Schwarzwalddavos

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Z serii: Lindemanns #214
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Ich sah Zweifel in Hopes hübschem Gesicht. Dr. Walther stieg in den Schlitten und machte es sich in den Decken bequem. Auf dem Kopf trug er eine dicke Fellmütze. Er steckte sich eine Zigarre an und sah ganz wie ein Gutsherr aus. Ich bin sicher, Gabriel, der Polizist, stand irgendwo und notierte alles, was geschah.

„Fahr los, Frieder!“, rief Dr. Walther, „du kennst den Weg!“ Ich gab Moritz das Kommando und er zog an. Dr. Walther winkte Hope zu, bis wir hinter einer Biegung verschwunden waren.

Natürlich kannte ich den Weg. Später bin ich noch oft zwischen Brandeck und Kolonie hin- und hergefahren, aber es war nie wieder so wie an diesem Tag!

Als wir am Gasthaus Anker ankamen, wurden wir schon erwartet. Der Altwirt Erdrich stand vor der Tür. Er trug einen dicken Mantel mit Pelzkragen und hatte einen Zylinder auf dem Kopf. „Guten Tag, Herr Doktor“, begrüßte er uns. „Wollt Ihr das Gasthaus sehen, bevor Ihr es kauft?“

Dr. Walther schälte sich aus den Decken und ließ sich viel Zeit dabei, dann stieg er aus, gab Erdrich die Hand und antwortete erst dann: „Natürlich will ich es sehen. Der Zustand des Gebäudes entscheidet über den Preis.“

Ich sah, wie Erdrich zusammenzuckte, denn ihm standen harte Verhandlungen bevor. Die beiden Männer gingen zum Gasthaus hoch, um sich alles anzusehen. Die Tür knarrte immer noch, ließ sich aber leichter öffnen. Ich versorgte Moritz und wartete.

Es dauerte lange, bis sich die Tür wieder öffnete. Erdrich wirkte ganz verändert und hatte seinen Zylinder vergessen. Sein Gesicht war gerötet. „Ihr kauft alles?“, keuchte er, „auch die Säge? Seht nur, das Mühlrad ist noch ganz in Ordnung. Wenn im Frühjahr die Nordrach zu Tal schießt, dann schafft die Säge mehr als zwei Männer an einem Tag arbeiten können. Aber Ihr wollt gar nicht sägen, Ihr wollt mit dem Wasser Strom erzeugen? Das hat es in ganz Nordrach bisher noch nicht gegeben. Kauft Ihr die Säge zusätzlich zum Anker?“

„Ja“, antwortete der Dr. Walther. „Ich kaufe das ganze Anwesen und alle Wasserrechte. Wir sehen uns in zwei Tagen beim Bürgermeister in Nordrach.“

Sie gaben sich die Hand und der Doktor stieg in den Schlitten.

„Wir fahren heim, Frieder. Das Gasthaus Anker gehört nun mir. Was sagst du dazu?“

Ich wartete, bis wieder Zigarrenrauch zu mir herüberkam. „Ich bin glücklich“, antwortete ich dann.

„Weißt du noch, wie wir uns kennen gelernt haben, Frieder?“

„Natürlich“, antwortete ich.

„Inzwischen bist du Kutscher geworden“, sagte Doktor Walther. „Warte nur ab, die alte Fabrik kaufe ich auch noch!“

Zwei Tage später fuhren wir zum Rathaus. Diesmal zog uns Max. Dr. Walther trug einen Zylinder wie die feinen Herren aus der Stadt. Er wusste, dass er dem Dorf etwas zu reden geben würde.

Wir hielten am Rathaus. „Frieder, du kannst in die Stube gehen“, sagte Dr. Walther „Der Amtskram wird lange dauern.“

Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, versorgte das Pferd und ging in das Gasthaus, das neben dem Rathaus an der Straße lag.

Drinnen war dichter Rauch und lautes Stimmengewirr, aber alles wurde ganz still, als ich eintrat.

„Grüß Gott“, sagte ich und setzte mich an einen Tisch in der Ecke. Niemand nahm mir meinen Gruß ab. Die Kellnerin kam zu mir und ich bestellte einen Roten.

„Der Frieder hat Geld“, sagte jemand.

„Ist ja auch Kutscher!“

„Bei den Sozis auf dem Brandeck.“

„Der Doktor soll den Anker gekauft haben ...“

„Und die Säge dazu!“, wusste ein Mann zu berichten.

„Will Lungenkranke zu uns bringen ...“, meinte ein anderer.

