Das Eulenrätsel

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10 Kapitel Die Grenze schreitet voran

Eulalia und Lord Waxmore bildeten die Vorhut. Die Amerikanerin war wieder zu Kräften gekommen, überzeugt davon, doch noch nicht im Jenseits gelandet zu sein. Obwohl die Nebel an Dichte nichts zu wünschen übrig ließen, kam die Gruppe gut vorwärts. Hinter dem Kapuzenmann und den beiden Jugendlichen bildete Jim, der die amerikanische Nationalhymne in allen Vierteltonlagen sang, zusammen mit dem blinden Vampir die Nachhut. „Wann gehen denn endlich seine Alkoholreserven zu Ende?“, jammerte Pat.

„Leider nie, solange wir im Nichtigen Reich sind!“, antwortete Elester, während er mit den Metallspitzen gegen einen herabhängenden Ast schlug.

„Hier bleibt alles so, wie es war, als wir am ersten Tag in diese Welt geschleudert wurden: es gibt keine wesentliche Veränderung. Habt ihr euch nicht gefragt, warum eure Kleider nicht schmutzig und zerfetzt werden?“

„Aber essen und trinken müssen wir!“, stellte Penny Lo fest.

„Ja, das schon, aber sonst bleibt immer alles gleich!“

Irgendwann würde man hier wahrscheinlich vor Langeweile sterben!“, sinnierte das Mädchen weiter, während Draculetta tief schlafend über ihrem Schulterblatt baumelte, die Krallen im Mantel festgehakt.

„Was passiert mit den Tieren, die wir essen, und dem Wasser, das wir trinken, wenn hier alles gleich bleibt?“, wollte Pat wissen, der gerne länger über ein Problem nachdachte.

„Sie reproduzieren sich, als wäre nichts gewesen“, gab Elester zur Antwort.

„Das heißt, es gibt hier auch keinen Tod?“, wandte Penny Lo ein. Eulalia hielt mitten in ihren Ausführungen inne. Lord Waxmore musste leider darauf verzichten, schnell etwas über den Vorteil von Flachbildschirmen gegenüber herkömmlichen Fernsehgeräten zu erfahren.

„Wir können hier also nicht sterben…?“, fragte die einzig normale Erwachsene nach und fügte schnell hinzu, „aber wir lösen uns doch auf, wenn wir mehr als sieben Stunden an einem Ort verweilen. Das ist doch unlogisch!“

„Nun, auflösen schon, aber dann würden wir als Partikel herumschwirren. Stelle ich mir nicht gerade lustig vor! Tatsache ist, dass wir in dieser Welt keine Verbindung zu den Menschen und zu anderen Wesen haben. Niemand weiß etwas von uns, wir haben keinen Kontakt zur Erde, auf der Pflanzen wachsen und verblühen, hier ist alles so unveränderlich wie in einer Konservendose! In gewisser Hinsicht können wir also nicht sterben. Aber, wie gesagt, leben können wir hier auch nicht! Und irgendwann würden wir in Nichtigkeit vergehen.“

„Aber, Mister Claw...!“, nuschelte Merlot, „dann könnte ich ja alle aussaugen, und sie würden sich wieder regenerieren. Das würde mir die ewige Jagd in der Nacht ersparen!“

„Sie vergessen, lieber Vampir, es würde uns Schmerz bereiten, und Schmerz ist hier nur zu gut zu spüren, da diese Welt in ihrer Eintönigkeit selbst schon fast als schmerzlich bezeichnet werden kann!“, entgegnete Lord Waxmore und war froh, einen Moment lang eine andere Stimme als die von Eulalia zu hören. Die Sicht betrug nur noch ein paar Meter, die Nebel schienen sie einzukreisen.

„Ach, ich finde es hier gar nicht so unbequem, außer dass wir keine Unterkunft haben. Ich meine, so ein kleines grünes Waldhäuschen vielleicht, das sich nicht sofort auflöst, mit einem netten Garten und einem sehr süßen Gartenzwerg, ich liebe Gartenzwerge. Gut, das Klima ist nicht so besonders und ich vermisse ‚Das Liebesnest von Charlie und Ann’ am Dienstag Nachmittag um halb drei, aber man könnte doch… Aua!!“ Eulalia hatte sich während ihren Mitteilungen zu Elester und den Jugendlichen umgedreht. Da auch Lord Waxmore nicht geradeaus, sondern auf den Moosboden geschaut hatte, hatte die Vorhut den Metallmasten nicht gesehen, gegen den Eulalia soeben gerannt war.

