Geschichte der deutschen Literatur. Band 3

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51 Pope: Essay on Man (Anm. 32), S. 5.

52 Wieland: Was ist Wahrheit? In: ders.: Sämmtliche Werke. 39 Bde. u. 5 Supplementbände in 14 Bänden. ND Hamburg 1984. Bd. VIII/24, S. 39–54, hier S. 50. – Vgl. Gottfried Willems: Von der ewigen Wahrheit zum ewigen Frieden. In: Wieland-Studien 3 (1996), S. 10–46.

53 Karl-Heinz Stahl: Das Wunderbare als Problem und Gegenstand der deutschen Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts. Frankfurt 1975.

54 Wolfgang Bender: J. J. Bodmer und J. J. Breitinger. Stuttgart 1973.

55 Manfred Engel: Die Rehabilitation des Schwärmers. Theorie und Darstellung des Schwärmens in Spätaufklärung und früher ­Goethezeit. In: Hans-Jürgen Schings (Hrsg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1994, S. 469–498. – Ders.: Das „Wahre“, das „Gute“ und die „Zauberlaterne der begeisterten Phantasie“. Legitimationsprobleme der Vernunft in der spätaufklärerischen Schwärmerdebatte. In: GLL 62 (2009), 53–66.

56 Albert Meier: Klassik – Romantik. Stuttgart 2008.

57 Eckermann: Gespräche mit ­Goethe (Anm. 12), S. 174.

58 Klaus F. Gille: ­Goethes Wilhelm Meister. Zur Rezeptionsgeschichte der Lehr- und Wanderjahre. Königstein 1979.

59 ­Goethe und die Antike. Eine Sammlung. Hrsg. v. Ernst Grumach. 2 Bde. Berlin 1949. – Willems: Kanonisierung ­Goethes (Anm. 11), S. 126–129.

3 Literarische Einzelgänger

Läßt man die Namen der prominenten Autoren der ­Goethezeit Revue passieren, so stellt man bald fest, daß sich die meisten von ihnen unschwer einer bestimmten Generation zuordnen lassen, und damit zugleich einer der literarischen Bewegungen, die bei der Revision des überkommenen Epochenschemas in den Blick getreten sind. Denn die Anfänge einer neuen Bewegung, das Zusammenfinden einer Gruppe von Autoren, die der Entwicklung der Literatur neue Impulse geben, ist seit dem 18. Jahrhundert vielfach mit dem Auftreten einer neuen Generation verbunden. Zugleich wird freilich deutlich, daß sich nicht alle Namen auf solche Weise auf die literarischen Bewegungen verteilen lassen; einige bleiben übrig, nämlich die Namen derer, die bei den Bestrebungen ihrer Generation nicht recht mitmachen konnten oder wollten, die sich dem Sog des kollektiven Aufbruchs ihrer Generation entzogen – eben die Namen der Autoren, die wir literarische Einzelgänger nennen.

3.1 Generationen und literarische Bewegungen

Literatur und Modernisierung

Daß sich literarische Strömungen mit dem Auftreten einer neuen Generation verbinden, daß jede Generation ihre eigene Literatur hervorbringt, ist im 18. Jahrhundert noch etwas durchaus Neues gewesen, ist seither aber typisch für den Entwicklungsgang der Literatur geworden. Ein erstes markantes Beispiel dafür ist der Sturm und Drang, ein zweites die Frühromantik, ein drittes die Gruppe der Jungdeutschen in der Zeit des Vormärz, und so sind gerade diese drei Bewegungen immer wieder zum Anlaß geworden, über die Bedeutung des Generationenwechsels für die literarische Entwicklung nachzudenken. Eine Gruppe von jungen Leuten findet zusammen, die alle ungefähr gleich alt sind und die sich im Bewußtsein ihrer Jugend und

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ihrer Gemeinsamkeit als eine Art literarische Jugendbewegung gegen das Alte stellen, gegen die überkommene Kultur und das kulturelle ­Establishment. Das gemeinsame Ziel ist es, das Alte hinter sich zu lassen und etwas Neues, Zeitgemäßeres auf den Weg zu bringen, Kunst und Literatur zu modernisieren; man begreift sich als ­Avantgarde einer neuen Zeit.