„Darf man das?“

„Nicht in das Dorf. Er holt sie in die Kolonie!“ Gelächter folgte. „Er will eine große Klinik aufbauen. Das wird Geld bringen, denn viele Menschen brauchen auch viel essen.“

„Ob er bei uns kaufen wird?“

„Wenn wir schweigen können“, antwortete jemand. „Er kauft doch nur bei verschwiegenen Bauersleuten.“

„Die Polizei hat ein Auge auf ihn!“

„Aber er hat Geld!“

„Woher eigentlich? Keiner darf den Sozialdemokraten einen Kredit geben.“

„Von einem Juden?“

„Vom Ausland?“

„Jedenfalls hat er Geld!“

„Er soll nicht in die Kirche gehen!“

„Aber er hat Geld.“

„Er mag nicht, dass man über ihn redet. Dann sind wir eben verschwiegene Nordracher.“

In diesem Moment kam Dr. Walther herein und gab der Kellnerin eine Münze.

„Grüß Gott, Herr Doktor!“, riefen alle im Chor.

„Guten Tag“, antwortete Dr. Walther und zu mir gewandt, forderte er mich auf: „Komm, Frieder!“

Ich stand auf und folgte ihm. „Wir sagen nix!“, flüsterte mir jemand zu.

Ich richtete schnell das Geschirr und den Schlitten. Dr. Walther stieg schon ein. Bürgermeister Mathias Gißler kam selbst noch einmal aus dem Rathaus: „Wir freuen uns, Sie als Bürger von Nordrach begrüßen zu dürfen.“

„Ich gehöre nicht zu Ihrem Dorf“, sagte Dr. Walther ablehnend. „Ich gehöre nun in die Kolonie Nordrach und mein Ansprechpartner ist Stabhalter Schnurr, wie Sie wissen, und das ist gut so! Frieder, abfahren!“

Ich gab Max die Zügel und er zog an. Der Bürgermeister und einige Männer standen ein bisschen ratlos an der Straße, als ich wendete und wir an ihnen vorbeifuhren. „Die Kolonie ...“ hörte ich noch. „Ab heute ist Nordrach ein verschwiegenes Dorf“, sagte Dr. Walther und lachte, dass es von den verschneiten Tannen widerhallte.

Wir fuhren nun fast jeden Tag zur Kolonie. Dr. Walther vergab Aufträge an Sägewerke, Zimmerleute und Maurer, auch meine Verwandten kamen nicht zu kurz und ich freute mich sehr darüber. Stets wartete ich im Schlitten, wenn er in die Häuser ging, um Verhandlungen zu führen. Wenn er wiederkam, dann immer in Begleitung der Handwerker, die sich tief verbeugten vor dem gnädigen Herrn und die gnädige Frau grüßen ließen. Wenn wir abfuhren, sah ich so manchen Mann dastehen und sich vor Freude die Hände reiben. Die Handwerker aus Nordrach, aber auch aus dem weiteren Umfeld kamen manchmal zu uns ins Brandeck und sogar Ingenieure aus Offenburg und Straßburg. Dann war die große Stube voller Rauch, Pläne lagen auf den Tischen und die Herren diskutierten angeregt. Das waren die Tage, an denen wir Bediensteten in der Küche aßen und die feinen Herrschaften unter sich waren. Heinz war dann lieber bei mir und den Pferden im Stall. „Vater hat immer so viel zu tun“, beklagte er sich. „Er hat einfach keine Zeit mehr, mit uns zu spielen, wie er es früher getan hat.“ „Dein Vater plant etwas Großartiges“, sagte ich. „Du kannst stolz auf deine Eltern sein. Sie wollen kranken Menschen helfen und die Welt ein wenig besser machen. Das ist viel Arbeit.“

„Freust du dich, Frieder, dass Vater das Gasthaus Anker gekauft hat?“, fragte Heinz.

„Oh, ja“, bestätigte ich.

„Ist die Kolonie nur ein ganz kleines Dorf?“, fragte Heinz.

„Aber wunderschön“, entgegnete ich. „Es wird dir gefallen. Man kann dort herrlich spielen.“

Das Frühjahr kam und in der Kolonie arbeiteten die Handwerker. Wir mussten nicht mehr so oft hinfahren. Eines Tages hielt eine feine Kutsche vor der Villa Strehlen. Der Kutscher trug einen Zylinder und sein Gehilfe sprang vom Kutschbock, um den Damen beim Aussteigen behilflich zu sein.

Als Dr. Walther die Kutsche sah, pfiff er, dass es durch das ganze Brandeck hallte. Wir wussten, was das zu bedeuten hatte, und stellten uns gleich am Hauseingang auf. Martin, der Hausdiener, Martha die Köchin, die Küchenhilfen, der Gärtner, Helene, das Kindermädchen, und natürlich auch ich.

