Geschichte der deutschen Literatur. Band 3

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einem politisch-rechtlichen Begriff zu einer Kategorie der Innerlichkeit, denn die Phantasie zu entfesseln ist nun einmal ein innerer Vorgang. Die Außenwelt – die Natur, die Wirklichkeit – behält hier lediglich die Bedeutung eines Sprungbretts für das „Poetisieren“, eines Gegebenen, das sogleich wieder ins Phantastische entgrenzt wird. Genau darin und nur darin, nur in solchem Phantasieren, soll ich wirklich frei sein können.

Deshalb will die Frühromantik auch die Kunst vom Vorbild der Griechen auf das des Mittelalters umdirigieren. Nach ihrer Auffassung klebt die griechische Kunst mit ihrer Natürlichkeit und ihrem Realitätssinn am Sinnlichen, während das Mittelalter die Fesseln der sinnlichen Welt, der Natur, der Wirklichkeit dank seiner Religiosität und seines Wunderglaubens immer schon hinter sich gelassen hat, immer schon übersinnlich, übernatürlich, wunderbar, phantastisch und innerlich ist.

Abrechnung mit der Aufklärung

Mit eben diesen Gesichtspunkten versucht sich die Frühromantik an einer Generalabrechnung mit der Aufklärung. Die Grundforderung der Aufklärung zielt ja eben auf Natur, auf das Natürliche; Dichtung soll für sie vor allem natürlich sein, soll den Menschen auf die natürlichste Weise zur Natur zurückführen und ebensowohl mit seiner Triebnatur wie mit seiner Vernunftnatur bekannt machen. Das ist den Romantikern zu wenig. Nur im Übersteigen der Natur, im Übernatürlichen, Übersinnlichen, in der Hinwendung zum „Wunderbaren“ kann sich die menschliche Phantasie wahrhaft entfalten und damit das Ich „groß und ganz“ werden lassen. Die „Rehabilitation der Sinnlichkeit“, wie sie der gesamten Aufklärung und zuletzt vor allem Wieland ein zentrales Anliegen war, wird von der Romantik als schlüpfrig und frivol denunziert, und Wieland als loser Vogel und erotischer Schmutzfink. An der Lösung von der Sinnlichkeit, am Übersinnlichen, Wunderbaren soll nun alles gelegen sein.

Die Entdeckung des „Wunderbaren“ durch die Poetik der Aufklärung

Freilich, wie den Begriff der Phantasie, der „Einbildungskraft“, so verdankt die Romantik auch den Begriff des „Wunderbaren“ der Aufklärung. Denn schon hier ist er zu einem zentralen Begriff der Poetik geworden.53 Die Romantiker übersehen, daß die von ihnen als

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Spitzenprodukte der menschlichen Phantasie bestaunten Wundergeschichten des Mittelalters – daß edle Ritter mit Drachen, Riesen und Zauberern kämpfen, daß in verfallenen Gemäuern des Nachts Geister ihr Unwesen treiben, daß Heilige mit ihren Glaubenstaten die Naturgesetze außer Kraft setzen – im Verständnis des Mittelalters selbst nicht als Phantasieprodukte gegolten haben, sondern als Geschichten von wahren Begebenheiten. Erst im Horizont der Aufklärung werden sie zu Produkten der menschlichen Phantasie.

Als solche können sie nämlich erst begriffen werden, nachdem sie von der aufklärerischen Frage nach der Natur und den Naturgesetzen aus als Ausgeburten des Aberglaubens entlarvt worden sind. So etwas kann doch nicht wirklich geschehen – so der aufgeklärte Kopf – daß ein Heiliger seinen Pilgerhut an einem Sonnenstrahl aufhängt; es widerspricht den Naturgesetzen. Es kann sich dabei also nur um einen Fall von Aberglauben handeln, um eine vom Menschen erfundene Geschichte, will sagen: um eine Ausgeburt der menschlichen Phantasie. Erst die aufklärerische Kritik am Wunderglauben als Aberglauben macht aus der Wundergeschichte ein Produkt der Phantasie und damit etwas Poetisches; vorher gilt die Wundergeschichte als Sachgeschichte. Erst durch die Aufklärung wird das Wunderbare zu einer Sache der menschlichen Phantasie und damit zu einer Kategorie der Poetik.