Den Begriffen der Avantgarde und der Modernisierung begegnet man im 18. Jahrhundert freilich noch nicht, sie nehmen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, seit 1885, Gestalt an, aber was mit ihnen gemeint ist, zeigt sich in seinen Grundzügen schon hier. Das heißt aber nichts anderes, als daß Kunst und Literatur bereits im 18. Jahrhundert von der Modernisierungsdynamik ergriffen werden und daß sie das auch wissen; daß sie sich schon hier ein Bewußtsein von solcher Modernisierung geben. Und das wiederum bedeutet, daß sie sich nun nicht mehr so sehr als Raum einer zeitlosen Schönheit begreifen, die allem geschichtlichen Wandel überhoben wäre, denn vielmehr als Teil der geschichtlichen Entwicklung. Die Grundlagen für eine solche Sicht der Dinge sind freilich schon früher geschaffen worden; sie verdanken sich letztlich einem Diskurs, der das gesamte Zeitalter der Aufklärung durchzieht, der „Querelle des Anciens et des Modernes“, der Diskussion zwischen denen, die die Kunst der Antike für unübertrefflich hielten, und denen, die der zeitgenössischen Kunst Qualitäten zusprachen, von denen die Antike noch nichts wußte.

Von der Aufklärung zu Vormärz und Biedermeier

Als erstes sind hier die großen Autoren von Aufklärung und Empfindsamkeit zu nennen, Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) und Christoph Martin Wieland (1733–1813), schon sie vom Alter her nicht weit auseinander. Auf sie folgt die Generation des Sturm und Drang, zu der Johann Gottfried Herder (1744–1803), Johann Wolfgang ­Goethe (1749–1832) und Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) gehören. Eine zweite Gruppe von Stürmern und Drängern, der sogenannte „Göttinger Hain“,60 hat nur sehr viel weniger prominente Autoren hervorgebracht. Friedrich Schiller (1759–1805) ist zwar deutlich jünger als die genannten Autoren, beginnt seine literarische Laufbahn aber mit den „Räubern“ von 1782 als eine Art Nachzügler des Sturm und

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Drang. Die prominenten Autoren des Sturm und Drang gelangen alle früher oder später nach Weimar, wo sie mit Wieland in Verbindung treten und mit ihm zusammen das auf den Weg bringen, was die Literaturgeschichtsschreibung dann als Weimarer Klassik verbucht hat. Das gilt allerdings nur mit Einschränkung für Lenz, denn sein Versuch, in Weimar Fuß zu fassen, scheitert, wie er sich überhaupt nach 1777 mehr und mehr von der Literatur entfernt.

Die nächste Generation ist die der Frühromantik, mit August ­Wilhelm Schlegel (1767–1845), dessen jüngerem Bruder Friedrich ­Schlegel (1772–1829), Friedrich von Hardenberg (1772–1801), der sich als Autor den Namen Novalis gab, und Ludwig Tieck (1773–1853). Es folgen die Autoren, die der Hoch- und Spätromantik zugerechnet werden. Der älteste von ihnen ist E. T. A. Hoffmann (1776–1822). Bei ihm ist freilich zu bedenken, daß er sich erst relativ spät für die Literatur entschieden hat; er sah sich zunächst mehr als Komponist und hat erst seit den „Nachtstücken“ von 1814 kontinuierlich publiziert, ein Datum, das bereits an die Schwelle zur Spätromantik führt. Ein wichtiges Dokument am Beginn der Hochromantik ist die große Volksliedsammlung „Aus des Knaben Wunderhorn“ von Clemens von Brentano (1778–1842) und Achim von Arnim (1781–1831), die 1806 bis 1808 als Seitenstück zu der Sammlung deutscher Volksbücher von Joseph Görres erschienen ist. Im Übergang zur Spätromantik sind neben E. T. A. Hoffmann vor allem noch Ludwig Uhland (1787–1862) und Joseph von Eichendorff (1788–1857) zu nennen. Uhland, der seit 1815 mit Gedichten im Volkston populär geworden ist, ist als Haupt der „Schwäbischen Schule“ in die Literaturgeschichte eingegangen, die als charakteristisch für die späteste Romantik gilt.

