit Gewalt bemächtigt. Iapetos und Kronos waren Brüder, Prometheus und

Zeus Geschwisterkinder]. , sind hartherzig.« Wirklich sollte auch die Qual des Gefangenen ewig oder

doch dreißigtausend Jahre dauern. Obwohl laut aufseufzend und Winde, Ströme, Quellen und

Meereswellen, die Allmutter Erde und den allschauenden Sonnenkreis zu Zeugen seiner Pein

aufrufend, blieb er doch ungebeugten Sinnes. »Was das Schicksal beschlossen hat«, sprach er, »muß

derjenige tragen, der die unbezwingliche Gewalt der Notwendigkeit einsehen gelernt hat.« Auch ließ

er sich durch keine Drohungen des Zeus bewegen, die dunkle Weissagung, daß dem Götterherrscher

durch einen neuen Ehebund [Mit der Thetis] Verderben und Untergang bevorstehe, näher

auszudeuten. Zeus hielt Wort; er sandte dem Gefesselten einen Adler, der als täglicher Gast an seiner

Leber zehren durfte, die sich, abgeweidet, immer wieder erneuerte. Diese Qual sollte nicht eher

aufhören, bis ein Ersatzmann erscheinen würde, der durch freiwillige Übernahme des Todes

gewissermaßen sein Stellvertreter zu werden sich erböte.

Jener Zeitpunkt erschien früher, als der Verurteilte nach dem Spruch des Göttervaters erwarten

durfte. Als er viele Jahre an dem Felsen gehangen, kam Herakles des Weges, auf der Fahrt nach den

Hesperiden und ihren Äpfeln begriffen. Wie er den Götterenkel am Kaukasus hängen sah und sich

seines guten Rates zu erfreuen hoffte, erbarmte ihn sein Geschick, denn er sah zu, wie der Adler, auf

den Knien des Prometheus sitzend, an der Leber des Unglücklichen fraß. Da legte er Keule und

Löwenhaut hinter sich, spannte den Bogen, entsandte den Pfeil und schoß den grausamen Vogel von

der Leber des Gequälten hinweg. Hierauf löste er seine Fesseln und führte den Befreiten mit sich

davon. Damit aber Zeus' Bedingung erfüllt würde, stellte er ihm als Ersatzmann den Zentauren

Chiron, der erbötig war, an jenes Statt zu sterben; denn vorher war er unsterblich. Auf daß jedoch

des Kroniden Urteil, der den Prometheus auf weit längere Zeit an den Felsen gesprochen hatte, auch

so nicht unvollzogen bliebe, so mußte Prometheus fortwährend einen eisernen Ring tragen, an

welchem sich ein Steinchen von jenem Kaukasusfelsen befand. So konnte sich Zeus rühmen, daß sein

Feind noch immer an den Kaukasus angeschmiedet lebe.

Die Menschenalter

Die ersten Menschen, welche die Götter schufen, waren ein goldenes Geschlecht. Diese lebten,

solange Kronos (Saturnus) dem Himmel vorstand, sorgenlos und den Göttern selbst ähnlich, von

Arbeit und Kummer entfernt. Auch die Leiden des Alters waren ihnen unbekannt; an Händen, Füßen

und allen Gliedern immer rüstig, freuten sie sich, von jeglichem Übel frei, heiterer Gelage. Die seligen

Götter hatten sie lieb und schenkten ihnen auf reichen Fluren stattliche Herden. Wenn sie

verscheiden sollten, sanken sie nur in sanften Schlaf. Solange sie aber lebten, hatten sie alle

möglichen Güter; das Erdreich gewährte ihnen alle Früchte von selbst und im Überflusse, und ruhig,

mit allen Gütern gesegnet, vollbrachten sie ihr Tagewerk. Nachdem jenes Geschlecht dem Beschlusse

des Schicksals zufolge von der Erde verschwunden war, wurden sie zu frommen Schutzgöttern,

welche, dicht in Nebel gehüllt, die Erde rings durchwandelten, als Geber alles Guten, Behüter des

Rechts und Rächer aller Vergehungen.