Und in diesem Sinne hat die Poetik der Aufklärung seit Bodmer und Breitinger 54 sogar ausdrücklich gefordert, ein Werk der Poesie müsse wunderbar sein, allerdings mit einer Einschränkung, die die Romantiker dann nicht mehr gelten lassen, mit dem Beding, daß es nicht ausschließlich wunderbar, daß es zugleich auch „wahrscheinlich“ sei. Der Begriff des Wunderbaren wird an den des Wahrscheinlichen gekoppelt. Wunderbar soll eine Dichtung sein und allerlei „Neues“, Ungewöhnliches, Überraschendes, Staunenswertes zu bieten haben, damit sie der Leser interessant finden und sich von ihr fesseln lassen kann. Und wahrscheinlich soll sie sein, damit er sich überhaupt etwas vorstellen kann, damit sich seine Einbildungskraft dann auch wirklich in Bewegung setzt. Denn nur von realen Erfahrungen her soll man sich etwas vorstellen können, nur dadurch, daß die Phantasie Erfahrenes aus der

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Erinnerung abruft, um es nach ihren eigenen Bedürfnissen umzugestalten. Wenn eine Geschichte zu unwahrscheinlich, zu hanebüchen werde, dann werde die Einbildungskraft des Lesers überfordert, werde er über sie den Kopf schütteln und das Buch zuschlagen.

Man mag mit diesem Postulat der aufklärerischen Poetik selbst einmal die Probe aufs Exempel machen, indem man sich das Klingsohr-­Märchen aus Novalis großem Roman „Heinrich von Ofterdingen“ (1802) zu Gemüte führt (NS 1, 290–315). Kann man sich all das, was da erzählt wird, noch vorstellen, ja will man es sich überhaupt vorstellen? Denn bei diesem Märchen handelt es sich um einen Versuch, die Forderungen der Wahrscheinlichkeit so weit wie möglich außer Kraft zu setzen; was da erzählt wird, soll so unwahrscheinlich sein wie nur irgend möglich, soll die Phantasie aufs äußerste herausfordern. Kann meine Phantasie, will sie dem noch folgen?

Die Lösung des „Wunderbaren“ vom „Wahrscheinlichen“

Was immer bei einer derartigen Lektüre herauskommen mag – jedenfalls hat die Romantik die Koppelung des Wunderbaren an das Wahrscheinliche als poetischen Kleinmut verworfen. Wenn den Leser bei der Lektüre einer Erzählung irgendwann das Gefühl ereilt, den Boden unter den Füßen zu verlieren, wenn er nicht mehr recht weiß, was Wirklichkeit ist und was Traum, wie ihm das zum Beispiel bei der Lektüre der Werke von Ludwig Tieck und E. T. A. Hoffmann immer wieder widerfahren wird, dann ist er eben dort angekommen, wo ihn der Romantiker hat hinführen wollen. In solchen Momenten soll er spüren, daß es noch mehr gebe als das Wirkliche, Natürliche, Sinnliche, Endliche, daß er innerlich für das Unendliche offen sei. Man mag sich das an Hoffmanns berühmter Erzählung „Der Sandmann“ (1816) vergegenwärtigen, wo dank einer raffinierten Erzählregie immer wieder die Grenzen zwischen der Realität und der Phantasiewelt des Helden Nathanael verschwimmen.

Die Aufklärung wiederum hat ein solches Abheben der Phantasie vom Boden der Natur als „Schwärmerei“ gegeißelt, als eine Art Krankheit, zu der sich ein ungutes Zuviel an Innerlichkeit auswachsen könne, als eine Gefahr für das, was man heute Selbstverwirklichung nennt. Über dem Schwärmen soll dem Ich drohen, sich immer tiefer in sich selbst einzuschließen, um sich am Ende im Labyrinth des eigenen Inneren zu verlieren und brütend in sich selbst zu verglühen. Deshalb gilt es hier als Aufgabe der Poesie und gerade der Poesie als der höchsten