Die nächste Generation führt schon in den Raum von Vormärz und Biedermeier, mit Heinrich Heine (1797–1856) – der übrigens in seiner Jugend für nichts so sehr geschwärmt hat wie für die Gedichte von Uhland – als prominentestem Vertreter des Vormärz, sowie Eduard Mörike (1804–1875) und Adalbert Stifter (1805–1868) als namhaften Vertretern des Biedermeier – wenn man ihr Werk denn unter den Begriff des Biedermeier verbuchen darf.

Soweit die Abfolge der Generationen, wie sie jeweils eine neue literarische Bewegung auf den Weg gebracht oder jedenfalls doch einer solchen Bewegung eine neue Richtung gegeben haben. Vor dem

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Hintergrund dieser Skizze läßt sich nun der Weg der Autoren verfolgen, die hier als literarische Einzelgänger charakterisiert werden sollen.

Klopstock

Friedrich Gottlieb Klopstock ist bereits 1724 geboren, also noch ein wenig älter als Lessing und Wieland, und 1803 gestorben. Er gehört mithin zu der Generation von Autoren, die für die Blütezeit der Aufklärung in Deutschland stehen. Und so ist sein Werk auch wesentlich von Impulsen der Aufklärung getragen. Literarisch in den Aufklärungszentren Leipzig, Zürich und Hamburg groß geworden, hat er sich von Anfang an auf eine durchaus eigenständige, originelle Weise zwischen den Gruppen und Bestrebungen bewegt, die er dort kennenlernte. So hat er sich zwar den Sentimentalismus und die präromantischen Interessen der Aufklärer sowie ihr Ringen um die Autonomie der Kunst zu eigen gemacht, aber nur, um ihnen jene besondere Wendung zu geben, die ihn dann zu einem der großen Vorbilder der Generation des Sturm und Drang werden ließ.

Bis in die siebziger Jahre hinein ist Klopstock der am meisten beachtete und gefeierte lebende deutsche Autor gewesen, sehr viel berühmter als Lessing und Wieland. Aber als sich dann die Weimarer Klassik formierte, ist sein Ruhm bald verblaßt, ist von diesem Ruhm nichts als der Ruhm übrig geblieben, eine allgemeine Bekanntheit, die kaum noch von einem vitalen Leserinteresse untersetzt war.

 

Wer wird nicht einen Klopstock loben?

Doch wird ihn jeder lesen? – Nein.

Wir wollen weniger erhoben,

Und fleißiger gelesen sein.61

Was 1753, als Lessing dieses Epigramm veröffentlichte, nicht viel mehr als eine Sottise, allenfalls eine böse Vorahnung war, wurde in den achtziger Jahren nach und nach Realität. Die Wirkungsgeschichte Klopstocks ist also gerade umgekehrt verlaufen wie die Hölderlins und Kleists. Während Klopstock bei seinen Zeitgenossen zunächst hochberühmt war und dann von der Nachwelt, ja schon zu seinen Lebzeiten kaum

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mehr gelesen wurde, waren Hölderlin und Kleist zu ihren Lebzeiten weithin unbekannt, wurden sie hier allenfalls als Randerscheinungen des literarischen Lebens wahrgenommen, um erst lange nach ihrem Tod in die erste Reihe des Kanons aufzusteigen. Ganz ist Klopstock allerdings nie vergessen worden; dafür sorgte vor allem die ältere Germanistik, die ihn für ihr Bild von der Abfolge der Epochen brauchte: Klopstock als Vorkämpfer für die Überwindung der französischen Aufklärung und Vorbereiter des Sturm und Drang und damit als eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Deutschen Klassik. Hier soll er vor allem mit seiner letzten großen literarischen Leistung, den Revolutionsoden, ins Auge gefaßt werden, die als Anfänge der modernen politischen Lyrik in Deutschland gelten.