Hierauf schufen die Unsterblichen ein zweites Menschengeschlecht, das silberne; dieses war schon

weit von jenem abgeartet und glich ihm weder an Körpergestaltung noch an Gesinnung. Sondern

ganze hundert Jahre wuchs der verzärtelte Knabe noch unmündig an Geist unter der mütterlichen

Pflege im Elternhause auf, und wenn einer endlich zum Jünglingsalter herangereift war, so blieb ihm

nur noch kurze Frist zum Leben übrig. Unvernünftige Handlungen stürzten diese neuen Menschen in

Jammer; denn sie konnten schon ihre Leidenschaften nicht mehr mäßigen und frevelten im

Übermute gegeneinander. Auch die Altäre der Götter wollten sie nicht mehr mit den gebührenden

Opfern ehren. Deswegen nahm Zeus dieses Geschlecht wieder von der Erde hinweg; denn ihm gefiel

nicht, daß sie der Ehrfurcht gegen die Unsterblichen ermangelten. Doch waren auch diese noch nicht

so entblößt von Vorzügen, daß ihnen nach ihrer Entfernung aus dem Leben nicht einige Ehre zum

Anteil geworden wäre, und sie durften als sterbliche Dämonen noch auf der Erde umherwandeln.

Nun erschuf der Vater Zeus ein drittes Geschlecht von Menschen; das hieß das eherne. Das war auch

dem silbernen völlig ungleich, grausam, gewalttätig, immer nur den Geschäften des Krieges ergeben,

immer einer auf des andern Beleidigung sinnend. Sie verschmähten es, von den Früchten des Feldes

zu essen, und nährten sich vom Tierfleische; ihr Starrsinn war hart wie Diamant, ihr Leib von

ungeheurem Gliederbau; Arme wuchsen ihnen von den Schultern, denen niemand nahekommen

durfte. Ihre Wehr war Erz, ihre Wohnung Erz, mit Erz bestellten sie das Feld; denn Eisen war damals

noch nicht vorhanden. Sie kehrten ihre eigenen Hände gegeneinander; aber so groß und entsetzlich

sie waren, so vermochten sie doch nichts gegen den schwarzen Tod und stiegen, vom hellen

Sonnenlichte scheidend, in die schaurige Nacht der Unterwelt hernieder.

Als die Erde auch dieses Geschlecht eingehüllt hatte, brachte Zeus, der Sohn des Kronos, ein viertes

Geschlecht hervor, das auf der nährenden Erde wohnen sollte. Dies war wieder edler und gerechter

als das vorige. Es war das Geschlecht der göttlichen Heroen, welche die Vorwelt auch Halbgötter

genannt hat. Zuletzt vertilgte aber auch sie Zwietracht und Krieg, die einen vor den sieben Toren

Thebens, wo sie um das Reich des Königes Ödipus kämpften, die andern auf dem Gefilde Trojas,

wohin sie um der schönen Helena willen zahllos auf Schiffen gekommen waren. Als diese ihr

Erdenleben in Kampf und Not beschlossen hatten, ordnete ihnen der Vater Zeus ihren Sitz am Rande

des Weltalls an, im Ozean, auf den Inseln der Seligen. Dort führen sie nach dem Tode ein glückliches

und sorgenfreies Leben, wo ihnen der fruchtbare Boden dreimal im Jahr honigsüße Früchte zum

Labsal emporsendet.

»Ach wäre ich«, so seufzet der alte Dichter Hesiod, der diese Sage von den Menschenaltern erzählt,

»wäre ich doch nicht ein Genosse des fünften Menschengeschlechtes, das jetzt gekommen ist; wäre

ich früher gestorben oder später geboren! denn dieses Menschengeschlecht ist ein eisernes!

Gänzlich verderbt, ruhen diese Menschen weder bei Tage noch bei Nacht von Kümmernis und

Beschwerden; immer neue nagende Sorgen schicken ihnen die Götter. Sie selbst aber sind die größte

Plage. Der Vater ist dem Sohne, der Sohn dem Vater nicht hold; der Gast haßt den ihn bewirtenden

Freund, der Genosse den Genossen; auch unter Brüdern herrscht nicht mehr herzliche Liebe wie

vorzeiten. Dem grauen Haare der Eltern selbst wird die Ehrfurcht versagt, Schmachreden werden

gegen sie ausgestoßen, Mißhandlungen müssen sie erdulden. Ihr grausamen Menschen, denket ihr

denn gar nicht an das Göttergericht, daß ihr euren abgelebten Eltern den Dank für ihre Pflege nicht

erstatten wollet? Überall gilt nur das Faustrecht; auf Städteverwüstung sinnen sie gegeneinander.