„Die Grenze…, sie kommt näher!“, flüsterte Elester beinahe andächtig. Alle starrten den Pfosten hoch, der vom Waldboden aufragte.

„Ahhhh! Wie nah ist denn diese Grenze?“, fragte Eulalia entsetzt. Grenzen waren für sie seit jeher etwas Unbequemes mit all dem Fremden, das dahinter lauern mochte.

„Das weiß nur die Grenze selbst. Sie entscheidet, wann sie sich ganz offenbart. Aber eines ist gewiss: wir müssen achtsam sein!“

„Achtsam, wieso?“, fragte Pat unruhig.

„Je näher die Grenze kommt, desto näher rückt der Sumpf der Banalen Belanglosigkeiten. Das ist die Grenze des Nichtigen Reiches auf unserer Seite. Wenn wir nicht genau überlegen, was wir sagen, dann reden wir, je näher wir dem Sumpf kommen, nur noch Stumpfsinn!“ Der Kapuzenmann fixierte Eulalia, als wollte er sie aufspießen. Einen Moment lang schwiegen alle.

„Und was ist das hier? Ein Grenzpfosten?“ Penny Lo deutete auf den Masten.

Elester zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht…“

Hinter den Sprechenden schnüffelte jemand. Die einzig normale Erwachsene, Lord Waxmore, Elester, die Jugendlichen sowie Sucky drehten sich jäh um.

Der Vampir hatte seine Nase in die Luft gestreckt, saugte die Waldluft ein und witterte. „Irgendetwas bewegt sich auf uns zu, ich rieche es! Etwas Lebendiges…, etwas, das Blut in seinem Köper hat!“, flüsterte Merlot, während Fischa mit großen Augen in den Dunsthimmel über ihnen starrte.

Plötzlich stach ein kleiner Vogel aus der Nebeldecke und landete. Merlot wollte sich schon auf ihn stürzen, doch plötzlich stockte er.

„Posi!“, rief Penny Lo.

„Mist!”, fluchte der Vampir.

Ein völlig atemloser Spatz saß mit hängenden Flügeln im weichen Moos. „Hab’ ich euch endlich erreicht!“, keuchte er.

Penny Lo kniete sich zu Posi und hob ihn behutsam auf. Die Brust des kleinen Vogels hob und senkte sich hastig. Es dauerte eine Weile, bis er sich in der Wärme von Penny Los Händen etwas erholte. Jeder bombardierte ihn natürlich sofort mit Fragen: wie es der restlichen Gruppe gehe und so fort.

„Chaos... komplettes Chaos!“, piepste Posi, nach Atem ringend. „Die Gruppe gibt es nicht mehr, sie hat sich aufgelöst…“

„Was? Heißt das, es sind alle verschwunden?“, fragte Pat erschrocken.

„Nein, nein, die einzelnen gibt es schon noch, aber sie gehen nicht mehr gemeinsam. Professor Draciterius und Dr. Sanguinis Anatomis haben sich nur noch gezankt! Wir haben den Ort nicht mehr gefunden an dem wir hier im Nichtigen Reich gelandet sind, und bald hat sich jeder mit jedem gestritten. Jetzt irren die meisten alleine durch die Wälder!“

„Oh Gott, das heißt, sie sind verloren! Da sie wohl kaum die Grenze erreichen wollen, werden sie ewig so wandern. Wie entsetzlich!“

Elester blickte auf. Diese Kombinationsgabe in der Nähe des Sumpfes der Banalen Belanglosigkeiten hatte er von Eulalia nicht erwartet. Aber offensichtlich handelte es sich hierbei um eine paradoxe Reaktion.

„Und Bel Raven?“, fragte Penny Lo den kleinen Spatz.

„Ach, Bel, die kennt ja die Geschichte. Sie hat einfach ein Lied gesungen, gelächelt und ist ihres Wegs gegangen, nachdem sie mir den Tipp gegeben hat, euch zu suchen!“ Der Spatz lugte nun keck unter Penny Los Handflächen hervor.

„Und jetzt willst du mit uns zur Grenze?“, fragte Elester ernst.

„Nun ja, ich könnte die Grenze überfliegen und jemandem eine Botschaft überbringen! Ich bin ja ein BMS-Spatz, ein: Bird-Message-Service-Spatz!“

„ Hmm… das wusste ich allerdings nicht. Wo ist denn Geier Willy?“, fragte Elester dann unvermittelt.