Karl Philipp Moritz

Das Werk von Karl Philipp Moritz hat noch länger als das von ­Hölderlin und Kleist gebraucht, um in den Fokus des Interesses zu treten. Seine Potentiale sind im Grunde erst in den letzten dreißig, vierzig Jahren erkannt worden, dank einer besonders intensiven Zuwendung der jüngeren Germanistik; seither wird sein Roman „Anton Reiser“ (1785–1790) mit zum Besten gezählt, was in der ­Goethezeit entstanden ist. Moritz ist 1756 geboren, ist also zwischen den Generationen des Sturm und Drang und der Frühromantik anzusiedeln, mit denen ihn freilich gleich wenig verbindet; gestorben ist er 1793. Er gehört in den Umkreis der Berliner Spätaufklärung; darüber hinaus hat er enge Beziehungen zu Weimar und zu ­Goethe unterhalten, doch sind Weimarer Klassik und Spätaufklärung, wie sich bereits gezeigt hat, ohnehin nicht weit voneinander entfernt. Moritz hielt sich in eben den Jahren 1786 bis 1788 in Italien auf, in denen auch ­Goethe dort war; die beiden Autoren haben sich in dieser Zeit häufig gesehen und gemeinsam über eine autonome Kunst nachgedacht. Danach ging Moritz wieder nach Berlin zurück.

Jean Paul

Jean Paul, eigentlich Johann Paul Friedrich Richter, ist 1763 geboren und 1825 gestorben, vom Alter her also zwischen Schiller und August Wilhelm Schlegel anzusiedeln, doch hat sein Werk letztlich mit der Klassik ebensowenig zu tun wie mit der Romantik. Wohl unternimmt er einmal einen Versuch, sich in Weimar niederzulassen, aber dieser schlägt fehl. Mehr über ihn und sein Schreiben besagen seine Kontakte zur Leipziger und Berliner Spätaufklärung. Entscheidend ist sein Anschluß an die Empfindsamkeit, deren Möglichkeiten er bis in seine

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letzten Jahre kultiviert und weiterentwickelt hat. Seine Romane waren beim zeitgenössischen Lesepublikum und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein großer Erfolg. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, der Epoche des Realismus, gerieten sie dann mehr und mehr in Vergessenheit, auch weil sich die ältere Germanistik ihrer nicht mit besonderem Engagement annahm, da sie nicht in ihr Epochenschema passen wollten. Erst in der Moderne des 20. Jahrhunderts konnten sie sich wieder einer stärkeren Beachtung erfreuen.

Hölderlin

Friedrich Hölderlin ist 1770 geboren und 1843 gestorben. Er gehört also zur Generation der Frühromantiker, und wie die Frühromantiker ist auch er 1794 nach Jena gegangen, um dort Fichte zu hören, freilich nicht weniger, um seinem großen Vorbild Schiller nahe zu sein. Die Subjektphilosophie Fichtes hat bei ihm ebenso ihre Spuren hinterlassen wie bei den Autoren der Romantik, aber er teilt mit ihnen durchaus nicht das Interesse am Mittelalter; er bleibt beim Vorbild der Antike, ja er ist von allen Autoren der Zeit wohl derjenige, der am entschiedensten auf die alten Griechen fixiert ist. Trotz der Nähe zu Schiller und der Vorliebe für die Antike kann man ihn freilich auch nicht der Klassik zuschlagen; von den Weimarern trennt ihn, daß er ganz im Zeichen der neuen Totalitätsbegriffe schreibt, also deren Kritik an dem Geist des Aufs-Ganze-Gehens nicht teilt. Hölderlin geht als Autor immer aufs Ganze; fast in jedem einzelnen seiner Gedichte will er das gesamte Schicksal der Menschheit verhandeln.

Kleist

Heinrich von Kleist ist 1777 geboren und 1811 gestorben. Von seinem Geburtsdatum her gehört er mithin der Generation der Hoch­romantik an, und in der Tat gibt es sowohl persönlich als auch konzeptionell enge Berührungspunkte zu dieser Bewegung. So finden sich bei ihm ebensowohl die Hinwendung zur wunderbaren Ritterwelt des Mittelalters wie jene nationalistischen Töne, die gerade in der Hochromantik so laut und schrill werden. Aber was bei ihm völlig fehlt, ist der romantische Kult der Subjektivität, ist die Entfesselung der Phantasie, der Kult der Innerlichkeit. Statt dessen entwickelt er eine Art von gnadenlosem Realismus, den er vor allem von Schiller bezieht, unterfüttert mit einer Skepsis, wie sie die Spätaufklärung kultiviert hat, freilich ohne daß er deren Pragmatismus, ihre Absage an Totalitätskonzepte geteilt hätte.

Dem allem ist nun im einzelnen nachzugehen.