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Form der Phantasietätigkeit, das moderne Ich durch „Schwärmer­kuren“ vor dem Absturz nach innen zu bewahren und auf den Boden der Natur zurückzubringen. Ganz anders die Romantik; für sie ist der Mensch nur da ganz Mensch, wo er schwärmt. Wer nicht schwärmen kann, ist für sie nur ein trüber Gast auf Erden, ein „­Philister“, ein „Spießer“, und als ein solcher Routinier der Alltäglichkeit mehr ein Tier, mehr eine Maschine, ein „Automat“ als ein Mensch.55

Mit dieser Auffassung von Poesie sind die Romantiker zu Entdeckern im Reich des Unbewußten und der Psyche überhaupt geworden. Kaum ein Autor vor ihnen hat die „Nachtseiten“ der menschlichen Natur schon so intensiv auszuleuchten vermocht wie sie. Wenn man so will, hat die Romantik das Pathologische poetisiert; das ist ihre große Stärke. Ein besonders überzeugendes Beispiel dafür ist E. T. A. Hoffmann. Wie er sich bei der zeitgenössischen Medizin und „Erfahrungsseelenkunde“ über Phänomene der Psychopathologie informiert hat, so sind seine Erzählungen später zu einer Inspiration für den Begründer der modernen Psychologie Sigmund Freud geworden.

Klassik und Romantik

Wie bereits dargelegt, haben die Frühromantiker dieses ihr philo­sophisch-poetologisches Programm – Entfesselung der Subjektivität, Verabsolutierung der Phantasie, Abkoppelung des Wunderbaren vom Wahrscheinlichen, „Poetisierung“ der Wirklichkeit, „progressive Universal­poesie“ als Weg des Ichs zu sich selbst, Kult der Innerlichkeit – zunächst im Blick auf ­Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ entwickelt. Aber – und damit soll nun der Gegensatz zwischen Klassik und Romantik näher ins Auge gefaßt werden, wie er gerade im „klassischen Jahrzehnt“ aufbricht 56 – ­Goethe selbst hat diese Vorstellungen durchaus nicht geteilt.

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Zwar sah sich auch ­Goethe als ein „Befreier des Individuums“, ja wollte er in seinem Beitrag zur Individualisierung geradezu den Kern seiner literarischen Lebensleistung erkennen (HA 12, 360), doch war und blieb ihm der Kult der Innerlichkeit letztlich ein Greuel. Und das kommt im „Wilhelm Meister“ auch überall mit großer Deutlichkeit zum Ausdruck; man denke nur an das 6. Buch, die „Bekenntnisse einer schönen Seele“, die ganz von der kritischen Distanz zur Feier des „geheimnisvollen Wegs nach innen“ leben. Auch ­Goethe ging es wesentlich um die Entfaltung von Individualität, Subjektivität und Phantasie, aber er verstand darunter etwas anderes als die Romantiker.

­Goethe hat gelegentlich einmal bemerkt, die Maxime „Erkenne dich selbst“, jenes Wort, das als Inschrift am Tempel von Delphi angebracht war und seit den Zeiten der alten Griechen als das große Schibboleth der Theologie und Philosophie allgegenwärtig war, sei ihm „von jeher (…) immer verdächtig (vorgekommen)“ (HA 13, 38). Er empfand es als problematisch, weil es den Menschen dazu verleiten kann, über der Beschäftigung mit sich selbst die Fühlung mit der „Außenwelt“ und mit den anderen Menschen zu verlieren. In und um sich selbst zu kreisen, um seiner ureigensten Phantasie zu leben, macht nach ­Goethe keineswegs frei, macht vielmehr unfrei, nämlich handlungsunfähig.

 

Phantasie ist für ­Goethe – um hier eine Formulierung aufzugreifen, die er im Alter im Gespräch mit Eckermann gebraucht hat – zunächst und vor allem „Phantasie für die Wahrheit des Realen“.57 Die Bedeutung der Phantasie liegt für ihn nicht so sehr darin, daß sie in der Lage ist, die Welt der Erfahrung, die endliche Welt zu überspringen, denn vielmehr darin, daß sie allererst wahrhaft dazu befähigt, Erfahrungen zu machen und in der Welt anzukommen. Denn es bedarf der Phantasie, um die Welt und den Menschen, die Natur und die gesellschaftlichen Realitäten überhaupt erfassen zu können. Eben hierin soll die Literatur nach ­Goethe die vornehmste Aufgabe der Phantasie erkennen. Das ist nun freilich eine Auffassung, die sich deutlich von der frühromantischen Programmatik des „Poetisierens“ und der „progressiven Universalpoesie“ unterscheidet, nämlich das genaue Gegenteil davon.