„Ach, der ist sicher schon drüben. Wir Vögel können ja die Grenze überfliegen. Er meinte, er hätte einen Auftrag, wusste aber nicht welchen. Flog einfach so los!“

„Das heißt, der Geier hat vielleicht schon den Sumpf, die Mauer… Aber vielleicht hat ihn ja auch das Monster verschluckt!“, rief Pat.

„Aber woher! Wir Tiere sind unempfindlich gegenüber der unendlichen Gier. So etwas kennen nur die Menschen!“ Posi zuckte entschuldigend mit den Flügeln.

„Lasst uns doch erst einmal rasten!“, schlug Penny Lo vor, und alle setzten sich auf den weichen Boden. Doch schon bald überkam sie eine seltsame Unruhe.

„Ich weiß nicht warum, aber ich fühle mich hier nicht wohl!“ Pat starrte den Masten empor.

„Vielleicht sollten wir lieber doch wieder unserer Füße in die Hände nehmen und unseren Schritten Folge leisten!“ Lord Waxmore strich seine glatten Haare im Mittelscheitel zurecht, während er sich erhob. Auch die anderen waren bereit weiterzugehen, da alle ein seltsames Gefühl beschlich. Keiner konnte genau sagen wieso, doch es war ihnen unwohl an diesem Ort. Also brachen sie auf.

Nach längerem Schweigen riss Elester die anderen aus ihren Gedanken: „Eines ist klar: Ohne Hilfe von außen können wir nicht über die Grenze!“Niemand widersprach, Penny Lo und Pat Swift wirkten konfus.

„Sag, warum weißt du immer alles so genau? Wir hingegen haben nie einen blassen Schimmer!“

„Ich habe mich mit Bel Raven unterhalten, bevor sich die Gruppe getrennt hat“, gab Elester zu.

„Und dann hat sie dir alles schon im vorhinein erzählt?“

„Nein, sie hat gesagt, dass ich alles, was nötig sei, im gegebenen Moment erfahren würde! Und so ist es auch. Ich meine, ich hoffe, sie hat die Wahrheit gesagt…“, fügte der Kapuzenmann hinzu und machte kurz einen etwas erschrockenen Eindruck.

„Tja, das hoffen wir alle...!“, meinte Penny Lo und blickte verzweifelt auf Pat.

So wanderten sie und wanderten und wanderten…

„Lord Waxmore, es ist wirklich eine originelle Idee, Radieschenpüree mit Ananastortenecken zu spicken, diese dann mit einer durchsichtigen Hochglanzfolie leicht zu umwickeln, sodass sich daraus, mit dem richtigen Farbstoff blanchiert und mit Vitaminen angereichert, eine Masse Nahrungsmittelergänzungssubstanz ergibt, um diese danach zu kleinen Pastillen zu formen und sich so das aufwändige Kochen zu ersparen, schließlich zu tranchieren und Jamie Oliver als Hengsthuffrikadee in Radieschenpüree mit Ananaseckentorten zu servieren!“

 

„Anhalten!“, brüllte Elester plötzlich wie am Spieß.

„Oh, mein Gott, was ist das?“ Eulalia und Lord Waxmore sahen vom Boden auf und was sie vor sich sahen war – nichts. Dort, wo Waldboden zu vermuten gewesen wäre, stieg dichter Nebel auf. Es roch nach fauligem Schlamm.

„Aber zuerst war da doch Wald. Ich konnte noch Bäume sehen“, stammelte Eulalia.

„Eine Sinnestäuschung: Das Gehirn reproduziert Eindrücke, die es gespeichert hat, weil es erfahrungsgemäß plötzlich Unerwartetes nicht so schnell einordnen kann“, überlegte Pat laut.

„Du olle Tosse, kriegst auch überhaupt nichts mit!“

Wütend wendete sich Eulalia dem Kapuzenmann zu. „Wer war das, Sie etwa?!“

Der Angesprochene murmelte bloß: „Nein…, gar nichts hab ich gesagt!“

Alle stierten wieder in den Abgrund, dann meinte Elester fast feierlich: „Meine Herrschaften, die Grenze ist auf uns zugekommen!“

„Was? Das ist die Grenze? Und der ganze Wald dort vorn ist einfach… verschwunden?“, fragte Penny Lo. Draculetta wachte auf, als das Mädchen seine Schultern hochzog.

„Für die Grenze spielen Zeit und Raum keine Rolle. Sie ist da, wenn es ihr passt!“

„Ah… irgendwie hab ich Bauchweh…, und es stinkt hier immer mehr!“ Angeekelt hielt Pat sich die Nase zu.

„Ja, Leute, das ist kein angenehmer Ort. Aber wir müssen trotzdem warten, bis sich die Nebel etwas lichten.“ Elester deutete in den von milchigem Dunst verschleierten Abgrund.