Dr. Walther und Hope begrüßten die Gäste. Hope kannte die vier Damen aus England persönlich und begrüßte sie herzlich. Sie sprachen englisch und ich verstand kein Wort, nur so viel, dass die Damen erleichtert waren, endlich am Ziel zu sein und dass der Schwarzwald nicht der „Himalaja“ sei. Darüber schienen sie sehr froh zu sein. Es waren fein gekleidete Damen. Eine der jungen Frauen hatte eine sehr schmale Taille. Natürlich fiel das sofort auf und unsere Dienstboten bewunderten sie.

Die Frauen husteten immer wieder in ihre Taschentücher. Das kannten wir von unserer Frau Doktor ja auch schon. Man sah ihnen an, dass es ihnen nicht gut ging. Die Reise war wohl sehr anstrengend gewesen und sie waren „so happy, to be here!“

Sie gingen ins Haus und wir wieder an unsere Arbeit. Ich sah noch, wie Martin dem Kutscher und dem Gehilfen je ein Bier anbot, aber die beiden Männer lehnten dankend ab.

„Sozis!“, hörte ich sie sagen – und ich wusste genau, was sie meinten.

So zogen unsere ersten zahlenden Gäste in die Villa Strehlen ein. Wir selber hatten wenig mit ihnen zu tun, aber Martha musste natürlich erheblich mehr arbeiten. Die Mahlzeiten nahmen wir weiterhin alle gemeinsam ein. Dr. Walther legte ganz großen Wert darauf. Nun saßen Dr. Walther, Hope mit Mara, Heinz und Helene am großen Familientisch mit den Gästen zusammen und wir an einem gesonderten Tisch, aber wir bekamen alle das gleiche Essen aufgetragen. Unsere Mädchen aus der Küche servierten. Das war den Engländerinnen sehr fremd. Scarlett fand es nice, Jeanette aber shocking.

Überhaupt waren die Reaktionen der jungen Frauen auf unser Gemeinschaftsleben in der Villa Strehlen sehr unterschiedlich. Scarlett konnte schon etwas Deutsch und sprach gern mit uns Angestellten. Sie war bald überall sehr beliebt. Jeanette hatte größte Schwierigkeiten, sich in die Hausordnung einzufügen. Sie aß wie ein Spatz und beschwerte sich immer wieder darüber, dass sie ihr enges Mieder hatte ablegen müssen. Hope wies bei Tisch noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass der Brustkorb nicht eingeengt werden dürfe, da die „Lunge frei atmen können müsse!“ „Wir Frauen machen uns krank!“, betonte sie. „Wir unterwerfen uns einer ungesunden Mode. Eine Lunge, die zu wenig Sauerstoff bekommt, kann nicht gesunden.“ Jeanette bekam daraufhin einen furchtbaren Hustenanfall und konnte sich gar nicht beruhigen. Soweit ich verstand, hatte sie Angst, ihr Mann würde sie nicht mehr mögen, wenn sie ihre schlanke Taille verlieren würde. Ich verstand ihre Sorge, denn sie würde sich verändern, wenn sie sich unseren Lebensgewohnheiten anpassen musste. Hope war klein und schlank, auch wenn sie gut aß, aber sie hatte nicht diese geschnürte Figur. „Eine Frau braucht einen gesunden Körper“, meinte Hope, „und ein Frauenkörper ist nun einmal ganz anders, als die Mode es vorschreibt.“ Wir haben alle auf den Tisch geklopft um zu zeigen, dass wir genauso dachten.

 

Später hingen die Mieder draußen auf der Wäscheleine und wir haben uns heimlich angesehen, was für Folterwerkzeuge das sind. Unsere Mädchen waren sehr interessiert daran, aber natürlich haben auch wir Männer einen Blick riskiert.

Claire und Vivian sagten kaum etwas. Die brünette Vivian war am schwersten erkrankt. Sie lag oft draußen auf dem Ruhebett und schlief. Die blonde Claire las viel und beschwerte sich darüber, dass wir so wenige Bücher hatten. Hope besaß viel Fachliteratur, aber schöne Literatur, wie sie es nannte, fehlte. Scarlett wagte sich sogar einmal zu mir in den Stall, um die Tiere zu streicheln. Heinz und Helene, mit Mara auf dem Arm, waren auch gerade da und ich war ganz froh darüber, denn die Anwesenheit der hübschen Frau hätte mich sonst ganz verlegen gemacht.