Nicht derjenige wird begünstigt, der die Wahrheit schwört, der gerecht und gut ist, nein, nur den

Übeltäter, den schnöden Frevler ehren sie; Recht und Mäßigung gilt nichts mehr, der Böse darf den

Edleren verletzen, trügerische, krumme Worte sprechen, Falsches beschwören. Deswegen sind diese

Menschen auch so unglücklich. Schadenfrohe, mißlaunige Scheelsucht verfolgt sie und grollt ihnen

mit dem neidischen Antlitz entgegen. Die Göttinnen der Scham und der heiligen Scheu, welche sich

bisher doch noch auf der Erde hatten blicken lassen, verhüllen traurig ihren schönen Leib in das

weiße Gewand und verlassen die Menschen, um sich wieder in die Versammlung der ewigen Götter

zurückzuflüchten. Unter den sterblichen Menschen blieb nichts als das traurige Elend zurück, und

keine Rettung von diesem Unheil ist zu erwarten.«

Deukalion und Pyrrha

Als das eherne Menschengeschlecht auf Erden hauste und Zeus, dem Weltbeherrscher, schlimme

Sage von seinen Freveln zu Ohren gekommen, beschloß er, selbst in menschlicher Bildung die Erde zu

durchstreifen. Aber allenthalben fand er das Gerücht noch geringer als die Wahrheit. Eines Abends in

später Dämmerung trat er unter das ungastliche Obdach des Arkadierkönigs Lykaon, welcher durch

Wildheit berüchtigt war. Er ließ durch einige Wunderzeichen merken, daß ein Gott gekommen sei;

und die Menge hatte sich auf die Knie geworfen. Lykaon jedoch spottete über diese frommen

Gebete. »Laßt uns sehen«, sprach er, »ob es ein Sterblicher oder ein Gott sei!« Damit beschloß er im

Herzen, den Gast um Mitternacht, wenn der Schlummer auf ihm lastete, mit ungeahntem Tode zu

verderben. Noch vorher aber schlachtete er einen armen Geisel, den ihm das Volk der Molosser

gesandt hatte, kochte die halb lebendigen Glieder in siedendem Wasser oder briet sie am Feuer und

setzte sie dem Fremdling zum Nachtmahle auf den Tisch. Zeus, der alles durchschaut hatte, fuhr vom

Mahle empor und sandte die rächende Flamme über die Burg des Gottlosen. Bestürzt entfloh der

König ins freie Feld. Der erste Wehlaut, den er ausstieß, war ein Geheul, sein Gewand wurde zu

Zotteln, seine Arme wurden zu Beinen: er war in einen blutdürstigen Wolf verwandelt.

Zeus kehrte in den Olymp zurück, hielt mit den Göttern Rat und gedachte das ruchlose

Menschengeschlecht zu vertilgen. Schon wollte er auf alle Länder die Blitze verstreuen; aber die

Furcht, der Äther möchte in Flammen geraten und die Achse des Weltalls verlodern, hielt ihn ab. Er

legte die Donnerkeile, welche ihm die Zyklopen geschmiedet, wieder beiseite und beschloß, über die

ganze Erde Platzregen vom Himmel zu senden und so unter Wolkengüssen die Sterblichen

aufzureiben. Auf der Stelle ward der Nordwind samt allen andren die Wolken verscheuchenden

Winden in die Höhlen des Äolos verschlossen und nur der Südwind von ihm ausgesendet. Dieser flog

mit triefenden Schwingen zur Erde hinab, sein entsetzliches Antlitz bedeckte pechschwarzes Dunkel,

sein Bart war schwer von Gewölk, von seinem weißen Haupthaare rann die Flut, Nebel lagerten auf

der Stirne, aus dem Busen troff ihm das Wasser. Der Südwind griff an den Himmel, faßte mit der