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Der menschliche Geist erweist seine Stärke für ­Goethe nicht darin, daß er in der Lage ist, die Wirklichkeit, die Natur, das sinnlich Gegebene nach Belieben zu überspringen und hinter sich zu lassen. Darin will er eher eine Schwäche erkennen, nämlich das, was die Aufklärer als Gefahr der Schwärmerei verhandeln. Die Stärke des Geistes liegt für ­Goethe darin, daß er den Menschen in die Lage versetzt, sich der wirklichen Welt, der Natur, dem Leben zu stellen und zu öffnen. Demgemäß heißt es in seinem lyrischen „Vermächtnis“ (1829):

Den Sinnen hast du dann zu trauen,

Kein Falsches lassen sie dich schauen,

Wenn dein Verstand dich wach erhält. (HA 1, 370)

Will sagen: wenn der Verstand dich vor Schwärmerei bewahrt. ­Goethe hält also bis zuletzt an jener „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ (P. ­Kondylis) fest, um die sich die Aufklärung des 18. Jahrhunderts vor allem bemüht hat. Sich an der Sinnlichkeit vorbei in übersinnliche Dimensionen hineinzuschwärmen, gilt auch ­Goethe noch als etwas Gefährliches, ja Krankes. Eben hier verläuft die Grenze zwischen ­Goethe und der Romantik, und damit zugleich die Grenze zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung. Wie für die Aufklärer Wieland und Lessing ist auch für ­Goethe „die Wahrheit des Realen“, das „offenbare Geheimnis“ der „Natur“ (HA 12, 467) das eigentlich Wunderbare, schön und schauerlich, bedrückend und faszinierend in einem, und so der Gegenstand, an dem sich die dichterische Phantasie vor allem abzuarbeiten hat.

Die „Lehrjahre“ als empfindsamer Roman

In diesem Sinne sind nun auch „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ zu lesen, also keineswegs so, wie ihn die Frühromantik interpretiert hat.58 Es handelt sich bei ihnen um einen Roman in der Tradition des empfindsamen Romans der Aufklärung. Ein zentrales Anliegen der Aufklärung ist, wie bereits mehrfach erwähnt, die Darstellung des empfindsamen Individuums, die darstellende Erkundung einer Individualität, die sich in ihrem Ich-Sein wesentlich über „Sinne“, „Herz“

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und „Einbildungskraft“ definiert. In diesem Sinne bringt der empfindsame Roman seit Samuel Richardson (1689–1761), Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und Laurence Sterne (1713–1768) zugleich das Glück einer individuellen Selbstverwirklichung, die im Ausleben von Sinnlichkeit, Gefühl und Phantasie gründet, und die Gefahren zur Darstellung, die von der „Schwärmerei“ für eine solche Selbstverwirklichung ausgehen, nämlich davon, daß „Herz und Einbildungskraft“ mit einem Individuum durchgehen, so daß es im Gefühlsüberschwang seine Phantasieprodukte mit der Wirklichkeit verwechselt.

Nichts anderes führt ­Goethe im „Wilhelm Meister“ vor, wie zuvor schon auf andere Weise im „Werther“. Die Figuren der schwärme­rischen Innerlichkeit, Mignon, den Harfner, die „schöne Seele“ – und das sind eben die Figuren, die die Frühromantiker vor allem fasziniert haben – läßt ­Goethe allesamt scheitern; das 6. Buch, die „Bekenntnisse einer schönen Seele“, liest sich fast schon wie eine Parodie auf die „deutsche Innerlichkeit“. Der Held Wilhelm Meister kommt nur davon, weil seine entsprechenden Neigungen von der „Gesellschaft vom Turm“ einer subtilen „Schwärmerkur“ unterzogen werden. Das haben die Frühromantiker zunächst übersehen oder nicht wahrhaben wollen.

