Schwarzwalddavos

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Z serii: Lindemanns #214
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„Ja“, sagte ich. „Das ist eine meiner Aufgaben. Unsere Wiesen und Felder sind zu klein, um uns ernähren zu können.“

„Was sehen wir, meine Damen und Herren? Wir sind hier wegen der schönen Aussicht. Wir sind hier, weil wir nach Offenburg und Straßburg schauen und weil wir in die weite Welt sehen möchten. Wir wollen die Welt verändern und verbessern. Komm, Frieder, schau einmal!“ Er legte seinen Arm um meine Schultern und führte mich an eine Stelle, von der aus man ganz weit ins Land schauen konnte. „Da liegt Offenburg“, sagte er. „Siehst du die vielen Häuser und den Rauch, der aufsteigt? Dort liegen Fabriken und darin arbeiten Menschen. Von morgens bis abends müssen sie schuften und haben doch kaum genug Geld, um ihre Familien zu versorgen. Sie sehen die Sonne nicht und sie spüren nicht den Wind um die Nase. Sie kennen nur ihre Arbeit. Wir wollen, dass sie auch einmal in die Natur fahren können, dass sie auch einmal einen freien Tag haben, dass sie einmal durchatmen können.“

Ich wunderte mich sehr. „Die Menschen kommen nie heraus?“

„Nein“, sagte er. „Sie müssen arbeiten. Sie haben keine Zeit dafür.“

Ich sah ihn erstaunt an. „Ich muss auch arbeiten, von Sonnenaufgang bis zum Abend. Wenn die Sonne untergeht, dann essen wir, wenn der Garten etwas hergegeben hat.“

„Sonntags gehen wir gewöhnlich in die Kirche. Da gibt es ein wenig Ruhe, sagt Vater. Er schläft meist in der Kirche ein. Vielen passiert das so, wenn der Pfarrer lange predigt.“ Es war ganz still um uns geworden und die Männer und Frauen sahen mich betreten an. „Uns geht es sehr gut“, sagte Geck. „Ich glaube, manchmal sehen wir das gar nicht. Wir fühlen uns eingesperrt und verfolgt. Der junge Mann hat uns die Augen geöffnet. Wir sind frei, Genossen. Wir können in die Landschaft hinausfahren. Wir können über das Land schauen und müssen nicht so hart arbeiten, um leben zu können.“

„Wir sind Handwerker, Adolf, vergiss das nicht“, sagte ein junger Mann mit einem Schnauzer und einem Hut auf dem Kopf. „Wir haben uns kleine Betriebe aufgebaut. Unterschätzen wir nicht, was wir geleistet haben. Heute haben wir uns frei genommen, weil wir einen Grund haben zu feiern, aber sonst sind auch wir nur Rädchen in einem großen Getriebe.“

„Wenn das Kapital gerechter verteilt wäre, dann könnten alle Menschen besser leben, Anton Fendrich“, ereiferte sich Geck. „Nicht nur in Offenburg oder im Rheintal. In anderen Städten und Ländern wird der Arbeiter noch gnadenloser ausgebeutet. War es nicht in Frankfurt auch so? Bist du nicht deshalb Sozialdemokrat geworden, weil du die Ungerechtigkeiten in der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr ertragen hast, Otto?“

Dr. Walther antwortete sehr ernst: „In Frankfurt habe ich das Elend der Arbeiter gesehen. Hope ging in die Armenviertel. Wir haben viele Menschen umsonst behandelt, weil sie nicht bezahlen konnten. Ich bin Sozialdemokrat geworden und habe für den Stadtrat kandidiert, um den Armen eine Stimme zu geben. Dann wurde Hope krank und hatte keine andere Heilungschance als die Höhenkur, die Dr. Brehmer entwickelt hat. Er hatte bei einem Aufenthalt im Himalaya bemerkt, dass seine Tuberkulose ausheilte. Aus seinen Erfahrungen hat er die Höhenkur entwickelt und bietet jetzt in der Schweiz Kuren in den Bergen an. Aber so weit konnten wir nicht fahren. Hier sind wir auf 900 Meter Höhe. Das Klima ist gut. Wie gerne würde ich in dieser Gegend eine Klinik aufbauen und Menschen gesund werden lassen. Ja, die bürgerliche Gesellschaft ist ungerecht. Sie gibt dem Erfolgreichen Recht und vergisst die Vielen, die unter die Räder kommen.“

„Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!“, zitierte Adolf. „Die Weltrevolution, die Gründung der Internationalen ist wichtig, dann kann uns ein einzelner Kanzler nicht mehr stoppen.“

„Ich bin Ärztin geworden, um den Menschen zu helfen“, erklärte Hope. „Menschen gibt es überall, ob auf den Höhenhöfen des Schwarzwaldes, wo sie mit der Natur leben, wie uns Frieder erklärt hat, oder als Arbeiter in der Stadt. Es geht nur um den Menschen, ob Mann oder Frau.“ Sie hustete wieder heftig und hielt sich das Taschentuch vor den Mund.