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3.2 Die literarischen Einzelgänger
3.2.1 Friedrich Gottlieb Klopstock

Impulse der Aufklärung

Die literarische Arbeit Klopstocks 62 lebt, wie angedeutet, wesentlich von zentralen Impulsen der Aufklärung, insbesondere von ihrem Sentimentalismus, ihren präromantischen Neigungen und ihrem Ringen um eine autonome Kunst. Freilich hat Klopstock ihnen eine ganz besondere, eigene Wendung gegeben, jene Wendung, die ihn unter anderem zum Anreger und Vorbild des Sturm und Drang hat werden lassen. Der Sentimentalismus entfaltet sich zunächst in seinem Hauptwerk, dem Versepos „Der Messias“ (1748–1773), und sodann vor allem in seiner Lyrik, in seinen „Oden und Elegien“ (1771). Das präromantische Interesse manifestiert sich besonders deutlich in seinen drei Dramen über Hermann den Cherusker, jenen Arminius, der die Römer im Jahre 9 nach Christus als Anführer der Germanen im Teutoburger Wald geschlagen und so von den Siedlungsräumen der Germanen ferngehalten haben soll, den Dramen „Hermanns Schlacht“ (1769), „Hermann und die Fürsten“ (1784) und „Hermanns Tod“ (1787). Und von dem Ringen um die Autonomie der Kunst zeugen seine poetologischen Schriften, insbesondere das Manifest „Die deutsche Gelehrtenrepublik“ (1774).

Der „Messias“

Klopstocks Hauptwerk ist der „Messias“,63 ein Bibelepos, in dem das Erlösungswerk Jesu Christi in der Formensprache des antiken Epos, in den Hexametern Homers und Vergils nacherzählt wird. Es handelt sich bei ihm um das letzte Epos in deutscher Sprache, dem bei einem breiteren Publikum Erfolg beschieden war. Der Erfolg übertraf zunächst alles, was ein deutscher Autor bis dahin hatte erleben können. Klopstock wurde geradezu zu einem Star des literarischen

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Lebens; überdies brachte ihm das fromme Werk eine Menge Geld ein, einschließlich einer fürstlichen Pension, so daß er einigermaßen unbeschwert leben und schreiben konnte. Die ersten Gesänge des „Messias“ wurden 1748 veröffentlicht, die letzten 1773, aber Klopstock hat bis zur Ausgabe letzter Hand von 1800 immer wieder an ihnen gefeilt.

Der „Messias“ ist das letzte große Beispiel für die Bibelepik, für die literarische Aufbereitung und Durchdringung der biblischen Geschichte mit den Mitteln des antiken Epos, eine Gattung, die bis auf die Spätantike zurückgeht. Klopstocks unmittelbares Vorbild war ein englisches Bibelepos des 17. Jahrhunderts, „Paradise Lost“ (1667) von John Milton (1608–1674). Aufklärerisch ist am „Messias“, daß sich der Autor seinem Gegenstand als empfindsames Individuum nähert; daß es ihm nicht so sehr um religiöses Wissen und schon gar nicht um die theologisch korrekte Verbreitung von Dogmen geht denn vielmehr um eine vom Gefühl getragene persönliche Annäherung an die Geheimnisse des Glaubens, um den Ausdruck religiöser Gefühle. Das aber heißt, daß es ihm um den Ausdruck von großen Gefühlen geht; denn wenn so „Erhabenes“ wie Gott und die Erlösung der Menschheit zur Sprache kommt, wenn in solcher Perspektive das „große Ganze“ in den Blick tritt, sind natürlich große Gefühle angezeigt, genauer gesagt: die größten, ein äußerstes Maß an Emphase, an dichterischem „Enthusiasmus“ und Pathos der Rede.

Die Lyrik

Diese Sprache des Enthusiasmus 64 prägt auch Klopstocks Lyrik. In eben den fünfziger und sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts, die man auch gerne unter den Begriff des Rokoko subsumiert,65 in einer Zeit mithin, in der Gattungen wie die anakreontische Lyrik und die Idylle die Szene beherrschen, in der überall von Wein, Weib und Gesang gedichtet und von der Liebe im Schäferkostüm erzählt wird und die Literatur ganz auf zärtliche Gefühle, auf Tändeln und Scherzen und das Vergießen sanfter Tränen eingestimmt ist, entwickelt