Hand die weit umherhangenden Wolken und fing an, sie auszupressen. Der Donner rollte, gedrängte

Regenflut stürzte vom Himmel; die Saat beugte sich unter dem wogenden Sturm, darnieder lag die

Hoffnung des Landmanns, verdorben war die langwierige Arbeit des ganzen Jahres. Auch Poseidon,

des Zeus Bruder, kam ihm bei dem Zerstörungswerke zu Hilfe, berief alle Flüsse zusammen und

sprach: »Laßt euren Strömungen alle Zügel schießen, fallt in die Häuser, durchbrechet die Dämme!«

Sie vollführten seinen Befehl, und Poseidon selbst durchstach mit seinem Dreizack das Erdreich und

schaffte durch Erschütterung den Fluten Eingang. So strömten die Flüsse über die offene Flur hin,

bedeckten die Felder, rissen Baumpflanzungen, Tempel und Häuser fort. Blieb auch wo ein Palast

stehen, so deckte doch bald das Wasser seinen Giebel, und die höchsten Türme verbargen sich im

Strudel. Meer und Erde waren bald nicht mehr unterschieden; alles war See, gestadelose See. Die

 

Menschen suchten sich zu retten, so gut sie konnten; der eine erkletterte den höchsten Berg, der

andere bestieg einen Kahn und ruderte nun über das Dach seines versunkenen Landhauses oder über

die Hügel seiner Weinpflanzungen hin, daß der Kiel an ihnen streifte. In den Ästen der Wälder

arbeiteten sich die Fische ab; den Eber, den eilenden Hirsch erjagte die Flut; ganze Völker wurden

vom Wasser hinweggerafft, und was die Welt verschonte, starb den Hungertod auf den unbebauten

Heidegipfeln.

Ein solcher hoher Berg ragte noch mit zwei Spitzen im Lande Phokis über die alles bedeckende

Meerflut hervor. Es war der Parnassos. An ihm schwamm Deukalion, des Prometheus Sohn, den

dieser gewarnt und ihm ein Schiff erbaut hatte, mit seiner Gattin Pyrrha im Nachen heran. Kein

Mann, kein Weib war je erfunden worden, die an Rechtschaffenheit und Götterscheu diese beiden

übertroffen hätten. Als nun Zeus, vom Himmel herabschauend, die Welt von stehenden Sümpfen

überschwemmt und von den vielen tausendmal Tausenden nur ein einziges Menschenpaar übrig sah,

beide unsträflich, beide andächtige Verehrer der Gottheit, da sandte er den Nordwind aus, sprengte

die schwarzen Wolken und hieß ihn die Nebel entführen; er zeigte den Himmel der Erde und die Erde

dem Himmel wieder. Auch Poseidon, der Meeresfürst, legte den Dreizack nieder und besänftigte die

Flut. Das Meer erhielt wieder Ufer, die Flüsse kehrten in ihr Bett zurück; Wälder streckten ihre mit

Schlamm bedeckten Baumwipfel aus der Tiefe hervor, Hügel folgten, endlich breitete sich auch

wieder ebenes Land aus, und zuletzt war die Erde wieder da.

Deukalion blickte um sich. Das Land war verwüstet und in Grabesstille versenkt. Tränen rollten bei

diesem Anblick über seine Wangen, und er sprach zu seinem Weibe Pyrrha: »Geliebte, einzige

Lebensgenossin! Soweit ich in die Länder schaue, nach allen Weltgegenden hin, kann ich keine

lebende Seele entdecken. Wir zwei bilden miteinander das Volk der Erde, alle andren sind in der

Wasserflut untergegangen. Aber auch wir sind unsres Lebens noch nicht mit Gewißheit sicher. Jede

Wolke, die ich sehe, erschreckt meine Seele noch. Und wenn auch alle Gefahr vorüber ist, was fangen

wir Einsamen auf der verlassenen Erde an? Ach, daß mich mein Vater Prometheus die Kunst gelehrt

hätte, Menschen zu erschaffen und geformtem Tone Geist einzugießen!« So sprach er, und das

verlassene Paar fing an zu weinen; dann warfen sie vor einem halb zerstörten Altar der Göttin Themis

sich auf die Knie nieder und begannen zu der Himmlischen zu flehen: »Sag uns an, o Göttin, durch

welche Kunst stellen wir unser untergegangenes Menschengeschlecht wieder her? O hilf der

versunkenen Welt wieder zum Leben!«

»Verlasset meinen Altar«, tönte die Stimme der Göttin, »umschleiert euer Haupt, löset eure

gegürteten Glieder und werfet die Gebeine eurer Mutter hinter den Rücken.«

Lange verwunderten sich beide über diesen rätselhaften Götterspruch. Pyrrha brach zuerst das