­Goethe geht also den Weg nicht mit, den die Frühromantiker angesichts der Französischen Revolution und ihrer turbulent-chaotischen Folgen erkunden, den Weg nach innen, und innen nach oben. Statt dessen sucht er sich in Werken wie den „Lehrjahren“ und dem „Faust“ neuerlich der Prinzipien des aufklärerischen Denkens zu vergewissern, trotz oder vielmehr gerade wegen ihrer Desavouierung durch die Revolution, deren Verlauf von ihm zunächst ja als katastrophal erlebt worden ist. Insofern rücken für ­Goethe Revolution und Romantik eng zusammen; es sind für ihn beides gleichermaßen Formen eines schwärmerischen Aufs-Ganze-Gehens.

­Goethe und die Antike

Hier liegen nun auch die Gründe dafür, daß ­Goethe anders als die Romantiker am Vorbild der Antike festgehalten hat,59 so sauer ihm dies in Zeiten der Revolution zunächst geworden ist. Natürlich hat

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er nicht mehr geglaubt, daß man die Kunst der Antike unter modernen Bedingungen einfach nachahmen und durch bloße Nachahmung wiederaufleben lassen könne; die Zeiten des frühmodernen Humanismus waren auch für ihn vorbei. Aber er war der festen Überzeugung, daß die Beschäftigung mit der Kunst der Griechen, wie er sie durch einen klaren Wirklichkeitssinn, durch Natürlichkeit und durch eine verfeinerte Sinnlichkeit ausgezeichnet sah, für das zu schwärmender Innerlichkeit neigende moderne Individuum eine Art Medizin sein könnte, ein Heilmittel, das es von seiner Neigung kurieren könnte, sich in Subjektivitäten zu ergehen und in sich selbst zu verlieren, das seinen Realitätssinn schärfen könnte. Die Beschäftigung mit der Kunst der Antike ist für ­Goethe zunächst und vor allem eine „Schwärmerkur“ für das moderne Individuum.

Dabei geht es ihm keineswegs darum, die Individualisierung, den modernen Drang zu individueller „Selbstverwirklichung“ generell zu begrenzen. Im Gegenteil – gerade solche „Selbstverwirklichung“, solche „Bildung“ des Individuums ist ihm von seinen Anfängen bis zu seinen letzten Arbeiten ein zentrales Anliegen gewesen; als ein „Befreier des Individuums“ und nicht als ein Klassiker wollte er den Deutschen in Erinnerung bleiben. Nicht um der Individualisierung und dem Drang zur „Selbstverwirklichung“ einen Riegel vorzuschieben, fordert er die Orientierung an der Kunst der Antike, sondern um sie zu fördern, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß sie in der Tat gelingen könne. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn er nach 1815 in Werken wie der „Italienischen Reise“ (1817) und dem „Zweiten Römischen Aufenthalt“ (1829) oder auch in dem Zeitschriftenprojekt „Über Kunst und Altertum“ (1816–1832) die Antike verstärkt gegen die romantischen Tendenzen der Zeit in Stellung bringt.

Der Bruch zwischen Romantik und Klassik

Das alles haben die Frühromantiker bei der Lektüre des „Wilhelm Meister“ zunächst überlesen, aber schließlich haben sie es doch gemerkt, und die Enttäuschung war groß. Es kam zum Bruch mit den Weimarer Größen, zunächst mit Wieland, dann mit Schiller und schließlich auch mit ­Goethe. Die Romantiker verließen Jena, verließen den Dunstkreis ­Goethes. Friedrich Schlegel denunzierte ­Goethe vor dem mehr und mehr auf nationalromantische Vorstellungen gestimmten Publikum als einen „deutschen Voltaire“ (GU 1, 295), als einen irgendwie doch ein wenig platten und insofern undeutschen Aufklärer, und bald hat

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man sich trotz des einen oder anderen Wiederannäherungsversuchs nur noch bekämpft.