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Klopstock in seinen Oden, Elegien und Hymnen einen neuen Ernst und ein neues Pathos des Gefühls, einen äußersten, existentiellen Ernst, und eben davon hat sich die Generation des Sturm und Drang angesprochen gefühlt. Die bekanntesten Gedichte aus dieser Zeit sind die Freundschaftsode „Der Zürchersee“ (1750) und die Hymne „Das Landleben“ (1759), in einer zweiten Fassung mit dem Titel „Die Frühlingsfeier“ (1771) versehen, ein Gedicht, das an zentraler Stelle in ­Goethes „Werther“ beschworen wird, nämlich da, wo Werther erstmals der geliebten Lotte emotional nahekommt, wo bei ihm der Absolutheitsanspruch des Gefühls durchbricht (HA 6, 27).

Klopstock bezieht den Ernst des Gefühls und das existentielle Pathos der Rede in den Gedichten wie im „Messias“ aus seiner Religiosität; so wendet sich zum Beispiel das lyrische Ich der „Frühlingsfeier“ immer wieder in der Form des Gebets an den Schöpfergott, dem es im Erlebnis der von einem Gewittersturm gepeitschten Natur emotional nahezukommen meint.66 Es geht hier um eine letzte, existentielle Selbstvergewisserung des empfindsamen Ichs vor Gott, und da treibt man natürlich keine Späße, da ist Schluß mit dem Getändel und Gescherze des Rokoko; es geht ums „große Ganze“ und um das Selbstsein des Ichs vor Gott, eben um nichts weniger als die Existenz des Individuums.

Die Rezeption im Sturm und Drang

Diesen Gestus des existentiellen, enthusiastisch-pathetischen Redens greift die Generation des Sturm und Drang auf, wobei sie sich freilich nach und nach von seiner religiösen Grundlage löst. Das gilt noch nicht so sehr für Herder, der ja von Hause aus Theologe war und insofern nichts gegen den religiösen Unterton bei Klopstock einzuwenden hatte, wohl aber für den jungen ­Goethe, wie er bei seinen literarischen Freunden durch seine entschiedene Aufgeklärtheit auffiel und gelegentlich geradezu in den Verdacht geriet, ein Religionsverächter zu sein. Die Richtung auf das „große Ganze“, der existentielle Gestus, der Absolutheitsanspruch des Gefühls und das Pathos des Enthusiasmus, in denen sich das lyrische Ich bei Klopstock seiner selbst vergewissert, werden bei ­Goethe im Sinne einer avancierten Aufklärung

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säkularisiert. Seinem lyrischen Ich ist es nicht mehr so sehr um eine Selbstvergewisserung vor Gott als vielmehr um die Selbstvergewisserung vor der Natur zu tun, allerdings vor einer Natur, die ihm selbst als göttlich gilt.67

Das aber ist ein großer Unterschied. Man muß zwar manchmal sehr genau hinsehen, um diesen Unterschied fassen zu können – denn auch der Lyriker Klopstock will Gott in der Natur begegnen, und ­Goethe stilisiert die Natur im Erleben des lyrischen Ichs zu etwas Göttlichem – doch bleibt es ein Unterschied. Bei dem einen wird die Gottheit immer noch als Person, nämlich als im Gebet ansprechbare Person gedacht, und bei dem anderen nurmehr als ein unpersönliches Prinzip, das sich dem Ich in der Natur erschließt, das für dieses Ich im Naturerlebnis sinnlich und emotional faßbar wird – der Schritt vom Theismus zum Pantheismus. Insofern kann Klopstock zwar als einer der großen Anreger des Sturm und Drang gelten, doch ohne daß er selbst ihm zuzurechnen wäre; es gibt da einen Schritt in der Säkularisation von Dichtung, den er nicht mitgegangen ist. Und vollends sind dann die Entwicklungen an ihm vorbeigegangen, die vom Sturm und Drang zu Klassik und Romantik geführt haben.