„Auch mir geht es um den Menschen“, bestätigte ein kleiner Mann mit dicker Brille. „Ich bin nur ein kleiner Schneidermeister, aber ich bezahle meine Angestellten angemessen. Ist es da so schlimm, dass ich auch verdiene, weil ich meine Waren gut absetzen kann? Als Unternehmer ist man das Pferd, das den Wagen zieht. Auch das müssen die Menschen verstehen. Ohne uns kann die Wirtschaft nicht gedeihen. Mir geht es besonders um das Stimmrecht. Ich möchte mitreden dürfen. Aber da verwehrt man uns die Grundrechte. Deshalb bin ich Sozialdemokrat. Ich verstehe den Bismarck nicht. Warum wehrt er sich so sehr gegen die Menschenrechte?“

„Wir wissen, wie du dich einsetzt, Alfred“, sagte Adolf. „Meine Unterstützung hast du, denn wir müssen zusammenhalten, gerade jetzt, wo Bismark die Sozialistengesetze erlassen hat. Plötzlich werden wir von der Polizei beobachtet und verfemt. Mich ärgert das gewaltig und deshalb komme ich gern nach Hinterohlsbach. Auch wegen der guten Luft, Genossen, auch deswegen! Man müsste den Menschen beibringen, dass sie auch in die Natur gehen müssen. Nur dort kann man gesunden. Seht euch die Bauern an, die in der Natur leben. Sie sind nicht krank.“

„Doch“, widersprach ich, „natürlich sind wir auch manchmal krank. Dann nehmen wir die Heilmittel aus der Natur.“ Hope hustete und ein Mann unter den Genossen hustete auch. „Wir kennen auch ‚den weißen Tod‘, der Tiere und Menschen befällt“, fuhr ich fort. Hope erschrak, als ich die Krankheit beim Namen nannte.

„Man kennt die Tuberkulose auch hier?“, fragte sie.

„Sie ist überall, wo die Luft nicht sauber ist, wo es Staub und Schmutz gibt, wo die Luft voller Rauch ist, wo es an Wasser und Hygiene fehlt“, erklärte Dr. Walther. „Ich habe das Haus von unserem Frieder gesehen. Es ist ein einfaches Rauchhaus, wie es im Schwarzwald viele gibt, aber seine Eltern sind rechte Leute. Zur Heilung der TB ist neben frischer Luft auch gutes Essen notwendig. Frische Luft haben wir genug jetzt gehabt. Gehen wir zu unseren ‚verschwiegenen Bauersleuten‘ und vespern dort! Wir leben hier in Hinterohlsbach in einer wunderschönen Gegend und da sind wir sicher.“

„Die Polizei beobachtet uns auch hier“, warnte Anton. „Hinter jedem Baum kann ein Polizist stehen.“ Geck lachte. „Dazu gibt es hier zu viele Bäume!“ Ich bewunderte, wie er immer wieder eine fröhliche Stimmung bringen konnte.

Wir gingen zum Wagen zurück.

„Was hat Karl Lehmann, unser Naturbursche, vor?“, fragte jemand. „Er bringt den Vorwärts und den Sozialdemokraten zum Brandeck, damit wir uns informieren können, aber auch damit wir einige Zeitungen verteilen können, um die Polizei irre zu führen. Wenn ihr nach Offenburg und in eure Heimatstädte zurückkehrt, dann nehmt Zeitungen mit und verteilt sie. Nur so können wir die Gedanken der Sozialdemokratie verbreiten. Es lebe die Sozialdemokratie!“ Er rief den letzten Satz und reckte dabei die Faust in die Höhe. Begeistert stimmten die anderen mit ein. Auch ich ließ mich mitreißen und hielt die Faust hoch.