Das Schlimme am Warten war nicht einmal der Gestank. Viel schlimmer war, dass jeder bald wieder ein unangenehmes Ziehen und Drücken spürte.

Plötzlich horchte Merlot auf. „Was ist das?“

Bald hörten es die anderen auch. Ein Gebrabbel und Gemurmel drang aus der Tiefe des Abgrunds. Suckys dünne Haut dehnte sich erwartungsvoll.

„Stimmen, das sind ja Stimmen von Menschen“, flüsterte Eulalia entsetzt und hielt sich die Hand vor den Mund.

„Na und… Daschchch Leben ischchch ein einzzziger Sumpf... jahhhwolll, meine Herrschaffften, ein Sumpf… Mann, tut mir mein Schchhädel weh heute!“

„Halt doch den Mund, Jim! Wir können gar nicht hören, was da unten gesprochen wird“, fauchte Pat.

„Das wäre auch nicht besonders interessant!“ Elesters Metallklinken wiesen in den Abgrund.

Die Nebel hatten sich zu lichten begonnen. Was sie nun sahen, jagte ihnen einen Schauer über den Rücken. Einen Schauer des Grauens über den Sumpf der banalen Belanglosigkeiten. Wie weit sich der Sumpf erstreckte, konnte keiner sehen, aber er schien riesig.

Gespickt von unzähligen Metallmasten zog sich grauer Schlamm, so weit der Blick reichte. Zuerst konnte man die Figuren kaum erkennen, da sie genauso grau waren wie der Sumpf. Doch als sich die Nebel weiter lichteten, schrie Eulalia: „Das sind Menschen, die ziellos durch den Sumpf waten!“

„Ja, Menschen, die dabei sind, im Sumpf ihres Gebrabbels allmählich zu versinken“, flüsterte Elester.

Alle starrten mit Entsetzen nach unten. Unzählige Menschen wateten durch den Sumpf und redeten. Die Hände waren ihnen an den Rücken gebunden und bald war zu erkennen, dass sie in ein Schnurlostelefon sprachen, das um ihren Hals hing. Mit jedem Wort, das sie brabbelten, tropfte grauer Schleim aus dem Telefon und ließ den Sumpf ansteigen. Manchen stand der Sumpfschleim schon bis zum Hals, aber sie redeten und redeten, bis ihnen der Schleim in den Mund drang. Nur noch Nasen und Augen überragten die Oberfläche der grauen Schlacke. Augenpaare lugten aus der schlammigen Masse und sahen anderen Menschen beim Versinken zu. Eulalia fiel in Ohnmacht. Selbst Sucky schien der Appetit vergangen zu sein, während Fischa von Pats Schulter zurück in den Wald gesprungen war.

„Ah, mir tut alles weh… mein Gott, diese Masten, das sind ja Mobilfunkmasten“, rief Penny Lo.

„Ja, tausende! Dieses Ziehen in unserem Körper, diese Schmerzen – das sind Auswirkungen akustischer Umweltverschmutzung!“

Sucky übergab sich und spie grauen Schleim.

„Wir müssen uns konzentrieren, noch ein paar Minuten. Wo sind die Tiere? Draculetta, Tarantilli, Posi…!“

Elester keuchte. Ein vernünftiges Wort schien ihm an diesem Ort kaum über die Lippen zu kommen. Er war der einzige, der noch nahe am Abgrund stand.

Draculetta flatterte verschlafen auf Elesters Schulter. „Mann, ist das laut hier!“

„Flieg, so schnell du kannst, über den Sumpf, aber pass auf mit den Masten…“

„Unmöglich, Elester, bei dem Lärm verlier ich die Orientierung!“

„Dann nimm Tarantilli mit. Sie wird dich durch den Mastenwald lotsen. Ihr wisst, was ihr zu tun habt! Helft Posi auf seiner Mission. Posi, es…, es ist so weit.“

„Gut, Elester, ich bin bereit!“ „Dann such …diese… Le…, diese Fr… eule! Du weißt schon, wen ich… meine…“ Elester konnte kaum mehr klar denken und brach schließlich zusammen. Pat und Penny Lo zogen ihn rasch vom Abgrund weg und torkelten zurück in den schützenden Wald. „Ach, natürlich, schon wieder diese Halbgöttin! Wäre ja nicht das erste Mal, dass ich nach ihr suche!“, piepste Posi und erhob sich in die Lüfte – gemeinsam mit einer Fledermaus, auf der eine Flohspinne saß. Da es Tag und Draculetta natürlich ganz duselig und unausgeschlafen war, übernahm Tarantilli sofort das Kommando.