 

Formale Neuerungen

Die deutsche Lyrik verdankt Klopstock aber noch mehr; so gehen auf ihn zwei formale Neuerungen zurück, die noch große Folgen zeitigen sollten, Neuerungen freilich sehr unterschiedlicher Natur. Zum einen hat sich Klopstock wie in seinem Epos um die Nachbildung des Hexameters, so in seiner Lyrik um die Nachbildung griechisch-römischer Odenstrophen bemüht, und er verfuhr dabei konsequenter und hat damit überzeugendere Ergebnisse erzielen können als alle seine Vorgänger. Die Strophen der antiken Ode, wie wir sie etwa von Horaz her kennen, haben zwar keinen Reim, sind im übrigen aber äußerst komplizierte metrische Gebilde; sie setzen sich aus verschieden geformten Versen zusammen, die wiederum unterschiedliche Metren umfassen, was einen Autor, der in deutscher Sprache schreibt, vor große Probleme stellt. Erst Klopstock hat seine Leser mit Gedichten

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wie der Ode „Der Zürchersee“ davon überzeugen können, daß diese Probleme lösbar wären.68 Und zum andern hat Klopstock als erster deutscher Autor Freie Rhythmen geschaffen, Gedichte ohne Reim und ohne Strophenform, die auf eine metrische Regulierung verzichten und sich von einer freien, nah bei der natürlichen Prosodie angesiedelten rhythmischen Bewegung tragen lassen;69 das bekannteste Beispiel dafür ist eben die Hymne „Die Frühlingsfeier“.

Die Rezeption der neuen Formen

Anders als die Autoren des Göttinger Hains hat sich ­Goethe von Klopstock nicht zu antiken Odenstrophen anregen lassen und nur die Form der Freien Rhythmen von ihm übernommen. Statt Odenstrophen hat er Reimstrophen kultiviert, insbesondere solche, die sich am Vorbild des Volkslieds orientierten; das bekannteste Beispiel für solche liedhafte Lyrik aus der Zeit des Sturm und Drang sind seine „Sesenheimer Lieder“ (1770–1772). Die Neuerung der Freien Rhythmen aber war ihm durchaus willkommen; sie gab jenem neuen Individualismus Raum, der ihm und seinen Mitstreitern ein besonderes Anliegen war, dem Drang, sich ungebunden seinen schöpferischen Kräften und seiner individuellen emotionalen Bewegung zu überlassen, seinem „Genius“ zu folgen, wie er dem Sturm und Drang auch den Namen der Geniezeit oder Geniebewegung einbrachte. Davon zeugen etwa Hymnen wie „Wanderers Sturmlied“ (1772) und „Prometheus“ (1774).

Doch auch Klopstocks antikisierende Odenstrophen fanden ihre Nachfolger; nach den Autoren des Göttinger Hains ist hier vor allem Hölderlin zu nennen, der überhaupt von Klopstock nachhaltig beeindruckt war und sich etwa auch von dessen enthusiastisch-pathetischer Sprache hat anstecken lassen. In der Zeit von Klassik und Romantik ist die Form der Freien Rhythmen fast ganz in Vergessenheit geraten, erst Heine hat wieder auf sie zurückgegriffen, und dann die Autoren der Moderne seit dem Naturalismus, bei denen sie schließlich immer größere Bedeutung gewann. So darf Klopstock dank der Freien Rhythmen und der Möglichkeiten zur Individualisierung des lyrischen Ausdrucks, die sie eröffnen, auch als einer der frühen Ahnherrn der modernen Lyrik gelten.

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Präromantische Impulse

Auch Klopstocks Hermannsdramen 70 sind nicht ohne Folgen geblieben, obwohl sie nicht in das Repertoire des Theaters eingegangen sind. Wie schon bemerkt, macht Klopstock sich hier das präromantische Interesse der Aufklärung des 18. Jahrhunderts auf seine Weise zueigen. Dieses Interesse ist unmittelbar aus dem Grundimpuls der Aufklärung, aus jener Kritik an der Entwicklung der modernen europäischen Gesellschaften und ihrer Kultur erwachsen, die sie nach dem Ursprünglichen und Natürlichen fragen ließ. Auf eine Formel gebracht, geht es der Aufklärung darum, Fehlentwicklungen der Zivilisation durch eine neuerliche Orientierung am Ursprünglich-Natürlichen zu korrigieren. Das präromantische Interesse sucht dieses Ursprünglich-Natürliche zunächst bei den Patriarchen des Alten Testaments und bei den alten Griechen, wie es den christlich-humanistischen Traditionen der frühen Neuzeit entspricht, sodann aber auch in der je eigenen Vergangenheit der modernen europäischen Nationen. In Deutschland führt das eben bis zu der Gestalt Hermanns zurück.