Als ich wieder auf dem Bock saß, fragte mich Kurt: „So bist du nun auch einer von ihnen?“ Er zeigte mit dem Kopf nach hinten zum Wagen. „Ich weiß es nicht“, antwortete ich. „Sie mögen mich und sie nehmen mich so, wie ich bin.“

„Es sind reiche Leute“, sprach Kurt ganz leise weiter. „Irre dich nicht, wir sind kleine Leute. Sie kämpfen für uns, aber wir gehören nicht zu ihnen.“

Die Pferde zogen an, Hope und der Mann husteten, die anderen lachten und redeten durcheinander, unsere Pferde kannten den Weg und ich war restlos glücklich. „Möchtest du einmal die Leinen halten?“ Ich nickte ganz begeistert. Er gab mir die Lederbänder in die Hand und zeigte mir, wie man sie hält. „Wir fahren nach dem Achenbach’schen Fahrsystem. Bei der Grundhaltung liegt die linke Leine über dem Zeigefinger der linken Hand, die rechte Leine liegt zwischen Mittel- und Zeigefinger der linken Hand, beide Enden nach unten durchhängend. Die drei unteren Finger der linken Hand schließen fest um die beiden Leinen. Daumen und Zeigefinger sind leicht geöffnet. Die linke Faust steht senkrecht, etwa eine Handbreit von der Leibesmitte, so dass der Ober- und Unterarm einen rechten Winkel bilden. Das überhängende Ende der Leine hängt außen am linken Oberschenkel herunter. Die volle rechte Hand umfasst die Peitsche etwa 10 bis 15 cm über dem Stockende und steht eine Handbreit neben der Linken. Die Peitschenspitze zeigt dabei nach links, vorwärts aufwärts. Der Fahrer sitzt aufrecht auf dem Bock. Die Blickrichtung ist frei geradeaus. Die Hacken der Füße sind zusammengenommen, die Fußspitzen so weit auseinander, dass sie einen halben rechten Winkel bilden und die Knie leicht geöffnet sind. Die Leinenhaltung in der linken Hand wird nie aufgegeben!“, erklärte er mir. „Die Leinen dürfen dir nicht aus der Hand rutschen. Ziehst du nach rechts, dann gehen die Pferde nach rechts, ziehst du nach links, dann gehen sie nach links.“

Ich schlang die Leinen um meine Hand, wie er es mir erklärt hatte. Kurt korrigierte immer wieder, bis ich die Leinen richtig hielt. Sie lagen ganz locker in meinen Händen, aber dann war die Versuchung doch zu groß und ich zog ein bisschen nach rechts. Das blonde Pferd ging brav nach rechts auf den Waldrand zu, das schwarze zögerte und lenkte den Wagen auf die Straße zurück.

Kurt lachte. „Siehst du“, sagte er, „die Pferde denken mit. Sie kennen die Wege und gehorchen nicht blind einem Befehl.“

„Das kenne ich“, bestätigte ich, „auch unsere Kühe wissen genau, was sie wollen. Manchmal muss man sie überreden, wenn man sie vor dem Pflug hat.“

„Dann kennst du dich ja schon ein wenig aus. Gib mir die Leinen zurück, denn jetzt geht es bergab und da muss ich den Pferden Hilfen geben.“ Ungern gab ich die Leinen ab und schwor mir, dass ich unbedingt Kutscher werden würde. Bestimmt gab es eine Möglichkeit, wenn Dr. Walther erst die Fabrik gekauft hatte.

 

„Hope, hast du an unsere Freunde in London geschrieben und ihnen erzählt, wie herrlich es hier ist?“, fragte Dr. Walther seine Frau.

„Ja, Otto“, antwortete sie, „ich weiß doch wie wichtig es ist, dass wir Gäste bekommen, die hier im Schwarzwald gesund werden wollen. Ich finde deine Ideen großartig.“

„Von überall sollen sie kommen“, ereiferte sich Geck. „Nur so können wir die Idee der Internationalen voranbringen, gerade in einer Zeit, in der das nationale Denken so zunimmt. Es stimmt mich schon bedenklich, wie sehr unser neues Deutsches Reich in der internationalen Politik mitmischen will. Wir sind ein ganz junges Reich, das sollten wir nicht vergessen.“

„In Frankreich sieht man es mit Sorge“, sagte Anton. „Wir erleben das hier im Grenzgebiet deutlicher als die Herren in Berlin.“

Wir fuhren den Berg hinunter und ich war doch sehr erstaunt, als wir den Bauernhof ansteuerten, auf dem ich nach dem Weg gefragt hatte. Mit großer Selbstverständlichkeit fuhr Kurt in den weiten Innenhof, wo der alte Mann nun auf einer Bank saß. Er schien zu schlafen, aber als er die Pferde hörte, kam Leben in ihn und er lief schneller zu uns, als ich ihm das zugetraut hätte. „Wollen die Herrschaften bei uns einkehren?“, fragte er und sah mit listigen Augen auf die feine Gesellschaft auf dem Wagen.

