Das Eulenrätsel

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Kapitel 6 Im Nichtigen Reich

Eulalia war in einem bemitleidenswerten Zustand. Sie weigerte sich einen Schritt zu tun.

„Hätten wir sie doch Bel Raven mitgegeben!“, fluchte Elester.

„Na... hicks ... das haben wirsch glisch!“ Jim fand die Situation „gaaar nischt“ so schlimm. „Eine Madame musch mannn tragen, und sie ist meine Lands… hicks …frau! Komm Brüderschen hilf merrr!“

Jim packte die willenlose Amerikanerin unter den Schultern, und Merlot nahm sie an den Beinen. Von den vielen Stürzen muss hier nicht erzählt werden, es sei nur so viel erwähnt, dass Eulalia das Ganze als Läuterung ihrer Sünden ansah. Schließlich gelangte sie immerhin unverletzt bis zum nächsten Rastplatz. Da sie auf einem nach Nadelhölzern riechenden Waldboden landete und nicht auf dem Höllenspieß eines hungrigen Feuerteufelchens lächelte sie sogar.

„So... Meladdy, brauch… hicks …nun ein gleinnnes Päuschen, Sccchhhwesterchen, ein klitzelekleines Minni-Päuschen!“ Jim sackte auf das weiche Moos und war schon im Land der Träume.

„Junger Mann, vielleicht sollten Sie sich doch überlegen, zu Eisenpräparaten zu greifen!“, meinte Eulalia liebenswürdig an Merlot gewandt. Aus Höflichkeit schlug sie ihm nicht vor, sich die Zähne abschleifen zu lassen.

„Ach, meine Liebe, ich spüre so eine sanguine Lust in mir aufsteigen...!“ Mit einem beinahe irren Blick starrte Merlot in die Dunkelheit, schnüffelte und war verschwunden. Elester hatte ihn einen Eid schwören lassen, keinen der Gruppe anzusaugen. Da dieser Eid mit Blut geschrieben war, musste er sich daran halten, obwohl er ihn natürlich sofort aufgeleckt hatte.

Eulalia lächelte Elester, der mit einer aufgespießten Wühlmaus hinter dem nächstgelegenen Felsblock hervorkam, nervös an.

„Gar nicht hungrig, Miss?“, fragte er beinahe fürsorglich. „Es sind genug Wühlmäuse da!“

„Danke, sehr liebenswürdig, Mister Claw, morgen früh gehe ich Pilze sammeln.“

Nachdem die Wühlmäuse verzehrt waren, wachten nur noch Elester, Pat und Penny Lo. Sie starrten in ein kleines Feuer, Pat schmiss dürre Äste in die Flammen. Lange schwiegen sie.

„Lord Waxmore fehlt!“, sagte Pat schließlich.

„Ich weiß, aber er wird uns schon wieder finden.“ Elester zuckte mit den Schultern.

Bald rollten sie sich in ihre Mäntel und Jacken ein, froh vor der Kälte geschützt zu sein. Ein Käuzchen schrie, kurz darauf kam auch Merlot wieder zurück, setzte seine Augenbinde auf und schlief ein.

Das Feuer war am Erlöschen, nur die Glut gab noch Wärme und spuckte vereinzelt Funken aus, während ein matter Schein im Osten durch die Bodennebel kroch. Doch noch etwas anderes kroch durch die Bodennebel. Wie gut, dass alle schon schliefen. Es war wirklich traurig anzusehen! Ein dünnes halblanges Etwas, das am vorderen Ende Verdickungen aufwies, schleppte sich ausgehungert durch das Unterholz. Sucky! Da während des Marsches kaum einer gesprochen hatte und es außer ein paar Entsetzensschreien von Eulalia nichts zu futtern gegeben hatte, war er hinter den anderen zurückgeblieben. Jetzt war Sucky so erschöpft, dass er nicht einmal mehr ans Fressen dachte. Was denn auch schon! Das Knistern der Feuerstelle gab maximal ein paar Appetitanreger ab. Suckys Vorderspitze war staubtrocken und wund. Wie mit einer Wünschelrute ortete er die Aura der Gruppenmitglieder, um sich dann mit letzter Kraft dicht zu Eulalia zu legen. Er hoffte, nach dem Aufwachen wenigstens ein gutes Frühstück vorzufinden. Für ein paar Stunden schliefen alle friedlich.