Schweigen. »Verzeih mir, hohe Göttin«, sprach sie, »wenn ich zusammenschaudre, wenn ich dir nicht

gehorsame und meiner Mutter Schatten nicht durch Zerstreuung ihrer Gebeine kränken will!« Aber

dem Deukalion fuhr es durch den Geist wie ein Lichtstrahl. Er beruhigte seine Gattin mit dem

freundlichen Worte: »Entweder trügt mich mein Scharfsinn, oder die Worte der Götter sind fromm

und verbergen keinen Frevel! Unsere große Mutter, das ist die Erde, ihre Knochen sind die Steine;

und diese, Pyrrha, sollen wir hinter uns werfen!«

Beide mißtrauten indessen dieser Deutung noch lange. Jedoch, was schadet die Probe, dachten sie.

So gingen sie denn seitwärts, verhüllten ihr Haupt, entgürteten ihre Kleider und warfen, wie ihnen

befohlen war, die Steine hinter sich. Da ereignete sich ein großes Wunder: das Gestein begann seine

Härtigkeit und Spröde abzulegen, wurde geschmeidig, wuchs, gewann eine Gestalt; menschliche

Formen traten an ihm hervor, doch noch nicht deutlich, sondern rohen Gebilden oder einer in

Marmor vom Künstler erst aus dem Groben herausgemeißelten Figur ähnlich. Was jedoch an den

Steinen Feuchtes oder Erdichtes war, das wurde zu Fleisch an dem Körper; das Unbeugsame, Feste

ward in Knochen verwandelt; das Geäder in den Steinen blieb Geäder. So gewannen mit Hilfe der

Götter in kurzer Frist die vom Manne geworfenen Steine männliche Bildung, die vom Weibe

geworfenen weibliche.

Diesen seinen Ursprung verleugnet das menschliche Geschlecht nicht, es ist ein hartes Geschlecht

und tauglich zur Arbeit. Jeden Augenblick erinnert es daran, aus welchem Stamm es erwachsen ist.

Io

Inachos, der uralte Stammfürst und König der Pelasger, hatte eine bildschöne Tochter mit Namen Io.

Auf sie war der Blick des Zeus, des olympischen Herrschers, gefallen, als sie auf der Wiese von Lerna

der Herden ihres Vaters pflegte. Der Gott ward von Liebe zu ihr entzündet, trat zu ihr in

Menschengestalt und fing an, sie mit verführerischen Schmeichelworten zu versuchen: »O Jungfrau,

glücklich ist, der dich besitzen wird; doch ist kein Sterblicher deiner wert, und du verdientest des

höchsten Gottes Braut zu sein! Wisse denn, ich bin Zeus. Fliehe nicht vor mir. Die Hitze des Mittags

brennt heiß. Tritt mit mir in den Schatten des erhabenen Haines, der uns dort zur Linken in seine

Kühle einlädt; was machst du dir in der Glut des Tages zu schaffen? Fürchte dich doch nicht, den

dunklen Wald und die Schluchten, in welchen das Wild hauset, zu betreten. Bin doch ich da, dich zu

schirmen, der Gott, der den Zepter des Himmels führt und die zackigen Blitze über den Erdboden

versendet.« Aber die Jungfrau floh vor dem Versucher mit eiligen Schritten, und sie wäre ihm auf den

Flügeln der Angst entkommen, wenn der verfolgende Gott seine Macht nicht mißbraucht und das

ganze Land in Finsternis gehüllt hätte. Rings umqualmte die Fliehende der Nebel, und bald waren

ihre Schritte gehemmt durch die Furcht, an einen Felsen zu rennen oder in einen Fluß zu stürzen. So

kam die unglückliche Io in die Gewalt des Gottes.