„Aber Johann, wir sind es doch“, rief Geck. „Sag dem Bauern Bescheid, dass wir hier sind.“

„Ach der Sozi – Geck“, stammelte der Alte. „Nein, ich sage nichts der Polizei. Ich sage nichts!“

„So viel zum Thema verschwiegene Bauersleute. Lasst uns reingehen! Wir wollen feiern!“ Er sprang vom Wagen und alle stiegen aus. Die Bauersfrau und der Bauer traten aus dem Haus, scheuchten Mägde und Kinder an die Arbeit und begrüßten uns.

„Wir freuen uns, dass die Herrschaften uns beehren“, sagte der Bauer und verbeugte sich.

„Aber Genosse“, reklamierte Geck, „vor Genossen verbeugt man sich doch nicht. War die Polizei wieder da?“

Der Bauer und seine Frau wechselten einen schnellen Blick. „Nein, hier war niemand. Der Lehmann ist schon da. Die gewünschten Zeitungen sind im Stroh versteckt.“ Dann entdeckte sie mich und wurde für einen kurzen Augenblick verlegen.

„Danke, dass Euer Bub mich zum Brandeck geführt hat“, sagte ich fröhlich.

„Ihr habt einem Fremden den Weg gewiesen?“, fragte Geck. „Das ist aber nicht nach unserer Abmachung.“

„Der Bursche wollte zu Dr. Walther“, verteidigte sich die Frau, „da dachte ich, es sei schon in Ordnung, ihm zu helfen.“

„In dem Falle ja“, beruhigte sie Geck, „da habt Ihr recht gehandelt, aber seid vorsichtig mit dem, was Ihr sagt.“

„Wir sagen nichts“, stammelte der Alte.

„Dann gehen wir jetzt ins Haus“, schlug Geck vor, „denn wir haben ja etwas zu feiern.“

In der großen Stube war alles gerichtet. Die Mägde hatten sich wirklich sehr beeilt. Die Tische waren zusammengeschoben worden und in der Mitte stand ein Aschenkuchen, wie es ihn bei uns ganz selten gab. Dazu standen Gläser und einige Flaschen Wein bereit.

Wieder wurde eifrig diskutiert. Da kam auch Lehmann herein. Seine Lederkleidung war voller Stroh und in den Haaren hingen noch Blätter. Geck erhob sich sofort. „Karl, gab es Schwierigkeiten?“, fragte er. Lehmann verneinte. „Die Zeitungen waren bereits in Ohlsbach. Es gibt viele Leute, die unsere Sache unterstützen. Ich habe einen Stapel der Neuausgabe weitergegeben, damit sie in den kleinen Orten verteilt werden. Die Menschen müssen wissen, um was es geht. In Offenburg gibt es jetzt jeden Tag eine Militärparade. Jeder, der eine Uniform trägt, meint schon, er sei etwas Besonderes, es ist nicht auszuhalten. Mein Vater drängt, ich solle nach Offenburg zurückkommen.“ Er trat an den Tisch und stellte sich hinter den Stuhl von Hope. „Du kannst nicht immer Naturbursche bleiben“, sagte Geck, „wir sind ja nicht im Wilden Westen.“

„Vielleicht sollte ich tatsächlich auswandern. Dort in Amerika gibt es die Freiheit, die wir hier vergeblich suchen!“, antwortete Lehmann. Hope reichte ihm ein Glas Wein. Er bedankte sich, hob das Glas und sagte: „Auf die Freiheit!“ Den Trinkspruch nahm man gerne auf. „Auf die Freiheit!“

Begeistert hob auch ich mein Glas und sprach mit: „Auf die Freiheit!“

Als ich nach zwei Tagen auf den Hof zurückkam, fragte Vater, wo ich so lange geblieben sei. Mutter aber umarmte mich, als hätte sie nicht mehr damit gerechnet, mich je wiederzusehen. Dann beruhigte Vater sich und fragte: „Wird Dr. Walther die alte Fabrik kaufen?“

„Dr. Walther und seine Freunde sind reiche Leute“, erzählte ich, „sie setzen sich für die Rechte der Arbeiter ein und helfen den Armen und Kranken. Dr. Walther will eine Klinik aufbauen, in der Lungenkranke gesund werden sollen, denn seine Frau ist auch krank. Dazu braucht er viel Wasser. Der Ohlsbach führt nicht genug Wasser, aber unser Klausenbach und der Dörrenbach verfügen über genügend Wasser. Wo früher die Flößer gewohnt und das Wasser gestaut haben, dort will er seine Klinik bauen.“