Klopstock macht aus Hermann zum einen ein Exempel des aufklärerischen Nachdenkens über ursprünglich-natürliche Begriffe von Freiheit – Hermanns Krieg gegen die Römer ist ja ein Freiheitskrieg – und zum andern stilisiert er ihn zu einem Musterbild ursprünglich-natürlicher deutscher Mannestugend; denn das präromantische Interesse nimmt bei ihm wie bei seinen Anhängern bereits die Züge des Nationalismus an. So stellt Klopstock mit seinem Hermann eine Figur bereit, die sowohl für jedwedes Freiheitspathos hat herhalten als auch in das ideologische Inventar des Nationalismus hat eingehen können. Kein Wunder also, daß diese Figur in der Zeit der Besetzung Deutschlands durch die Franzosen und der Befreiungskriege in der deutschen Literatur Konjunktur hatte; man denke nur an Kleist und sein Drama „Die Hermannsschlacht“ (1808).

Die Revolutionsoden

Mit seiner letzten großen Arbeit als Lyriker, den Revolutionsoden, steht Klopstock am Anfang der modernen politischen Lyrik in Deutschland. 1788/89, beim Ausbruch der Französischen Revolution – da ist Klopstock 65 Jahre alt – legt er den „Messias“ beiseite, um

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sich den aufwühlenden Ereignissen der Zeitgeschichte zuzuwenden und sie in Form von Oden, Epigrammen und Elegien zu gestalten. Wie so viele aufgeklärte Köpfe in Deutschland hat er die Revolution zunächst begrüßt und den Deutschen zur Nachahmung empfohlen, um sich nach der „Terreur“ wieder von ihr abzuwenden und sie und ihre Protagonisten, die Jakobiner, sowie ihren Erben Napoleon und dessen Kriegsmaschinerie einer immer heftiger werdenden Kritik zu unterziehen.

Eine erste Ode gilt den „Etats Généraux“, der Versammlung der Stände Frankreichs, die 1788 erstmals nach 150 Jahren wieder zusammentrat und sich bald zur Nationalversammlung, zu einem modernen Parlament umgestaltete. Hier widerruft Klopstock ausdrücklich eine früher von ihm vertretene Position, den Gedanken, daß sich die Deutschen dem Vorbild der französischen Kultur entziehen und auf ihre nationale Eigenart besinnen sollten.

DIE ETATS GENERAUX

Der kühne Reichstag Galliens dämmert schon,

Die Morgenschauer dringen den Wartenden

Durch Mark und Bein: o komm, du neue,

Labende, selbst nicht geträumte Sonne!

Gesegnet sei mir du, das mein Haupt bedeckt,

Mein graues Haar, die Kraft, die nach sechzigen

Fortdauert; denn sie wars, so weit hin

Brachte sie mich, daß ich dies erlebte!

Verzeiht, o Franken (Name der Brüder ist

Der edle Name), daß ich den Deutschen einst

Zurufte, das zu fliehn, warum ich

Ihnen itzt flehe, euch nachzuahmen.

Die größte Handlung dieses Jahrhunderts sei,

So dacht’ ich sonst, wie Herkules Friederich

Die Keule führte, von Europas

Herrschern bekämpft, und den Herrscherinnen!

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So denk ich jetzt nicht. Gallien krönet sich

Mit einem Bürgerkranze, wie keiner war!

Der glänzet heller, und verdient es!

Schöner, als Lorbeer, die Blut entschimmert.71

Die Kriegstaten des deutschen Fürsten Friedrich II. von Preußen, der sich im Siebenjährigen Krieg gegen eine Koalition europäischer Großmächte zu behaupten hatte, verblassen vor den Friedenswerken des französischen Bürgersinns.

Daß dies für einen deutschen Patrioten wie Klopstock auch eine schmerzliche Seite hat, wird in der folgenden Elegie herausgearbeitet.

SIE, UND NICHT WIR

Hätt’ ich hundert Stimmen; ich feierte Galliens Freiheit

Nicht mit erreichendem Ton, sänge die göttliche schwach.

Was vollbringet sie nicht! Sogar das gräßlichste aller

Ungeheuer, der Krieg, wird an die Kette gelegt!

(…)

Ach, du warest es nicht, mein Vaterland, das der Freiheit

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