„Aaahhh!“

Suckys Hoffnung erfüllte sich, und die ganze Gruppe wach war.

„Die Nebel sind dichter geworden“, stellte Elester bei der Morgenrunde fest und sah mit ernster Miene um sich.

„Das bedeutet, dass wir von Geistern umgeben sind?“, fragte Eulalia vorsichtig nach.

„Das bedeutet…“ Elester hätte sich jetzt gerne mit einer ganz normalen Fingerkuppe gekratzt. Da das jedoch unmöglich war, führte er seine Metallspitzen zur Wange und strich sich zweimal in Zeitlupentempo über die Haut.

„Das bedeutet, dass die Grenze auf uns aufmerksam geworden ist.“

„Die Grenze… auf uns aufmerksam?“, fragten Penny Lo und Pat fast gleichzeitig.

„Ja… ihr müsst wissen, im Nichtigen Reich ist letztendlich jedes Gehen ziellos…“

„Dann hätten wir doch mit den anderen gehen können oder uns gleich nicht von der Stelle bewegt!“, erklang eine erschöpfte Stimme. Hinter dem nächstgelegenen Felsblock knackte das Unterholz und ein keuchender Lord Waxmore kam zum Vorschein.

„Oh, Mylord, ich hoffe, es geht Ihnen gut! Ich war gestern Nacht leider etwas absent, sonst wäre mir sicher aufgefallen, dass Sie fehlen!“ Eulalia sprang auf den erschöpften Lord zu und half ihm bei den letzten Metern Fußmarsch.

„Sie waren nicht gerade schnell!“, meinte Pat vorwurfsvoll.

„Er ist genauso schnell gegangen wie wir, aber – wie ich schon sagte–, jedes Gehen hier ist letztendlich ziellos. Ausschlaggebend für ein Fortkommen ist es trotzdem, ein Ziel zu haben. Aber Sie, Lord Waxmore, Sie hatten wohl nicht wenigstens das Ziel, bei der Gruppe zu bleiben?!“, fragte Elester nicht eben freundlich.

„Nun ja, zunächst einmal möchte ich den hier Anwesenden mitteilen, dass es meiner Gewohnheit entspricht, mich auf meinem Reittier fortzubewegen. Und um die Wahrheit zu sagen, habe ich mir lange den Kopf darüber zerbrochen, ob es nicht vielleicht klüger wäre, als Großgruppe zusammenzubleiben und die anderen vielleicht doch zu überreden… Aber plötzlich war überhaupt niemand mehr zu sehen. Ich irrte stundenlang herum!“ Der erschöpfte Lord setzte sich auf einen Felsblock.

„Mister Claw, wenn die Grenze auf uns zukommt weil unser Gehen null und nichtig ist, dann ist es doch wirklich besser, wir bleiben hier!“, meinte Eulalia spitz und stellte sich neben den Lord.

„Nein, das können wir nicht! Wir müssen uns bewegen, sonst bewegt sich auch die Grenze nicht auf uns zu. Und außerdem: Nach mehr als sieben Stunden an einer Stelle würden wir beginnen uns langsam aufzulösen!“

„Ach ja, wenn das so ist…!“ Eulalia, die nichts mehr fürchtete als den Tod – wie wahrscheinlich die meisten Menschen –, sah an sich herunter. Waren es die Nebel, eine beginnende Weitsichtigkeit oder ihre schwachen Nerven? Sie hätte schwören können, dass sie schon dabei war sich aufzulösen! Sie packte den Lord, riss ihn hoch und heischte die anderen an: „Na los, worauf warten wir!

Kapitel 7 Richtung Norden

Am nächsten Morgen wussten Lisa und Alwin, dass zirkuläre Bewegungen einiges auszurichten imstande sind.