„Am Gasthaus Anker hatten sie einen kleinen Stausee und unten im Tal einen ganz großen“, bestätigte Vater. „Das waren noch Zeiten, als die Flößer hier waren. Damals galt die Kolonie etwas. Aber sie sind alle fort. Man hat uns vergessen und will uns nicht. Niemand fragt, wie wir unser Leben hier fristen. Unsere Kinder sind fort und der Letzte, der uns geblieben war, lässt uns nun auch allein!“

Ich war zu lange in Ohlsbach und die beiden alten Leute waren wieder ins Grübeln gekommen. Ich setze mich an den Tisch, als sei nichts geschehen. „Mutter bring mir Brot und Milch! Ich habe Hunger!“, bat ich.

„Gib ihm Speck und einen Schnaps dazu“, sagte Vater und grinste. So kannte ich ihn: Erst schimpfen und dann die Katze aus dem Sack lassen! „Die alte Fabrik ist für eine Klinik nicht geeignet“, meinte er. „Mit dem Vogt habe ich gesprochen. Er schlägt vor, dass wir Dr. Walther das Gasthaus Anker anbieten. Das Gebäude steht seit sieben Jahren leer und ist zum Verkauf freigegeben. Bisher will es niemand haben. Das wäre das Richtige für den reichen Doktor! Wir beide sollen es uns vorher mal anschauen und sehen, ob noch alles in Ordnung ist.“ Er strahlte übers ganze Gesicht. Sicher hatte der Vogt schon einiges springen lassen, denn Vater wusste Gelegenheiten schon zu nutzen. Da besaß er Bauernschläue und träumte nicht von einer Weltrevolution.

„Iss mein Junge! Morgen schauen wir uns das Gasthaus erst mal an.“

„Aber das Heu“, wandte ich ein. „Auf dem Mooskopf gibt es eine wunderbare Wiese, die niemand gemäht hat.“

„Pappalapapp“, sagte Vater. „Ich habe meine Verbindungen und da brauchen wir kein Wildheu mehr. Ich sage es den anderen. Dein Bruder Andreas kommt auf den Hof. Er hat Probleme mit der Lunge wegen des Staubes in der Keramik. Es ist immer dasselbe: Die Jungen gehen in die Keramikfabrik, um zu arbeiten und Geld zu verdienen, und dann kommen sie zurück, wenn sie keine Luft mehr bekommen. Wir müssen es anders machen. Kutscher willst du werden? Warum denn nicht? Auch die anderen aus der Familie freuen sich auf Arbeit. Dr. Walther kann uns allen helfen.“

In der folgenden Nacht wälzte ich mich auf meinem Strohsack herum. So viele Eindrücke hatte ich gesammelt und so viele Menschen kennengelernt. Ich war hin und her gerissen von der Liebe zur Heimat und der Sehnsucht in die Ferne. Ob ich mich den Sozialdemokraten anschließen sollte? Vielleicht konnte ich mit Lehmann die Rote Feldpost verteilen. Dann würde ich auch Klara wiedersehen und Frau Dr. Hope, die mich sehr beeindruckt hatten.

Gegen Morgen weckten mich die Tiere und Vaters Stimme, der sie beruhigte. „Martha, was ist mit dir? Bist du krank? Wir können uns keinen Viechdoktor leisten!“

Ich sprang auf, zog rasch meine Hose an und lief zum Stall. „Was ist mit Martha?“, fragte ich.

„Sie hustet und atmet schwer“, sagte Vater. „Dann sei vorsichtig“, mahnte ich. „Die Sozialdemokraten auf dem Brandeck nennen die Krankheit Tuberkulose.“

„Der weiße Tod?“, fragte Vater. „Dann muss Martha fort. Ich melde es dem Metzger, oder besser Andreas. Da kommt er ja.“

Freudig begrüßte ich meinen Bruder, den ich lange nicht gesehen hatte. Er hustete und atmete schwer. „Der Staub“, entschuldigte er sich. „Hier oben atmet man leichter.“

„Martha muss zum Metzger“, sagte Vater. „Sie ist krank und muss rasch fort. Bringst du sie nach Nordrach? Vielleicht können wir ihr Fleisch noch essen.“

„Du gehst mit Vater zum Gasthaus Anker?“, wandte er sich an mich. „Großartig, wen du da kennengelernt hast. Die ganze Familie redet davon, dass nun alles besser werden soll. Ich bin sofort zurückgekommen, als ich hörte, dass es hier Arbeit gibt.“ Er reichte mir die Hand und drückte sie fest.