„Ihr habt es hier oben wirklich schön“, sagte sie zu mir, „aber man muss lernen, in dieser Stille zu leben. Ich komme aus einer Großstadt und mir fehlen die Menschen, die Unterhaltung, das Theater und die Oper. Allein mit Ruhe und Stille werdet ihr nicht viele Gäste bekommen.“

„Wir machen Ausfahrten“, erklärte ich. „Dann spanne ich die Pferde ein und es geht mit der Kutsche durch Wald und Feld!“ Heinz meldete sich zu Wort. „Wir sind oft hier im Stall“, sagte er. „Mutter unterrichtet mich. Ich wäre lieber mit anderen Kindern zusammen.“

„Gehst du nicht in die Schule?“, fragte Scarlett.

„Nein“, erklärte Heinz. „Manchmal kommt das Nachbarkind Julia zu uns. Auch der Karl lernt bei Mutter und muss nur für die Prüfungen zur Schule. Er möchte das Abitur nachmachen.“

Da wurde Scarlett aber hellhörig und Heinz erzählte von dem Lederstrumpf, der sich im Wald so gut auskannte, sich unsichtbar machen konnte und der Polizei manchen Streich spielte.

„Da bin ich aber neugierig auf euren Lederstrumpf“, sagte Scarlett, ehe sie zurück ins Haus ging.

Lehmann war jedenfalls eine Sensation, als er endlich zurückkehrte. Er brachte neues Leben ins Haus und die jungen Frauen ganz schön durcheinander. Alle machten sich besonders fein, um bei ihm aufzufallen. Jeanette jammerte, dass sie ihr Mieder nicht anziehen durfte. Claire frisierte sich sehr sorgfältig und auch die schweigsame Vivian war nun öfter im Garten zu sehen. Nur Scarlett hörte seinen Erzählungen von Offenburg und seinen Reden über Marx und Lenin geduldig zu.

Dr. Walther erklärte den Damen, wie notwendig es sei, sich trotz der Krankheit viel zu bewegen, um die Lungen mit frischer Luft zu füllen. Von da an unternahmen sie mit Lehmann gern lange Spaziergänge. Aber wirklich wichtig nahm Lehmann die Frauen nicht. Ich sah, wie sehr er sich auch weiterhin um Hope bemühte und die wenigen Minuten genoss, in denen sie einmal allein waren.

Dr. Walther verkündete uns beim Essen, dass Lehmann sein Abitur mit Auszeichnung bestanden habe und jetzt als Verwalter der Klinik eingestellt worden sei. Natürlich gratulierten wir alle und waren neugierig, wie es nun weitergehen würde. „Ich muss für einige Zeit nach Nordrach gehen“, erklärte Dr. Walther, „um dort den Ausbau der neuen Klinik zu überwachen. In sechs bis acht Wochen werden wir umziehen können. Die ärztliche Behandlung überlasse ich meiner Frau.“ Unsere Engländerinnen bedauerten sehr, dass sie bis dahin nicht mehr bei uns sein würden, aber Scarlett versprach, nach ihrer Rückkehr viel vom schönen Schwarzwald zu erzählen.

Unsere Gäste erholten sich sehr gut und husteten deutlich weniger. Am besten schlug die Kur bei Jeanette an. Es war unglaublich, wie aus der empfindlichen jungen Frau, die so eng geschnürt war, dass sie kaum Luft bekam, eine Frau wurde, die viel wanderte, sich gern bewegte, fröhlich plauderte und lachte und sehr selbstbewusst geworden war. Sie stand oft vor dem Spiegel. „Mein Mann wird staunen“, sagte sie immer wieder und wir gaben ihr Recht. Sie hatte sich sehr zu ihrem Vorteil verändert. Sie war sicher, ein ganz neues Leben beginnen zu können. Vivian blieb empfindlich und kränklich, wollte aber trotzdem mit den anderen nach Hause zurückkehren. Claire erholte sich prächtig und Scarlett freute sich auf London.

Dann kam ein Brief für Scarlett. Der Postbote überreichte ihr das Schreiben persönlich. Ich arbeitete im Garten und Hope klopfte Vivian gerade auf der Terrasse den Rücken ab. Da schrie Scarlett auf und rannte weinend zu Hope. „Frau Doktor!“, rief sie schluchzend, „mein Mann lässt sich scheiden. Er will eine gesunde Frau. Aber ich bin doch jetzt gesund!“ Hope schlug Vivian vor, sich hinzulegen und stand auf. „Männer sind so“, sagte sie dann bitter. „Du bist nicht die erste Frau, die von einem Mann verlassen wird.“ Scarlett weinte bitterlich. Mir ging die Geschichte sehr zu Herzen. Scarlett hatte sich so sehr auf London gefreut und nun?