Lisa hatte noch die Augen geschlossen, als sie zu sprechen begann: „… durch eine hohe Verdichtung kinetischer Energie entstandener Sog, welcher Romanfiguren in seinen Bann zieht und an einen anderen Ort versetzen kann!“

„So nett hast du mir noch nie ‚Guten Morgen’ gesagt!“ Alwin schlief vor lauter Rührung fast wieder ein. Die Stimme seines Gegenüber klang wie ein rosa hauchendes Importprodukt aus einer REM-Phase. Eng verschlungen lagen die beiden noch im Bett. Da löste sich Lisa abrupt aus der Umarmung und drehte sich auf den Rücken.

„Jemand muss meine Romanfiguren aus dem Buch gezogen haben, zumindest ihre geistige Essenz!“ Sie starrte zur Decke. Alwin war plötzlich hellwach. Er rüttelte Lisa, bis sie tief einatmete. Dann begann sie sich zu strecken, ihre Körperlänge verdoppelte sich dabei für eine Zehntelsekunde wie ein in die Länge gezogenes Schwimmkrokodil aus Gummi.

„Guten Morgen, Liebling, gut geschlafen?“, fragte sie verträumt, ohne zu wissen was sie ein paar Sekunden vorher gesagt hatte.

„Natürlich, du hoffentlich auch. Na ja, dann ist ja alles klar!“, meinte Alwin und tat so, als wüßte er wovon er sprach.

„Was ist klar?“

„Du hast mir gerade erklärt, was mit deinen Romanfiguren passiert ist!“. Ihr Mann stützte seinen Kopf auf und sah Lisa an, als käme er gerade von einer Lehrerfortbildung. Er wiederholte ihre in Trance zitierten Sätze wortgetreu. Entgegen seinen Erwartungen fragte seine Frau nicht nach, sondern hüpfte aus dem Bett, zog sich an und zwinkerte ihm zu. „Wir machen heute etwas ganz Besonderes! Wir fahren mit einem Zug – aber erst nachdem wir geflogen sind.“

„Wunderbare Idee, mal ganz etwas anderes“, dehnte Alwin die Worte begeistert, versuchte zu lächeln und rappelte sich hoch.

Zehn Stunden später saßen sie in einem exklusiven Pub in Glasgow, nahe der Einkaufsmeile. Zur Feier des Tages bestellte Lisa den teuersten Whisky. Sie sog an dem Glas als wollte sie das ganze Wasser von Loch Ness zuzüglich eines Seeungeheuers verschlucken.

„Ich bin mir sicher, wir finden dieses Nichtige Reich. Dort sind alle Randfiguren versammelt. Sie brauchen mich, ich muss ihnen helfen!“ Ihre Worte klangen bestimmt.

Ach ja, und wer könnte deiner Meinung nach irgendein Interesse daran haben, Randfiguren von einem unveröffentlichten Buch in ein Nichtiges Reich zu versetzen?“ Alwin hoffte, seine Frau würde nicht zu laut antworten. Ihr Gespräch war gut mitzuhören.

„Weiß ich doch nicht! Tasache ist, dass sich dieses Nichtige Reich aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwo über den Wolken von Schottland befindet!“

„Na, gut, dann nehmen wir ein Kleinflugzeug und suchen dort oben…“, brummte Alwin mit gesenkter Stimme und lächelte einer elegant gekleideten Dame am Nebentisch zu. Brüskiert wandte sich diese jedoch ab.

Lisa ignorierte die Szene und meinte nur unwirsch, „Du weißt genau, wir müssen auf einen poetischen Hinweis warten, um zu wissen, wo dieses Reich ist…!“

Alwin lehte sich vor und flüsterte beinahe. „Natürlich…! Über uns hast du ja auch in deinem Buch geschrieben. Wir befinden uns aber nicht in einem Nichtigen Reich oder?“

 

Lisa verzog ihren Mund und antwortete todernst:„Warum wir nicht in diesem Reich sind? Nun, vielleicht waren wir einfach resistent genug, dem kinetischen Sog zu widerstehen, aber gezogen hat es in meinem Bauch auch öfters! Ich könnte allerdings nicht sagen, ob ein magischer Kreis dahinter steckt oder nicht! Aber wenn du kneifst… Wir können uns auch Sauerstofflaschen besorgen, in Unterwasserhöhlen abtauchen, bei nicht mehr als drei Meter Sichtweite nach Nessi suchen, um ihr eine Weihnachtskarte zu überreichen. Wäre das ein sinnvolleres Projekt?!“

„Nein, denn es ist Anfang August… Lisa, schrei bitte nicht so! Vielleicht solltest du den Whisky doch nicht austrinken!“ Alwin blickte nervös um sich.