Kapitel 11 Die Sonne hat ein Gesicht

Nachdem der Strand wieder sauber war, saßen Kat, Lerry und Maracella am Meer. Sie blickten hinaus auf den Horizont, zu dem Feuerball, der langsam im Meer versank.

„Es sieht ja wirklich so aus, als wenn der Himmel und das Meer eins werden, da draußen!“, sagte Maracella und dachte an ihre verbrannte Geschichte. Kat und Lerry schwiegen. Auch sie dachten nach.

„Sag, Lerry, wovon handelt unsere Geschichte eigentlich? Ich war ja die ganze Zeit hier, die Haupthandlung hab ich irgendwie nicht mitbekommen.“

„Hmm“, brummte Lerry und malte ein Ei in den Sand.

„Na, sag schon!“, drängte Kat.

„Na ja, also, es ging um… so was wie einen Göttervogel oder eine Göttin, der genaue Unterschied war mir nie wirklich klar.“

„Und?“, wollte jetzt auch Maracella wissen.

„Naja, dieser Göttervogel legte sein Ei in ein Nobelinternat, so ähnlich wie Eton, was aber vorerst niemand bemerkte.“

„Cool!“, meinte Maracella, „aber warum tat der Vogel das?“

Lerry zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht. Wahrscheinlich hatte er so etwas wie einen göttlichen Auftrag. Es war allerdings ein ziemliches Chaos, denn plötzlich tauchte eine neue Lehrerin auf, angeblich ohne jede Lehrbefugnis, aber mit sehr viel ‚Know how’.“

„Und alle Figuren, die Lisa erschuf, schlüpften die… aus dem Ei?“, wollte Maracella wissen.

„Ja, so in etwa. Und die Lehrerin entpuppte sich als Halbgöttin!“

„Und? Was geschah dann?“, fragte Kat bestimmt, dem Geschichten schnell zu kompliziert werden konnten.

Doch Lerry zeigte nur auf das verglühende Rot. „Jetzt hat die Sonne ein Gesicht, könnt ihr es sehen?“ Seine Stimme klang ernst. Und wirklich, als Lerry und Maracella konzentriert auf den Horizont blickten, sahen sie, wie weit draußen Schiffe Muster in den sinkenden Feuerball zeichneten. Der Anblick war Kat Antwort genug. Bald darauf funkelten Sterne am Nachthimmel. Lange saßen die drei noch da und schwiegen.

„Glaubt ihr, dass es nur einen Gott gibt, oder glaubt ihr, es gibt viele Götter?“, durchbrach die Stimme der seit achtundreißig Jahren Achtjährigen nach geraumer Zeit die dunkle Stille.

Lerry zuckte wieder mit der Schulter, was aber niemand mehr bemerken konnte. Dann meinte er nachdenklich, „So etwas fragen sich die Menschen schon ewig, aber vielleicht ist der eine Gott in vielen Göttern enthalten und umgekehrt…“

„Glaubt ihr, dass Gott die Menschen erschaffen hat, oder dass die Menschen Gott erschaffen haben?“, bohrte Maracella weiter.

„Auch das ist eine uralte Streitfrage“, warf Kat ein. „Wie mit der Henne und dem Ei…“

„Ja, aber das ist doch auch nur ein Problem für die Menschen mit ihrer atemberaubenden Logik! Vielleicht ist es im Grunde gar kein Widerspruch“, rätselte Lerry. „Oder glaubt ihr, die Tiere oder die Pflanzen denken über so etwas nach?“

„Na ja, ich möchte eingentlich nur wissen, wer uns erschaffen hat“, meinte Maracella leise.

„Lisa natürlich!“

„Und wer ist Lisa.“

„Lisa ist eindeutig ein Mensch!“

„Und wer sind wir?“

„Romanfiguren!“

„Aber warum können wir dann hier am Strand von Hawaii sitzen ohne unsere Geschichte?“

„Tja, das ist allerdings in der Tat komisch“, antworte Lerry dem Mädchen. „Aber vielleicht sind wir mehr als wir glauben. Im Grunde sind wir ja Romanfiguren und Menschen“, fügte er ernst hinzu.

„Wahrscheinlich sind wir Romanfiguren, Menschen und Götter! Na kommt, gehen wir, mir wird schon langsam kalt!“, meinte Kat und stand auf.

Hinter den Dünen fauchte eine Hawaiieule.