Als die Kutsche aus Offenburg kam, um die Engländerinnen zu holen, blieb Scarlett bei uns. Die Koffer wurden aufgeladen, während sich die jungen Frauen von jedem von uns verabschiedeten. Jeanette umarmte Lehmann, der ganz verlegen wurde, und bedankte sich sehr bei Hope, die ihr ein neues Leben geschenkt habe. Scarlett verabschiedete sich unter Tränen von ihren Freundinnen. „Ich bleibe hier“, sagte sie. „Vielleicht lasse ich mich hier zur Pflegerin ausbilden. Frau Doktor Hope braucht mich!“ Das war Erklärung genug und wir winkten unseren ersten Gästen lange nach, als die Kutsche den steilen Weg nach Ohlsbach hinunterfuhr.

Hope rief uns im großen Zimmer zusammen und hielt uns einen langen Vortrag. „Wir alle haben in der letzten Zeit viel gelernt“, sagte sie. „Wir wissen jetzt, wie wir mit Kranken umgehen können. Sie brauchen Ruhe und Schonung, aber auch viel Bewegung. Ihr habt gesehen, wie sehr sich Jeanette verändert hat. So sieht eine junge selbstbewusste Frau aus und nicht wie ein Modepüppchen. In der geplanten Klinik werden wir viele Gäste haben. 60 Betten sind vorgesehen. Wir werden ein großes Haus führen. Wer von euch begleitet uns nach Nordrach-Kolonie?“ Das kam überraschend. Natürlich meldete ich mich sofort. Die meisten zögerten. Martin hatte hier sein Zuhause, Martha ihre Küche und die anderen ...

„Überlegt es euch“, sagte Hope. „Der Umbau des Gasthauses wird noch einen oder mehrere Monate dauern. Wir haben Zeit, aber wir müssen uns auf die neuen Herausforderungen vorbereiten. Genosse Geck wird weiterhin die Villa Strehlen verwalten, denn natürlich bleibt sie als Haus der Sozialdemokraten erhalten!“

So war es auch. Die Arbeiten in der Kolonie zogen sich hin. Wir hörten davon, dass auch ein neues Haus gebaut werden sollte ... Noch einmal kamen Gäste aus England zum Brandeck und fuhren nach ihrer Heilung sehr zufrieden zurück in die Heimat.

Oberamtmann Rasina kontrollierte unsere Transporte und schickte manchen Wagen einfach zurück. Er ließ auch alle Zugänge nach Hinterohlsbach genau bewachen und hielt fest, welche Gäste uns besuchten. Dabei kam kaum noch jemand in das Haus auf dem Brandeck. Auch wenn man es nicht zeigte, so fürchtete man sich doch vor der Ansteckung mit TB, die eine schlimme Geißel geworden war. Sehr viele Arbeiter in den Fabriken fielen wegen Krankheit als Arbeitskräfte aus. „Es sind die Verhältnisse, welche unser Volk kaputt machen. Die Arbeits- und Wohnbedingungen müssen verbessert werden!“ Wie oft stand das im Vorwärts. Regelmäßig teilten wir die Zeitungen in Offenburg aus. Andere Genossen verteilten sie in den Betrieben, aber nichts geschah. Dr. Walther wusste von der Problematik und kannte auch Lösungen, etwa mit neuen Heilmethoden der Krankheit Herr zu werden, aber er war auf dem Brandeck zu weit fort und konnte seine Ideen nicht genügend bekannt machen.

Auch Hope litt darunter, dass sie den Frauen nicht helfen konnte. Nach den guten Erfahrungen bei der Behandlung der ersten Gäste schrieb sie lange Artikel gegen das Frauenmieder und die ungesunde Mode. Ihre Artikel wurden im British Medical Journal in England veröffentlicht und dort vielleicht mehr beachtet als in unserem Land, setzte sich doch der Verleger Mc Killian, der den Ausbau der Klinik in Nordrach mitfinanzierte, für ihre Ideen ein. Hope bildete Scarlett als Pflegerin aus. Scarlett trug jetzt auch das einfach geschnittene Reformkleid aus grauem Stoff und eine Schürze darüber. Sie half Hope und lernte schnell. Nur ihre Haare hatte sie weiterhin hochgesteckt, wie es der Mode entsprach.

Es wurde einfach Zeit, einen großen Schritt vorwärts zu gehen. So waren wir sehr froh, als der Doktor eines Tages angeritten kam und rief: „Kinder, wir ziehen um!“ Da brach ein Jubel los, auch wenn er uns alle als Kinder bezeichnet hatte. Aber in vielen Bereichen waren wir auch wie seine Kinder. „Es geht los!“, rief Hope, hob Mara hoch und drehte sich mit ihr im Kreis.