„Wieso, es verstärkt mein pantheistisches Erbe. Obwohl ich zugeben muss, noch nie ein so wunderbares Wesen wie Jesus kennen gelernt zu haben…!“

Die Krokodilledertasche mit Dame am Nachbartisch stierte zu ihnen herüber.

„Ja, Sie haben richtig gehört! Ich habe noch nie ein so wunderbares Wesen wie Jesus kennen gelernt. Sie etwa?“

Das angesprochene elegante Gegenüber wandte sich voll Ennui dem herbei gewunkenen Kellner zu. Lisa hatte ihre Frage aber durchaus ernst gemeint und hätte sich über eine ehrliche Antwort gefreut. Mit eisiger Miene richtete die Dame ein paar Worte an den Kellner.

Als dieser vor Alwin und Lisa erschien, schenkte er ihnen einen übertrieben freundlichen Blick. „Sie haben nach der Rechnung verlangt?“

„Also, das ist ein Service! Ich wusste gar nicht, dass hier die Wünsche der Gäste bereits fünf Minuten im Voraus erahnt werden!“ Lisa schenkte dem Pinguin in seinem Frack ebenfalls einen überaus freundlichen Blick und dessen Lächeln gefror zu Polareis. Alwin bezahlte rasch. In solchen Situationen konnte es leicht vorkommen, dass Lisa, überfallen von jäher Verzweiflung über die menschliche Spezies, in wochenlang anhaltende Schwermut versinken konnte. Nachdem sie das Pub verlassen hatten, hängte sie sich bei ihrem Mann ein. Schweigend bummelten sie durch die Straßen, da noch etwas Zeit war, bevor der Zug abfuhr. Aus den Auslagen der Geschäfte drängte sich ihnen alles Glück der Welt in schrillen Farben auf. Lisa war froh, als sie in etwas abgelegenere Straßen kamen.

„Lass uns doch diese Treppe hier hoch gehen!“

Die Köpfe zweier langohriger Katzen waren auf den Steinboden vor der ersten Treppe gemalt. Lisa schüttlelte energisch den Kopf. „Nein, das ist kein poetischer Hinweis!“

Trotzdem stiegen die beiden den schmalen Aufgang hoch. Oben angekommen, empfing sie ein wunderbarer Blick über Glasgow. Ziegeldächer und Hausfassaden glänzten trotz des bewölkten Himmels in protzigem Rot, höhere Häuser, Türme und Kirchturmspitzen streckten sich vereinzelt aus dem Dächermeer.

„Alwin, wir Menschen wissen so wenig…“, sagte Lisa unvermittelt und sah ihrem Mann in die Augen.

„Das ist mir klar seit ich dich kenne…“

Kapitel 8 Zu heiß für viel PS

Wie immer herrschte rege Betriebsamkeit. Jeder der Angestellten wusste, was er zu tun hatte. So auch Walter. Am liebsten drückte er in seiner Vorstellung die rechte Schulter Roys zu Boden – nein, nicht nur zu Boden, sondern noch tiefer: hinunter zu den Zawosars. Doch Roy, der schräg vor ihm am Computer arbeitete, schien nichts davon zu bemerken.

„Hast du die Position der SEPEs, die über die Grenze geflogen ist, schon registriert?“, hörte Walter die Stimme seines Kollegen.

„Natürlich!“, antwortete er, ohne sich umzublicken, denn er hatte nur einen Blick für Roys Schulter.

„Okay, dann setzen wir die PS auf die noch ausständigen SEPE an!“

„Natürlich!“

Eine Stunde später hörte Walter den Kollegen hinter sich fluchen.

„Verdammt, die PS sind nicht südseetauglich!“

Lerry, Kat und Maracella wanderten nachdenklich am Strand entlang. Wenn sie nur wenigstens, wie ganz normale Menschen, Alwin und Lisa anrufen hätten können!

„Was ist denn das?“, rief Kat plötzlich. Nach einer Sekunde allgemeinen Unbehagens gingen die drei vorsichtig weiter.