Der Anker lag ungefähr auf gleicher Höhe wie unser kleiner Hof, dort wo Dörrenbach und Klausenbach die Nordrach bilden. Natürlich kannte ich das verlassene Haus. Seit die Flößer fortgezogen waren, hatte es niemand mehr bewohnt.

Wir standen bald vor dem Gasthaus und sahen zu den blinden Fenstern hoch. „Hier war ein Leben, als die Flößer noch da waren. Junge, das hättest du erleben sollen. Lass uns reingehen. Ich habe den Schlüssel!“ Wir stiegen die brüchige Treppe hoch. „Muss neu gemacht werden“, stellte Vater fest und öffnete die Eingangstür, die nur schwer nachgab. „Ein bisschen Schmiere werden wir schon brauchen, ehe wir das Gebäude zeigen können. Die Fenster müssen geöffnet werden. Die Luft ist abgestanden und muffig!“

Wir gingen von Raum zu Raum. In einigen Zimmern war Wasser eingedrungen und die Tapete hing von den Wänden, in andern ließen sich die Fenster nicht öffnen. In vielen Räumen standen einfache Betten. Ein großes Zimmer gab es auch mit einem wunderschönen Blick über das Tal. „Hier haben die Floßherren mit den Flößern verhandelt“, erzählte Vater. „Aber mit dem Wald sind auch die Flößer gegangen.“

Als wir mit der Besichtigung fertig waren, sagte Vater: „Hier ließe sich eine Klinik einrichten, da bin ich ganz sicher. Ich gebe dem Vogt Meldung und du läufst gleich morgen zum Brandeck und gibst Bescheid! Die Säge, die hier hin und wieder betrieben wird, dürfte nicht stören.“

Ich öffnete ein Fenster und sah hinaus. Direkt neben dem Haus rauschte die Nordrach. Das große Wasserrad konnte in Betrieb genommen werden und Treibriemen übertrugen dann die ungestüme Kraft der Nordrach auf die Maschinen. Alles war gerichtet, um jederzeit wieder in Betrieb genommen zu werden, aber der Sägemüller hatte schon längere Zeit keinen Baumstamm mehr zersägt. Weiter unten im Tal gab es mehrere Sägemühlen, die kräftiger waren. Mein Herz klopfte laut vor Freude. Ich konnte wieder zum Brandeck und würde all die Menschen wiedersehen, die mir schon jetzt so viel bedeuteten.

Mit Ungeduld erwartete ich den neuen Tag. Als es zu tagen begann, zog ich los. Ich träumte schon von einer Kutschfahrt und reichem Essen, aber als ich am Brandeck ankam, war alles still. Keine Kutsche wartete vor der Tür, auch die beiden Pferde sah ich nicht. Der Hund sprang hin und her und zerrte wild an seiner Kette, als ich versuchte, die eiserne Tür mit der Aufschrift Villa Strehlen zu öffnen. Da es mir nicht gelang, stieg ich einfach darüber und näherte mich vorsichtig dem Haus. Den kläffenden Hund umging ich sorgfältig. Hinter der Villa lag eine Frau auf einem Bett, in Decken eingehüllt. Ich erkannte sie gleich. Es war die Frau Doktor. Sie schrak hoch, als sie mich plötzlich hörte, und wollte aufspringen, musste aber im gleichen Augenblick furchtbar husten. Prüfend starrte sie mich an und erst dann erkannte sie mich: „Du bist doch der Frieder, der erst vor ein paar Tagen hier war. Heute kommst du vergeblich. Es ist niemand da außer mir. Was willst du?“

„Der Vogt von Nordrach schickt mich“, übertrieb ich kühn. „Er bietet Herrn Dr. Walther das Gasthaus Anker zum Kauf an. Es liegt am Zusammenfluss von Dörrenbach und Klausenbach. Dort gibt es ganz viel Wasser.“ Ich strahlte vor Stolz.

Hope legte sich wieder hin und zog die Decken über sich. „Du weißt ja, dass ich krank bin“, sagte sie.

„Das ist nicht zu überhören, gnädige Frau“, bestätigte ich. „Ich muss viel liegen, sagt der Doktor“, erzählte Hope. „Gutes Essen und viel Ruhe, dazu die gute Luft. Das muss doch helfen, aber es dauert so lange. Du musst Geduld haben, sagt mein Mann. Habe ich ja, aber es gibt so viel zu tun.“

Der Hund riss wieder an der Kette und wollte sich nicht beruhigen. „Der Briefträger ist gekommen“, sagte Hope. „Kannst du hingehen und die Post holen?“

 

Ich ging um das Haus herum zum Eingang. Dort standen zwei Männer an der Pforte. Der eine trug die Uniform derer von Thurn und Taxis und der andere eine Polizeiuniform. Sie stritten heftig miteinander.