Die ärztliche Ausrüstung musste sorgfältig verpackt werden. Scarlett und Hope richteten die Koffer mit den Kindersachen und den Kleidern. „Wie gut, dass wir einfachere Kleider tragen“, meinte Scarlett lachend, als sie mir die Koffer zum Wagen brachte. „Mit der neuen Mode hätten wir die doppelte Anzahl Koffer gebraucht!“

Einzig Lehmann lief mürrisch herum. Dr. Walther hatte ganz klar von ihm erwartet, dass er nun seine Rechenkünste in den Dienst der Verwaltung stellen würde. Lehmann konnte sich nicht vorstellen, in einem Büro zu sitzen und einfacher Verwalter zu sein.

„Er hat dich das Abitur machen lassen“, mahnte Hope, „sei dankbar und arbeite wenigstens vorübergehend als Verwalter. Tu es für mich!“ Hopes Bitte reichte wohl, denn Lehmann brachte Kontobücher und Schreibzeug herbei und warf alles auf den Wagen. Ich hatte den größten Leiterwagen, den es im Bereich Brandeck gab, vor das Haus gefahren und dort abgestellt. So hatten wir einige Tage Zeit alles zu verstauen.

Adolf Geck war eigens aus Offenburg gekommen, um uns zu verabschieden. Mara wollte gleich auf seinen Arm und Geck nahm sie natürlich hoch. Heinz bat ihn, sie auch ja in Nordrach-Kolonie zu besuchen. „Dort habe ich ein eigenes Zimmer und Mama eine eigene Praxis“, berichtete Heinz voller Stolz.

„Sie wird unter meiner Leitung in Maßen praktizieren“, bestätigte Dr. Walther. „Wir werden alle Vorschriften einhalten, aber es wird leichter sein, denn wir haben dort einen vernünftigen Stabhalter und keinen verrückten Oberamtmann!“

„Ich habe davon gehört“, sagte Geck, „dass die Kolonie so etwas wie ein Niemandsland sein soll.“

„Das reizt mich am meisten“, antwortete Dr. Walther. „Ja, die Kolonie gehört weder zu Gengenbach noch zu Nordrach. Beide Gemeinden lehnen es ab, sich der armen Bevölkerung anzunehmen. Sie ist fast ein eigenes Staatsgebiet. Aber so kann ich dort etwas aufbauen, was niemanden etwas angeht und die Bevölkerung steht hinter uns.“

„Sind sie jetzt alle verschwiegene Bauersleute?“, fragte Geck lachend und fügte hinzu: „Ich werde euch vermissen, Otto. Am meisten natürlich Heinz und Mara.“

Den Kindern fiel der Abschied besonders schwer. „Nun lasst gut sein“, sagte Dr. Walther. „Wir sind ja nicht aus der Welt. Heinz, laufe mit Frieder, Max und Moritz holen. Helene, nimmst du die Mara? Es geht los!“

„Ja, Herr Doktor“, sagte ich und beeilte mich, in den Stall zu kommen. Heinz und Helene folgten mir. Heinz durfte Max herausführen und Mara sogar auf Moritz sitzen. Das Kindermädchen hielt sie und Mara war mächtig stolz. Ich schirrte die Pferde mit Hilfe unseres treuen Hausdieners Martin an und meldete Dr. Walther, dass alles bereit sei. Er ließ seinen bekannten Pfiff ertönen und Hope, Scarlett und Lehmann kamen aus dem Haus.

„Schon fertig?“, fragte Hope ganz erstaunt. „Der Wagen ist gepackt. Nehmt Platz! Wir verlassen das gastliche Heim! Adolf, von ganzem Herzen Dank für deine Gastfreundschaft. Es wäre so schön gewesen, die Klinik hier aufbauen zu können, aber es hat nicht sollen sein.“

Als wir uns verabschiedeten, schluchzte Martha und meinte eins ums andere Mal, dass sie einfach das Haus Strehlen nicht verlassen könne.

„Martha“, sagte Dr. Walther und nahm sie in die Arme, „wir sind ja nicht aus der Welt. Wir sehen uns sicher bald wieder.“ Dann stieg er auf den Bock, setzte sich neben mich, nahm diesmal die Leinen selber in die Hand und wollte losfahren. „Bremse auf!“, befahl er und ich drehte die Bremse auf. Da kam ein Reiter den steilen Weg von Ohlsbach hoch. Pferd und Reiter waren ganz außer Atem von dem schnellen Ritt. Wir staunten alle, als wir den Reiter erkannten.