Die Schimäre der „Hochklassik“

Und damit ein letztes Mal zurück zum alten Epochenschema. Es dürfte deutlich geworden sein, daß die Zeit der sogenannten Hochklassik, daß insbesondere jenes „klassische Jahrzehnt“, das der Höhepunkt der Geschichte der deutschen Nationalliteratur gewesen sein soll, zwar eine äußerst bewegte, an literarischen Aktivitäten reiche, produktive Zeit gewesen ist, daß hier aber keineswegs das eingetreten ist, was man als Durchbruch zu einem kraftvollen und durch nichts zu irritierenden Selbstbewußtsein der deutschen Kultur im Zeichen des einen, alle verbindenden deutschen Volksgeists und zu einer Literatur von unüberbietbarer ästhetischer Vollendung hat begreifen wollen. ­Goethe ist durch die Französische Revolution verunsichert und erprobt die verschiedensten literarischen Modelle, und neben ihm und seinen Weimarer Mitstreitern Wieland, Herder und Schiller wächst die romantische Bewegung heran, die letztlich ganz andere Ziele verfolgt als die Weimarer Klassik. Der Epochenbegriff Hochklassik faßt, insofern er eine einzige durchgreifende Tendenz, einen einheitlichen Geist der Jahre 1794 bis 1805 behauptet, kaum etwas von dem, was die Literatur damals wirklich beschäftigte. Es sind Jahre eines Auseinanderlaufens der Bestrebungen, eines sich immer mehr verschärfenden Konflikts zwischen Klassik und Romantik, zwischen Aufklärern „trotz alledem“ und Gegenaufklärern.

Jenseits der literarischen Fronten

Vollends unhaltbar wird die Vorstellung vom „klassischen Jahrzehnt“, wenn man sich vor Augen führt, daß in diesen Jahren neben den Weimarer Klassikern und den Romantikern eine ganze Reihe von Autoren aktiv waren, die sich weder der einen noch der anderen Seite zuschlagen lassen und die doch das Bild der Epoche wesentlich mit prägen. Zu diesen Einzelgängern jenseits der literarischen Fronten sind vor allem zu zählen: der alte Klopstock, der in der ­Goethezeit eine letzte produktive Phase durchlebte und nach wie vor sein Publikum hatte, Karl Philipp Moritz, ein Autor, der lange Zeit vergessen war, dessen Werk jedoch in den letzten Jahrzehnten eine Renaissance erlebte und in der Germanistik besonders große Beachtung fand, Jean Paul, der meistgelesene Autor der Epoche neben ­Goethe, und schließlich ­Hölderlin und Kleist, letztere seinerzeit sehr viel weniger erfolgreich als ­Goethe, Schiller oder Jean Paul, aber gerade aus heutiger Sicht aus

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dem Bild der Epoche nicht wegzudenken; denn von allen Autoren der ­Goethezeit sind sie von denen, die die Moderne des 20. Jahrhunderts gemacht haben, am meisten geschätzt und am intensivsten studiert worden.

Im folgenden sollen zunächst diese fünf Einzelgänger näher ins Auge gefaßt werden. Denn so läßt sich eine Perspektive auf die ­Epoche entwickeln, die besonders weit von dem alten Epochenschema wegführt und die insofern in besonderem Maße dabei helfen kann, sich von all dem zu lösen, was es der Auseinandersetzung mit der Literatur der ­Goethezeit an Hindernissen in den Weg legt.

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2 Reinhold Grimm, Jost Hermand (Hrsg.): Die Klassik-Legende. Frankfurt 1971.

3 Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989. – Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp (Hrsg.): Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. München 1991. – Dies. (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart Weimar 1994. – Jost Hermand: Geschichte der Germanistik. Reinbek 1994.

4 Eric J. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus seit 1780. Frankfurt 1992.

5 Michel Vovelle: Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten. Frankfurt 1985.

6 Hagen Schulze: Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung. 3. Aufl. München 1992. – Hans Mommsen: Nation und Nationalismus in sozialgeschichtlicher Perspektive. In: Wolfgang Schieder, Volker Sellin (Hrsg.): Sozialgeschichte in Deutschland. Bd. 2. Göttingen 1986, S. 162–184.

 

7 Michael Zaremba: Johann Gottfried Herder – Prediger der Humanität. Köln 2002. – Jens Heise: Johann Gottfried Herder zur Einführung. 2. Aufl. Hamburg 2006.

8 Michael Zaremba: Johann Gottfried Herders humanitäres Nations- und Volksverständnis. Berlin 1985.

9 Esther-Beate Körber: Görres und die Revolution. Husum 1986. – Armin Schlechter: Die Romantik in Heidelberg. Brentano, Arnim und Görres am Neckar. Heidelberg 2007. – Uwe Daher: Die Staats- und Gesellschaftsauffassung von Joseph Görres im Kontext von Revolution und Restauration. München 2007.