„Vielleicht ein toter Hai?“, meinte Lerry unsicher.

„Ist der Hai überhaupt tot?“, fragte Maracella ängstlich.

„Das Ding ist weder tot noch ein Hai!“, resümierte Kat als sie näherkamen. „Es wird von der Brandung bewegt – schaut eher aus wie ein Teil von einem Schiffswrack, vielleicht eine eiserne Tür!“

„Oder wie ein ausrangierter Roboter!“. Lerrys Stimme klang aufgeregt, als er mit Kat das schwarze Metallstück aus den Wellen zog.

„Schon wieder etwas Geheimnisvolles!“, rief Maracella voller Erwartung. „Ob das auch etwas mit der Botschaft auf dem Korken zu tun hat?“

Kat und Lerry bezweifelten es. Am nächsten Tag fanden sie noch mehr Metallstücke.

Kapitel 9 Ein netter Reisegefährte

Alwin blickte über die große Stadt. Eine Haarsträhne wehte ihm fast in die Augen. Aus der Ferne klang der Ruf einer Möwe, weiter unten auf einer Bank begann jemand Gitarre zu spielen. Ein Fünfjähriger heulte, während ein Geier etwas außerhalb der Stadt nicht mehr daran glaubte, einen Auftrag zu haben und sich ausgehungert auf einen toten Maulwurf stürzte. Ein Südseemädchen wurde von einer Robbe gerettet, als sie von Haien umgeben alleine in einem Boot saß. Dies ist aber nun wirklich eine andere Erzählung. Dass ein wirklicher Schotte jedoch einer österreichischen, anglophilen Touristin freundlicherweise den Weg zur Saussagehallstreet erklärte, in welcher über einer schwarzgelben Tür die Vorderfront eines kleinen Vehikels montiert ist, ist aber Wahrheit und nichts als Wahrheit, über die der Wind seine tausend Geschichten bläst und sich in einem Kuss verliert.

„Komm, es ist Zeit, wir müssen zum Bahnhof!“

Alwin und Lisa gingen die Treppe hinab, durchquerten die Straßen Glasgows und erreichten zu Fuß den zentrumsnahe gelegenen Bahnhof, von dem aus die Züge Richtung Norden abfuhren.

Lisa wäre gerne länger in Glasgow geblieben, da zwischen den Pflastersteinen und jenseits der Sprache merkantiler Geschäftigkeit auch noch die Sprache der Tiere, der Fabelwesen, der Pflanzen und der Hausgeister aus dem Boden wuchs, wenn man genau hinhörte – zumindest für ihre Ohren. Sie meinte, auch die Figur eines steinernen Gelehrten aus dem fünfzehnten Jahrhundert hätte ihr etwas zugeflüstert, aber für einen poetischen Hinweis, das Nichtige Reich betreffend, reichte diese Ahnung nicht aus. Sie verabschiedete sich leise von der Stadt, vor allem von all jenen ihrer Bewohner, die nicht zur Gattung der Menschen gehörten. Dann betrat sie mit Alwin die Bahnhofshalle.

Bald darauf hatten sie den richtigen Zug gefunden und setzten sich in ein leeres Abteil. Lisa beobachtete die vielen Menschen am Bahnsteig und sah dem geschäftigen Treiben nachdenklich zu. Als der Zug langsam aus der überdachten Vorhalle ratterte, waren sie noch immer alleine im Abteil. Vorstadtsiedlungen zogen an ihnen vorbei, bald schon sahen sie das Meer. Die Stadt wurde kleiner, je weiter sie nach Norden fuhren, die Besiedelung spärlicher. Zwischen ungezähmten Heidelandschaften tauchten vereinzelt Tümpel auf sowie kleine Hügel, während sich auf der anderen Seite das Meer mit seinen Armen in die Landschaft streckte. Lisa lehnte sich zurück und begann mit offenen Augen zu träumen. Auch Alwin sah schweigend aus dem Fenster. Wolken rissen auf, Sonnenstrahlen erhellten die Wiesen, und das Spiel von Licht und Schatten zeichnete große Flecken in sich verändernden Mustern auf die Graslandschaft. Der starke Küstenwind schuf immer wieder neue Farbformationen, während die Umrisse im Zugabteil länger wurden. Wenn die Hügelketten den Blick zum Meer abschnitten, verschwand der Horizont öfters aus ihrer Sicht.