 

„Herr Rasina“, sagte Dr. Walther, „Sie kommen gerade rechtzeitig. Wir verlassen Hinterohlsbach. Das wird Ihnen ja nur recht sein.“

„Ich bin gekommen, um Sie zu verabschieden“, erklärte Rasina und blieb auf dem Pferd sitzen. „Ja, ich hatte Bedenken, dass Sie hier eine Klinik für Lungenkranke bauen würden, aber man hört viel Positives über Ihre Arbeit. Der Frau Doktor geht es ja auch besser. Die reine Luft und das klare Wasser haben viel Gutes bewirkt.“

„Trotzdem sind Sie froh, dass wir gehen“, meinte Dr. Walther. Rasina rutschte auf dem Sattel hin und her.

„Wir passen nicht zusammen, Doktor“, sagte er dann. „Sehen Sie, Sie wollen Kranke herholen. Ich möchte die Auerhahnjagd erhalten. Sie wollen eine Klink, ich will ein Gasthaus. Ich unterstütze die Kirche und den Kaiser ...“

„Wir etwa nicht?“, fragte Dr. Walther ärgerlich. „Sind wir keine treuen Bürger, weil wir als Demokraten den Menschen eine Stimme geben wollen? Nein, wir passen wirklich nicht zusammen!“

„Deshalb ist es gut, dass Sie gehen. Ich bedanke mich für all die Unterstützung, die sie den Bauern zukommen ließen, auch bei Ihnen Frau Doktor für manchen guten Rat, den Sie den Leuten gegeben haben. Es war segensreich, was Sie taten.“

Hope wurde ganz rot vor lauter Erstaunen. „Es wundert mich, das aus Ihrem Munde zu hören“, sagte sie, „am Ende haben Sie doch mehr verstanden, als man meinte.“

„Die Zwänge der Gesellschaft lassen uns auf getrennten Ufern stehen, gnädige Frau. Deshalb kann es auch keine Brücken geben.“

„Sie meinen, wir seien Menschen, die man lieber nicht in seiner Nähe hat?“, fragte nun Lehmann. „Das könnten wir auch von Ihnen sagen! Wir sind Menschen, die keiner haben will, deshalb ziehen wir zu denen, die keiner haben will. Fahr zu, Frieder. Das Gespräch ist ja unerträglich.“

„Gott befohlen“, sagte Rasina, wendete sein Pferd und ritt in raschem Trab nach Ohlsbach hinunter.

„Auf zur Kolonie!“, rief Dr. Walther und klopfte Max mit der Peitsche auf den breiten Rücken. Max und Moritz zogen an und wir jubelten, dass es von den Wäldern widerhallte. Geck stand noch lange an seinem Haus und winkte uns nach.

Ein neuer Anfang

Als wir über den Mooskopf hinüber waren, ließ Dr. Walther anhalten. Er zog die Leinen an und gab sie mir. Dann wandte er sich nach hinten und forderte uns auf, einmal stille zu sein. Wir lauschten und hörten die Wälder rauschen, aber darin war noch ein anderer Laut zu hören: Ein Wildbach stürzte tosend die Felsen hinunter. „Das ist ein Quellbach der Nordrach!“, erklärte Dr. Walther. „Sie ist der wichtigste Teil unseres Vorhabens, denn sie liefert uns frisches Wasser zum Waschen und Trinken und hat noch viel mehr zu bieten!“ Er tat ganz geheimnisvoll und nickte mir zu weiterzufahren.

In leichten Serpentinen fuhren wir ins Tal hinunter. „Hier fließen der Klausenbach und der Dörrenbach zusammen und bilden die Nordrach. Gleich seht ihr das Gasthaus Anker!“, sagte Dr. Walther. Ein großes Schwarzwaldhaus kam in den Blick. Wunderschön leuchteten die Geranien an den Fenstern. An dem Haus war viel gearbeitet worden. Die Handwerker hatten es von Grund auf restauriert.

Ich fuhr bis zur Treppe. Die Stufen waren aus neuem Eichenholz! Männer und Frauen kamen heraus und stellten sich zur Begrüßung auf, wie wir es kannten. „Ich habe mir erlaubt, Personal einzustellen“, sagte Dr. Walther zu Hope. „Nur so konnten wir das Haus vorbereiten. Es ist natürlich deine Entscheidung, meine liebe Hope, wen wir behalten werden.“

Ich nickte dem einen oder anderen zu, denn ich erkannte auch Verwandte unter ihnen. Dr. Walther ging mit Hope die Reihe der Dienerschaft entlang und Hope begrüßte alle.