Kapitel 12 Lisa weiß nicht weiter

Das erste, was Lisa hörte, war der Schrei einer Seemöwe. Verschlafen drehte sie sich auf die andere Seite. Eine Göttin zwinkerte, nachdem Lisa noch einmal ins Land der Träume gesunken und ein Vogel dort mit ihr über Wüstensand geflogen war.

Am Frühstückstisch stellte Alwin wieder einmal die Frage: „Und jetzt?“

„Wir mieten ein Boot, um an der Küste entlang zu fahren oder vielleicht auch auf eine nahe Insel!“

„Suchst du etwas Bestimmtes?“

„Nein, nur das Meer, die Landschaft und die Tiere “, meinte Lisa lächelnd.

Alwin gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Er hatte Schlimmeres erwartet, so etwas wie: „Wir gehen schwimmen, tun so, als wären wir beheimatete Robben, und warten auf von Meerwasser überspülten Felsen auf ultimative Intuitionsergüsse!“ Insofern fand er ihren Vorschlag beruhigend, einfach und unkompliziert und freute sich auf ein paar Tage Naturerlebnis, obwohl er natürlich insgeheim mit den größten Katastrophen rechnete, so realistisch war er.

Das kleine Hotel in dem sie wohnten lag unweit von der Bootsanlegestelle. Sie gingen den Kai hinunter, es roch nach Fisch und Meertang. Mit einem gemieteten Motorboot fuhren sie dann Richtung Norden, die Küste entlang. Einige Wolken zogen auf und warfen Schatten über die Grashügel, als wollten sie wandernde Figuren erschaffen; zumindest sah das Lisa so. Für einen poetischen Hinweis genügte das Naturschauspiel jedoch leider nicht. Das Boot passierte schließlich einen Felsvorsprung, dahinter schlängelte sich der Meerarm in Landesinnere. Ein Grashügel erhob sich, nicht höher als zweihundert Meter.

„Lass uns hier hineinfahren!“, schlug Lisa Alwin vor. Sie folgten dem Wasserlauf und sahen die ersten Steine am Meeresboden. Alwin stoppte den Motor.

„Und jetzt?“

„Wir besteigen diesen Hügel!“

„Lisa?!“

„Ach, komm schon, Alwin!“

Seufzend gab er nach. Sie machten das Boot an einem Pfahl fest, schlüpften in Wellington-Boots und wateten zum Ufer. Dort stapften sie den schmalen Weg zur Hügelspitze.

Erschöpft ließ sich Alwin auf einem Stein nieder. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen sah er zu Lisa, die das offene Meer betrachtete.

„Wir könnten ja nach Lewis hinüberfahren und den Steinkreis von Callanish betreten, vielleicht stülpt sich dann ein freundliches schwarzes Loch über uns, und wenn es uns wieder ausspuckt, sind wir im Nichtigen Reich. Wir schnippen noch dreimal mit den Fingern, und landen am besten mit all deinen Romanfiguren wieder auf Hawaii, das ließe sich sicher einrichten…!“

Leise erwiderte Lisa: „Es ist so schön hier, es gibt Steine, Tiere, Pflanzen… Irgendwie helfen sie mir!“

Bevor sie wieder ins Boot stiegen, spazierten sie noch die Küste entlang. Nach einer Weile gelangten sie zu kleinen Felsblöcken, über die sie sprangen. Es tat Lisa gut, hier alleine mit Alwin zu sein, der nun gar nicht mehr murrte und diese kleine Wanderung genoss. Einzig die vielen leeren Plastikflaschen und Kanister, die angeschwemmt zwischen den Felsen liegengeblieben waren, verdüsterten ihre Stimmung.

„Alles wird von den großen Schiffen ins Meer geworfen, als wäre es eine große Müllhalde!“ Lisa stieß wütend eine leere Cola Flasche weg, die vor ihr im Kies lag. Am liebsten hätte sie diese Welt aus den Angeln gehoben, den ganzen Mist entleert und die Menschen beschworen, sich vor der Muttergöttin Gaia zu verbeugen und den Titel „Krone der Schöpfung“ ins Archiv für überholte Bezeichnungen zu verbannen, um sich als kleiner unbedeutender Teil der Schöpfung neben Braunbären und Waldameisen einzureihen.

 

Als ob er diesmal Lisas Gedanken erraten konnte, flüsterte Alwin leise, „Und sie dreht sich doch…!“ Lisa nahm seine Hand und so gingen sie zurück zum Boot.

„Komm, wir fahren aufs Meer hinaus!“, meinte sie zuversichtlich.