10 Andrea Albrecht: Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philo­sophie und Publizistik um 1800. Berlin New York 2005.

11 Gottfried Willems: „Ihr habt jetzt eigentlich keine Norm, die müßt ihr euch selbst geben“. Zur Geschichte der Kanonisierung ­Goethes als „klassischer deutscher Nationalautor“. In: Gerhard Kaiser, Heinrich Macher (Hrsg.): Schönheit, welche nach Wahrheit dürstet. Heidelberg 2003, S. 103–134.

12 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit ­Goethe. Hrsg. v. Otto Schönberger. Stuttgart 1994, S. 238.

13 Manfred Koch: Weimaraner Weltbewohner. Zur Genese von ­Goethes Begriff „Weltliteratur“. Tübingen 2002.

14 Jörg-Jochen Müller (Hrsg.): Germanistik und deutsche Nation 1806–1848. Stuttgart 1974. – Rainer Rosenberg: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik: Literaturgeschichtsschreibung. Berlin 1981. – Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Stuttgart 1989.

15 Rolf-Peter Carl: Prinzipien der Literaturbetrachtung bei Georg Gottfried Gervinus. Bonn 1969.

16 Wolfgang Leppmann: ­Goethe und die Deutschen. 2. Aufl. Frankfurt 1982. – ­Goethe im Urteil seiner Kritiker. Hrsg. v. Karl Robert Mandelkow. 4 Bde. München 1975–1984. – Karl Robert Mandelkow: ­Goethe in Deutschland. 2 Bde. München 1980–1989.

17 Hans Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reichs bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära. 1700–1815. München 1987. – Lothar Gall: Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. München 1993. – Georg Schmidt: Wandel durch Vernunft. Deutschland 1715–1806. München 2009.

18 Reinhard Wittmann: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Tübingen 1982. – Jost Schneider: Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland. Berlin New York 2004.

19 Karl Otmar v. Aretin (Hrsg.): Der aufgeklärte Absolutismus. Köln 1974. – Harm Klueting, Helmut Reinalter (Hrsg.): Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich. Wien u. a. 2002.

20 Ernst Schulin: Die Französische Revolution. 4. Aufl. München 2004. – Hans-Ulrich Thamer: Die Französische Revolution. 3. Aufl. München 2009.

21 Theo Stammen, Friedrich Eberle (Hrsg.): Deutschland und die Franzö­sische Revolution. Darmstadt 1988.

22 Inge Stephan: Literarischer Jakobinismus in Deutschland. Stuttgart 1976.

23 Carl Schmitt: Politische Romantik. 6. Aufl. Berlin 1998.

24 Hans-Dietrich Dahnke: Französische Revolution. In: Bernd Witte u. a. (Hrsg.): ­Goethe-Handbuch. 6 Bde. Stuttgart Weimar 2004. Bd. 4/1, S. 313–319.

25 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. München 1998. – Elisabeth Fehrenbach: Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß. München 2001. – Dieter Langewiesche: Europa zwischen Restauration und Revolution. 1815–1849. München 2007.

26 Walter Jaeschke (Hrsg.): Philosophie und Literatur im Vormärz. 2 Bde. Hamburg 1995. – Martina Lauster u. a. (Hrsg.): Vormärzliteratur in europäischer Perspektive. 3 Bde. Bielefeld 1996–2000.

27 Helmut Koopmann: Das junge Deutschland. Darmstadt 1993.

28 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. 3 Bde. Stuttgart 1971–1980. – Manfred Engel: Vormärz, Frührealismus, Biedermeierzeit, Restaurationszeit? Komparatistische Konturierungsversuche für eine konturlose Epoche. In: Oxford German Studies 40 (2011), S. 210–220.

29 Lessing: Das Theater des Herrn Diderot. In: ders.: Werke. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert. 8 Bde. München 1970–1978. Bd. 4, S. 148–151, hier S. 148.

30 Matthias Luserke: Sturm und Drang. Autoren – Texte – Themen. Stuttgart 1997. – Ulrich Karthaus: Sturm und Drang. Epoche – Werke – Wirkung. 2. Aufl. München 2007.