„Unser Genosse benimmt sich wie ein Gutsherr“, brummte Lehmann. „Was sagst du dazu, Frieder?“

„Ich finde es gut, dass die Leute Arbeit und Brot haben. Ihr kennt die Not auf den Höfen nicht, Genosse Lehmann“, antwortete ich.

„Mag sein“, sagte Lehmann. „Nun, ich bin der Verwalter und werde mich ihnen auch gleich vorstellen. Kommen Sie, Scarlett, Sie sind ja auch eine wichtige Person.“

Heinz und Helene waren bereits vom Wagen gesprungen. Scarlett nahm Mara an die Hand und sie liefen zum Haus hoch.

„Sie sind Frieder Spitzmüller?“, fragte jemand. Ich drehte mich um. Hinter mir stand ein Bursche in meinem Alter. „Ludwig Boschert“, stellte er sich vor. „Ich bin der Fuhrknecht“, sagte er.

„Genosse Frieder“, stellte ich mich vor.

„Ludwig.“ Nur Ludwig, aber damit war alles gesagt. Wir luden gemeinsam mit dem Gesinde alles ab. Dr. Walther zeigte seiner Frau das Haus und sie bestimmte, wo die Sachen hin sollten.

Wir schirrten Max und Moritz aus und brachten sie in den Stall. Der Stall war etwas abseits gebaut worden und hatte zunächst nur zwei Boxen, aber man sah, dass Platz zur Erweiterung vorgesehen war. Über die Nordrach gab es nur eine Holzbrücke. Der kleine Fluss rauschte wild ins Tal. Am Abend schoben wir alle gemeinsam den Leiterwagen in einen Schuppen. Dort standen eine offene Kutsche und sogar die schwarze Kutsche aus der alten Fabrik. Ich lief sofort hin und vergaß alles um mich herum. Die Kutsche hatte einen frischen Anstrich bekommen und neue Bezüge auf den Sitzen, sogar die Wagenräder waren neu beschlagen. Vor Freude wagte ich kaum zu atmen. Konnte das Wirklichkeit sein? Nachdem ich alles gesehen und berührt hatte und wusste, dass es kein Traum war, ging ich in den Stall zurück. Max und Moritz hatten gute Boxen, Ludwig warf ihnen gerade Heu vor. Ich nahm einen Eimer, ging an die Nordrach, füllte ihn mit dem klaren Wasser und tränkte die Pferde.

„Du bist der Kutscher, Frieder“, erklärte mir Ludwig, als ich die Pferde getränkt hatte. „Die schwarze Kutsche ist für dich.“

„Ja, das ist richtig“, sagte Dr. Walther von der Tür her. „Gefällt sie dir, Frieder? Mit der Kutsche wirst du unsere Patienten holen.“

Ich trat zu ihm und sagte: „Herr Doktor, ich freue mich sehr über meine Stellung und besonders über die Kutsche.“

Doktor Walther lachte und meinte: „Frieder, das ist erst der Anfang. Wir werden klein beginnen, aber in einem Jahr wollen wir hier sechzig Patienten versorgen. Hast du die Bauplätze für die neuen Häuser gesehen? Ich wollte euch nicht zu lange warten lassen, bis alles fertig ist, aber nach und nach entsteht hier eine große Siedlung. Hier werden viele kranke Menschen zu Gast sein und hoffentlich gesund wieder heimfahren.“ Ich staunte mit offenem Mund. „So große Pläne haben Sie, Herr Doktor?“

„So war es immer geplant, auch damals schon, als ich dich das erste Mal in der alten Fabrik traf. Das Gebäude der Glasfabrik steht noch. Bald werde ich es kaufen können. Darin sollen die Wäscherei und das Bügelzimmer untergebracht werden. Aus Amerika kommen zwei Waschmaschinen und ein Desinfektionsapparat.“

„Aus Amerika?“, fragte ich.

„Ja“, antwortete er. „Ich habe viele Pläne, die aber erst noch ausreifen müssen. Alles der Reihe nach. Bist du zufrieden, Frieder? Hast du dein Zimmer über dem Stall schon gesehen?“

Ich verneinte. Da kam Ludwig zu uns und schlug vor: „Ich zeige es ihm, Herr Doktor. Wir beide verstehen uns sehr gut.“

„Dann ist ja alles klar“, meinte Dr. Walther. „Wenn die Glocke läutet, gibt es Abendessen. Wie im Brandeck essen wir alle gemeinsam!“ Damit ließ er uns allein und natürlich stiegen wir sofort die Treppe hinten im Stall zu den Zimmern hoch.