Ein nun wieder wolkenloser Himmel ließ das Wasser tiefblau schimmern, als sie Fahrt aufnahmen. Sie übernachteten auf einer Insel. Tags darauf fuhren sie weiter nach Skye, besuchten ein Schloss, stiegen nochmals auf einen Hügel, ließen das kleine Boot im Hafen und nahmen am Nachmittag eine Fähre nach Harris. Die Überfahrt verbrachte Alwin auf einer Bank am Unterdeck der Fähre liegend. Lisa hingegen saß backbord an das Außenfenster gelehnt und wünschte sich, ewig in diesem Wellenmeer zu schaukeln. Tarbert war viel zu schnell erreicht, für ihr Gefühl.

Halb krank verschlief Alwin den nächsten Tag, während Lisa all ihre Antennen ausfuhr, um irgendeinen Hinweis zu empfangen, was jetzt zu tun wäre. Doch sie konnte keinerlei Zeichen erkennen, wo sich ein Nichtiges Reich befinden könnte. Auch der darauffolgende Tag, an dem sie Lewis besuchten und in verlassenen Dörfern herumirrten, barg nicht den kleinsten poetischen Hinweis. Und das war fast ein Wunder, denn von alten Webstühlen bis mit Stroh bedeckten Steinhäusern gab es genug, was Geheimnisse zu bergen schien.

Am nächsten Morgen beim Frühstück meinte Alwin, nachdem er lange genug auf seinem Brötchen herumgekaut hatte, „Lisa, ich hab das Gefühl, dass wir so nicht recht weiterkommen!“

„Und, was solen wir deiner Meinung nach tun?“ Lisa war angespannt.

„Nun, vielleicht sollten wir mehr auf die Leute zugehen, die hier leben.“ Sie saßen in einem kleinen Raum mit einem Kamin und Schiffsbildern an den Wänden. Der Kellner kam, um nach den Wünschen zu fragen, doch Lisa schüttelte bloß den Kopf, als wollte sie dadurch auch Alwins Vorschlag ablehnen. „Welche Leute denn? Obwohl die Menschen hier alle sehr nett sind, hab ich noch niemand getroffen, bei dem ich das Gefühl…“ Eine böse Ahnung ließ sie plötzlich stocken. „Alwin, das ist doch nicht dein Ernst?“

Ihr Mann hatte die Visitenkarte aus dem Jackett gezogen und spielte damit.

„Du meinst doch nicht, dass dieser… Mac Future, oder wie er hieß, uns weiterhelfen kann?“

„Hm, wer weiß?“ Alwin sah auf die Karte, die er zwischen seinen Fingern drehte.

„Wahrscheinlich nicht, aber…“ Er sah Lisa an und fuhr dann schmunzelnd fort: „Immerhin war es das erste Mal, dass von Büchern und Filmen die Rede war – erinnerst du dich? Als der Zug in Glenfinnan stehenblieb. Von wegen poetischer Hinweis….“

„Sehr poetisch“, konterte Lisa, wich Alwins Blick aus und starrte auf seine Finger, welche die Visitenkarte umfasst hielten, als wäre sie das indizienführende Beweisstück in einem Mordprozess.

„Alwin, das war doch reiner Zufall!“

„Na, wunderbar, wir kurven hier in den Highlands herum auf der Suche nach irgendeinem Hinweis über den Aufenthaltsort von möglicherweise multifunktionalen Romanfiguren, und wenn ein völlig Fremder etwas über eine berühmte Buchverfimungen erwähnt, ist das bloßer Zufall! Auf was willst du den noch warten? Vielleicht dass der Geist der Alaster Road zu uns kommt, um uns ins Nichtige Reich zu begleiten?“ Plötzlich warf Alwin die Visitenkarte wie nach einem verlorenen Spiel auf den Tisch und winkte dem Kellner. Müdigkeit fuhr in seine Glieder.

Lisa sah ihren Mann lange an, dann sprach sie leise: „Du willst Mac Futuroy wiedersehen…“

Gereizt verdrehte Alwin die Augen. „Hör mal, wir brechen wegen deiner untrüglichen Intuition unseren Urlaub ab, verbringen tagelang in Staus oder Zügen und fahren ziellos im kühlen Schottland herum, wo wir doch eigentlich bei einem Glas Bacardi auf Hawaii sitzen könnten, um uns die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen…“ Er schob die Hände in die Hosentaschen und stierte schweigend auf die Eingangstür des Lokals. Als er den Kellner sah, bedeutete er ihm, die Rechnung zu bringen.