„Ich muss wissen, was für Post der Doktor bekommt, Baptist“, sagte der Polizist. „Du siehst, ich bin im Dienst, also gib mir die Briefe, damit ich die Namen der Absender lesen kann. Du bekommst sie dann gleich wieder. Es geht um das Vaterland.“

„Und um das Briefgeheimnis“, antwortete der Postbote. „Gabriel, ich darf dir die Post nicht zeigen. Wir haben das Briefgeheimnis und ich habe einen Eid geschworen, dass ich die Sendungen nur dem Empfänger aushändigen werde.“

„Aber das Vaterland!, Baptist!“

„Aber das Briefgeheimnis, Gabriel.“

Sie kamen zu keiner Einigung und standen vor einem großen Problem, aus dem ich sie erlösen wollte.

„Geben Sie mir die Post“, bat ich. „Frau Doktor Walther liegt im Garten und hat mich beauftragt, die Briefe anzunehmen.“

„Hat er die Befähigung schriftlich?“, fragten nun beide. „Wer ist er?“

„Ich habe den jungen Mann schon einmal gesehen“, sagte der Polizist. „Er war erst vor einigen Tagen da. Sehr verdächtig! Wie heißt er? Warum ist er hier?“

Ich weiß nicht, wie lange alles gedauert hätte, wenn nicht die Frau Doktor selber gekommen wäre. Mit langsamen Schritten kam sie zu uns. „Baptist“, sagte sie. „Du bist Postbeamter. Kannst du deine Briefe nicht ein bisschen leiser austragen? Ihr streitet euch hier vor meiner Haustür und ich brauche Ruhe. Gabriel, auch du weißt das! Nun gib mir schon die Briefe!“ Sie war sehr ärgerlich.

„Darf ich fragen, was für Post Ihr bekommen habt, Frau Doktor?“, fragte der Polizist und ich hielt ein wenig den Atem an.

„Wenn ich nicht wüsste, dass du Probleme bekommst, wenn du nichts zu berichten hast, würde ich dir nichts sagen“, antwortete Hope und in ihrer Stimme klang ein Lachen mit. „Einen Brief vom Oberamtmann Anton Rasina. Ich denke, er wird uns erneut Schwierigkeiten machen. Und Briefe von Freundinnen aus London. Sie wollen uns hier besuchen. Ist das genügend Auskunft?“

„Sie sind zu gütig, gnädige Frau“, sagte der Polizist und verbeugte sich tief. „Ich wünsche Ihnen, dass Sie keine Schwierigkeiten bekommen. Wir schätzen Sie alle sehr!“

„Seit wann denn das?“, fragte Hope und zog ihre hübsche Nase mit den Sommersprossen kraus. „Seit wann ,gnädige Frau‘ und ,keine Schwierigkeiten‘?“

„Ich persönlich habe nichts gegen Sie“, verteidigte sich der Polizist. „Ich bin im Dienst!“

„Und im Dienst gebt Ihr beiden euer Gehirn ab und macht euch hier furchtbar wichtig?“

Die Beamten verbeugten sich und zogen sich zurück. Ich folgte der Frau Doktor in den Garten und setzte mich auf eine Mauer. Hope rief nach Martha und die kam auch gleich.

„Bring dem jungen Mann etwas zu essen“, befahl sie und legte sich mit einem Seufzer der Erleichterung wieder auf das Ruhebett.

„Frau Doktor, Sie sollten doch nicht aufstehen“, mahnte Martha. „Immer ist irgendetwas, das Sie nicht zur Ruhe kommen lässt.“

„Nun lass du mich zur Ruhe kommen“, erwiderte Hope und deckte sich sorgfältig zu. Ich verhielt mich ganz still und freute mich sehr, als mir Martha eine Schüssel mit Suppe brachte. Sie gab mir die Schüssel und sagte: „Langsam essen, junger Mann, die Suppe ist heiß.“ Dabei sah sie mich streng an und richtete ihre weiße Küchenschürze. „Du warst doch erst kürzlich bei uns“, stellte sie fest. Damit ging sie zurück in die Küche und ich genoss die Suppe, die Ruhe und die Wärme der Sonnenstrahlen. Wir hatten Frühsommer und die Sonne war schon angenehm warm. Da trat Lehmann aus dem Gebüsch, als habe er die ganze Zeit nur darauf gewartet, herauskommen zu können. Vorsichtig sah er sich um, bemerkte mich aber wohl nicht und ging zu Hope. Neben ihr ließ er sich auf dem Rasen nieder und schwieg.