Hera, die Göttermutter, war längst an die Treulosigkeit ihres Gatten gewöhnt, der sich von ihrer

Liebe ab‐ und den Töchtern der Halbgötter und der Sterblichen zuwandte; aber sie vermochte ihren

Zorn und ihre Eifersucht nicht zu bändigen, und mit immer wachem Mißtrauen beobachtete sie alle

Schritte des Gottes auf der Erde. So schaute sie auch jetzt gerade auf die Gegenden hernieder, wo ihr

Gemahl ohne ihr Wissen wandelte. Zu ihrem großen Erstaunen bemerkte sie plötzlich, wie der

heitere Tag auf einer Stelle durch nächtlichen Nebel getrübt wurde und wie dieser weder einem

Strome noch dem dunstigen Boden entsteige, noch sonst von einer natürlichen Ursache herrühre. Da

kam ihr schnell ein Gedanke an die Untreue ihres Gatten; sie spähte rings durch den Olymp und sah

ihn nicht. »Entweder ich täusche mich«, sprach sie ergrimmt zu sich selbst, »oder ich werde von

meinem Gatten schnöde gekränkt!« Und nun fuhr sie auf einer Wolke vom hohen Äther zur Erde

hernieder und gebot dem Nebel, der den Entführer mit seiner Beute umschlossen hielt, zu weichen.

Zeus hatte die Ankunft seiner Gemahlin geahnt, und um seine Geliebte ihrer Rache zu entziehen,

verwandelte er die schöne Tochter des Inachos schnell in eine schmucke, schneeweiße Kuh. Aber

auch so war die Holdselige noch schön geblieben. Hera, welche die List ihres Gemahls alsbald

durchschaut hatte, pries das stattliche Tier und fragte, als wüßte sie nichts von der Wahrheit, wem

die Kuh gehöre, von wannen und welcherlei Zucht sie sei. Zeus, in der Not und um sie von weiterer

Nachfrage abzuschrecken, nahm seine Zuflucht zu einer Lüge und gab vor, die Kuh entstamme der

Erde. Hera gab sich damit zufrieden, aber sie bat sich das schöne Tier von ihrem Gemahl zum

Geschenke aus. Was sollte der betrogene Betrüger machen? Gibt er die Kuh her, so wird er seiner

Geliebten verlustig; verweigert er sie, so erregt er erst recht den Verdacht seiner Gemahlin, welche

der Unglücklichen dann rasches Verderben senden wird! So entschloß er sich denn, für den

Augenblick auf die Jungfrau zu verzichten, und schenkte die schimmernde Kuh, die er noch immer für

unentdeckt hielt, seiner Gemahlin. Hera knüpfte, scheinbar beglückt durch die Gabe, dem schönen

Tier ein Band um den Hals und führte die Unselige, der ein verzweifelndes Menschenherz unter der

Tiergestalt schlug, im Triumphe davon. Doch machte der Göttin dieser Diebstahl selbst Angst, und sie

ruhte nicht, bis sie ihre Nebenbuhlerin der sichersten Hut überantwortet hatte. Daher suchte sie den

Argos, den Sohn des Arestor, auf, ein Ungetüm, das ihr zu diesem Dienste besonders geeignet schien.

Denn Argos hatte hundert Augen im Kopfe, von denen nur ein Paar abwechslungsweise sich schloß

und der Ruhe ergab, während die übrigen alle, über Vorder‐ und Hinterhaupt wie funkelnde Sterne

zerstreut, auf ihrem Posten ausharrten. Diesen gab Hera der armen Io zum Wächter, damit ihr

Gemahl Zeus die entrissene Geliebte nicht entführen könne. Unter seinen hundert Augen durfte Io,

die Kuh, des Tags über auf einer fetten Trift weiden; Argos aber stand in der Nähe, und wo er sich

immer hinstellen mochte, erblickte er die ihm Anvertraute; auch wenn er sich abwandte und ihr das

Hinterhaupt zukehrte, hatte er Io vor Augen. Wenn aber die Sonne untergegangen war, schloß er sie

ein und belastete den Hals der Unglückseligen mit Ketten; bittre Kräuter und Baumlaub waren ihre