31 Klaus Peter: Stadien der Aufklärung. Wiesbaden 1980. – Wolfgang Albrecht: Deutsche Spätaufklärung. Halle 1987.

32 Alexander Pope: An Essay on Man. Hrsg. v. Frank Brady. New York London 1965, S. 42.

33 Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1. Stuttgart 1974. – Lothar ­Pikulik: Leistungsethik kontra Gefühlskult. Göttingen 1984. – Frank Baasner: Der Begriff „sensibilité“ im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1988. – Nikolaus ­Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Stuttgart 1988.

34 Karl S. Guthke: Englische Vorromantik und deutscher Sturm und Drang. Göttingen 1958. – Paul van Tieghem: Le sentiment de la nature dans le Préromantisme européen. Paris 1960.

35 Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. In: ders.: Werke. Hrsg. v. Wolfgang Pross. 2 Bde. München Wien 1984–1987. Bd. 1, S. 355–473, hier S. 411.

36 Georg Jäger: Empfindsamkeit und Roman. Stuttgart 1969. – Peter Uwe Hohendahl: Der europäische Roman der Empfindsamkeit. Wiesbaden 1977.

37 Lothar Pikulik: „Bürgerliches Trauerspiel“ und Empfindsamkeit. Köln Graz 1966.

38 Heiko Buhr: „Sprich, soll denn die Natur der Tugend Eintrag tun?“ Studien zum Freitod im 17. und 18. Jahrhundert. Würzburg 1998. – Roger Paulin: Der Fall Wilhelm Jerusalem. Zum Selbstmordproblem zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit. Göttingen 1999. – Andreas Bähr: Der Richter im Ich. Die Semantik der Selbsttötung in der Aufklärung. Göttingen 2002.

39 Kirsten Peters: Der Kindsmord als schöne Kunst betrachtet. Eine motivgeschichtliche Untersuchung zur Literatur des 18. Jahrhunderts. Würzburg 2001.

40 Rolf Selbmann: Deutsche Klassik. Epoche – Autoren – Werke. Darmstadt 2005.

41 Terence James Reed: Mehr Licht in Deutschland. Eine kleine Geschichte der Aufklärung. München 2009.

42 So z. B. noch: Wilhelm Voßkamp: Klassik als Epoche. In: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hrsg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München 1987, S. 493–514. – Wilfried Barner: Altertum, Überlieferung, Natur. Über Klassizität und autobiographische Konstruktion in ­Goethes „Italienischer Reise“. In: ­Goethe-Jb 105 (1988), S. 64–92. – Conrad ­Wiedemann: Deutsche Klassik und nationale Identität. In: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.): Klassik im Vergleich. Stuttgart Weimar 1992, S. 541–569.

43 Johann Joachim Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst. Dresden 1755. ND Baden-Baden Straßburg 1962, S. 19.

44 Gerhard Sauder: Ästhetische Autonomie als Norm der Weimarer Klassik. In: Friedrich Hiller (Hrsg.): Normen und Werte. Heidelberg 1982, S. 130–150.

45 Gerhard Schulz: Romantik. 2. Aufl. München 1996. – Helmut Schanze (Hrsg.): Romantik-Handbuch. 2. Aufl. Stuttgart 2003. – Monika Schmitz-Emans: Einführung in die Literatur der Romantik. 2. Aufl. 2007. – Detlef Kremer: Romantik. 3. Aufl. Stuttgart Weimar 2007. – Helmut Schanze: Literarische Romantik. Stuttgart 2008.

46 Lothar Pikulik: Frühromantik. Epoche – Werke – Wirkung. 2. Aufl. München 2000. – Armand Nivelle: Frühromantische Dichtungstheorie. Berlin 1970. – Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Frankfurt 1989.

47 Friedrich Schlegel: Fragmente. In: ders., August Wilhelm Schlegel (Hrsg.): Athenaeum. Eine Zeitschrift. 3 Bde. 1798–1800. ND Darmstadt 1973. Bd. 1, S. 179–322, hier S. 232.

48 Ebenda, S. 204–206.

49 Hans Peter Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670–1740. Bad Homburg 1970.

50 Orrin F. Summerell: Totalität. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter u. a. Bd. 10. Basel 1998, Sp. 1303–1307.