„Sorry, ja, aber….“

„Das ist deine Mission, die wir hier verfolgen!“, unterbrach Alwin Lisa barsch. Nach einer einer kurzen Pause stellte er sachlich fest: „Ja, ich weiß, es wäre dir lieber gewesen, wenn sich Edgar Allan Poe ins Abteil gesetzt und uns in das ‚House of Usher’ eingeladen hätte.“ Als seine Frau lächelte, wich auch aus Alwins Zügen die Spannung. Er sah so lange in Lisas haselnussbraune Augen, bis der Kellner vor ihnen stand, um die Rechnung auszuhändigen. Nachdem Alwin umständlich bezahlt hatte, wie um sich wieder in die Gegenwart einzuloggen, umschloss Lisa seine Hände.

„Vielleicht hast du Recht. Die Tatsache, dass uns ein Schotte anspricht und sogar einlädt, ihn zu besuchen, birgt gewisse…“ Lisa sah aus dem Fenster und beobachtete eine Möwe, die sich kreischend auf einem Fischkutter niederließ. „…. gewisse Möglichkeiten, unserem Ziel näher zu kommen. Zumindest scheint er sich in der Geschichte dieses Landes auszukennen!“

„Und in den Geschichten dieses Landes!“, ergänzte Alwin.

„Ja, so gesehen könnte man das Ganze als literarisches Augenzwinkern bezeichnen...“, gab Lisa schließlich zu.

„Also, wenn du mich fragst, ist es ein Wink mit dem Zaunpfahl!“

Dann schwiegen sie eine Zeit lang, jeder in seine Gedanken versunken.

„Vermisst du ihn?“, fragte Lisa plötzlich, nachdem sie die Möwe auf dem Boot beim Abflug beobachtet hatte. Sie sah plötzlich ernst aus.

„Du meinst Leonhard?“ Alwin lachte auf, dann blickte er zu Boden, ehe er seiner Frau wieder in die Augen sah. Leise, ohne Untertöne, meinte er: „Wie heißt es so schön? Menschen, die man liebt, trägt man immer in seinem Herzen mit sich.“

Lisa strich Alwin über die Schläfen und küsste ihn. „Na meinetwegen, dann statten wir diesem Mac Futuroy eben einen Besuch ab!“ Sie drückte seine Finger fester und ihr Mann erwiderte den Druck. Beide sahen aus dem Fenster.

Eine große Möwe landete auf dem Kutter. Ihre Flügel, zuerst noch ausgebreitet in der Luft schwingend um das Gleichgewicht zu bewahren, legte sie einen über den anderen und wechselte noch ein paar Mal die Stellung des Deckflügels, bis sie ihren Schnabel öffnete und einen Fischer ankreischte, der sein Boot reparierte und wahrscheinlich noch herrlich nach morgendlichem Fang duftete.

„Nein, ich werde ihn wohl auch nie vergessen, ihr beide wart meine Flügel...“

„Und jetzt kreischst du jeden an, der nach Frischfisch riecht!“, grinste Alwin.

„Aber ich bin doch keine Möwe!“, entrüstete sich Lisa und schmollte verschmitzt.

Um zu vermeiden, dass seine Frau ausführlich über die Hauptfigur ihres Romans zu erzählen begänne, meinte Alwin schnell: „Lass uns auf der Karte nachsehen, wo Mac Futuroy wohnt!“

„Wir haben nur seine Telefonnummer!“ gab Lisa etwas spitz zurück.

„Stimmt.“ Alwin befreite seine Hand aus ihrem Griff, zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und wollte schon wählen.

„Cherie, lass das, bitte! Es gibt doch noch immer diese kleinen süßen roten Telefonzellen!“

Alwin sah schon wieder so aus, als würde er den Weihnachtsmann am Plafond hängen sehen. Lisa musste ihre Sätze nicht mehr aussprechen, er kannte sie bereits auswendig. ‚Wir wissen gar nicht, was die Strahlungen bewirken. Es gibt viel zu viele Mobilfunkmasten. Weil jeder mitmacht, muss ich nicht wie ein blindes Schaf mitrennen. Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Und: Mir geht’s ohne eben besser!’ Also schob er sein Telefon gehorsam zurück in die Tasche und sah seiner Frau tief in die Augen.

„Außerdem braucht Mac Futuroy nicht sofort deine Telefonnummer zu wissen“, fügte sie bissig hinzu.

So standen sie auf, verließen das Hotel und gingen zu einer knallroten Telefonzelle, die sauber geputzt und frisch gestrichen vor dem Postamt des kleinen Ortes stand. Alwin öffnete die Türe. Ein Fauchen war zu hören, sodass er erschrocken zur Seite trat.