Es dauerte eine Zeit, bis Hope ihn bemerkte, denn die Sache mit der Post hatte sie sehr angestrengt.

„Karl, bist du das?“, fragte sie, ohne sich zu erheben. „Bleib liegen, Hope“, antwortete Lehmann. „Ich bin froh, dass du Ruhe gefunden hast. Du musst rasch gesund werden, denn wir brauchen dich. Wo sind die beiden Kinder?“

Hope blieb entspannt liegen und antwortete mit diesem feinen Lachen in ihrer Stimme: „Heinz und Mara sind bei Freunden. Wie soll ich ruhig liegen bleiben, wenn ich doch immer gebraucht werde? Hast du alles erledigen können?“

Lehmann nickte. „Ich habe Post bekommen“, fuhr Hope fort. „Magst du sie öffnen und vorlesen?“

Lehmann nahm einen der Briefe, die Hope auf ihre Decke gelegt hatte und las den Absender: „Ein Brief vom Oberamtmann Rasina.“

„Den lesen wir nicht, den geben wir Otto“, schlug Hope vor. „Aber die Briefe aus England. Hast du deine Vokabeln gelernt?“

„Ja“, antwortete Lehmann und es klang wie die Antwort eines Schulbuben. Ich lachte in mich hinein, wie ich die beiden so miteinander reden hörte. Die Frau Doktor behandelte Lederstrumpf wie einen Schuljungen und er verehrte sie sehr. Das sah man einfach.

Lehmann öffnete einen Brief, überflog ihn und sagte: „Die Gäste aus England werden im Frühjahr eintreffen. Sie freuen sich auf das Wiedersehen mit dir und hoffen, dass ihnen die reine Luft hier gut tun wird. London hat wieder Nebel und Smog und viele Menschen husten.“

„Oft genug wird es Tuberkulose sein“, sagte Hope und musste wieder husten. „Wir müssen daran arbeiten, dass sich die Lebensbedingungen der Menschen ändern.“

„Wenn wir nur nicht immer daran gehindert würden“, ereiferte sich Lederstrumpf. „Ich habe nicht alle Zeitungen verteilen können. In Offenburg wollte man mich verhaften, es gelang mir gerade noch davonzulaufen.“

„Du sollst die Polizei nicht auf dich aufmerksam machen, Karl“, mahnte Hope. „Warst du in der Schule? Hast du dich für den Unterricht angemeldet? Du brauchst Latein und Griechisch für das Abitur. Was machen deine Studien?“

„Amo, amas, amat“, antwortete Lederstrumpf und strahlte Hope an, die sich ein wenig erhoben hatte.

„Mein lieber Karl“, sagte sie streng. „Es geht hier nicht um Liebe und auch nicht allein um deine Zukunft. Wenn wir etwas erreichen wollen, dann müssen wir uns alle anstrengen. Du musst zunächst dein Abitur schaffen und studieren. Erst dann kannst du wirklich die Welt verändern.“

„Durch Hunger und Liebe hält sich das Getriebe“, stellte Lehmann fest. „Ist das nicht dein Lieblingswort?“

„Ja, Karl“, antwortete Hope. „Es ist der Hunger nach Wissen, auch der Hunger nach Nahrung, aber mehr noch der Hunger nach Gerechtigkeit, der die Menschen antreibt.“ Hope atmete schwer. „Ja, auch der Hunger nach Liebe. Die meisten Frauen hungern danach. Frauen aus allen Gesellschaftsschichten, auch unsere reichen Freundinnen aus England, kennen die Liebe nicht und wissen nicht, was ihnen entgeht. Die Frauen leben alle unter dem, was einer Frau möglich wäre. Man muss sie aufklären und darüber belehren.“

„Das ist dein Traum, Hope, und du?“

Hope wurde ganz streng. „Karl, das geht dich nichts an. Ich habe meine Familie und du kümmerst dich um deine Schule und um deine Ausbildung.“ Sie sah in den Garten, wo Dr. Walther aus den Büschen trat.

„Ihr seid am Lernen?“, fragte er, kam zum Bett seiner Frau, beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Wie geht es dir, meine Liebe? Hältst du die Ruhezeiten ein?“

Lehmann stand auf und klopfte sich das Gras aus der Lederhose. „Oder unterrichtest du deinen Lieblingsschüler?“, fragte Dr. Walther und schaute Lehmann an.