Alwin knipste schließlich das Licht an und zog eine Zeitung aus seiner Gepäckstasche. Der Zug wurde plötzlich langsamer und hielt. „Fort William“ stand mit großen Buchstaben auf der Tafel neben den Gleisen.

„Das ist übrigens der nächste Halt für den Aufstieg auf den Ben Nevis, hast du Lust?“ Da Lisa wusste, dass Alwin nur äußerst widerwärtig etwas erklomm, das höher war als er selbst, egal ob es sich dabei um einen Fenstersims oder einen Berg handelte, grinste sie ihren Mann an. Alwin hatte nämlich schreckliche Höhenangst.

„Ich sagte, ich geh mit dir wandern, wenn die Steigung nicht mehr als drei Prozent beträgt.“ Er hob den Blick nicht von der Zeitung.

Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Lisa griff in ihre Handtasche und holte ein Buch hervor. Dabei fiel ihr Blick auf den Mann, der an ihrer Abteiltür stand. Er starrte sie einen Moment lang durch das Fensterglas an, lächelte jedoch sofort und zog die Tür auf.

„Einen schönen Abend, ist hier vielleicht noch ein Platz frei?“ Der Mitreisende war vornehmen gekleidet, herbes Parfüm begann das Abteil zu durchströmen. Er setzte sich Alwin gegenüber und stellte seine Aktentasche auf den leeren Platz am Fenster. „Entschudigen Sie, Sir.“ Alwin stieß unbeabsichtigter Weise an den Schuh des jüngeren Mannes und ärgerte sich darüber, dass er kaum eine Möglichkeit hatte, nicht daran zu stoßen. Lisa und die Aktentasche hingegen hatten kein Platzproblem.

„Kein Problem, Sir!“, meinte der Fremde und lächelte. Er packte keinen Laptop aus und schlug auch nicht die „Financial Times“ auf, sondern blickte seine Mitreisenden ostentativ neugierig an. Lisa begann in ihrem Buch zu blättern, als suchte sie eine bestimmte Seite.

„Dorin Gray sieht in sein Spiegelbild“, schoss es Lisa durch den Kopf.

Doch bevor sie über diesen Satz nachdenken konnte, meinte der Fremde: „Sie machen eine kleine Urlaubsreise? Eine wunderbare Landschaft hier. Sehr erfreut, Sie kennen zulernen!“

„Ja, wir machen eine Reise“, antwortete Alwin ohne von der Zeitung aufzusehen. Um nicht zu unhöflich zu wirken, ließ er kurz darauf den „Guardian“ sinken und fügte eine kleine Spur freundlicher hinzu: „Und Sie sind vermutlich… geschäftlich unterwegs?“

„Geschäftlich? Ach, nein, da bin ich Zeit derzeit meist in Übersee. Ich bin hier geboren und habe ein Anwesen geerbt. Es war natürlich schwierig, meine Firma in den USA gerade in dieser Phase alleine zulassen. Wir sind nämlich gerade dabei, unsere Angebote enorm zu erweitern. Aber da wir ja in einem Zeitalter universaler Vernetzung leben, ist die Welt ein… enger Ort geworden. Finden Sie nicht, Sir?“

Alwins Mund zuckte, dann lächelte er ebenfalls und sah zum Fenster hinaus.

Plötzlich stoppte der Zug.

„Was ist los? Hier ist doch gar keine Haltestelle!“ Im Dämmerlicht versuchte Lisa draußen etwas zu erkennen.

„Nein, Miss, das ist eine Brücke. Und da unten ist das Glenfinnan Monument mit der Statue von Bonnie Prince Charlie. Er hisste im Jahr 1745 an dieser Stelle das Banner der Stuarts und damit begann das Sterben von vielen Männern, eine unglückselige Geschichte…“

„Das ist aber wohl nicht der Grund, warum der Zug stehenbleibt!“ Lisas Stimme klang seltsam gereizt. Sie konnte es einen Moment nicht verhindern, länger in die tiefblauen Augen des Fremden zu schauen. Inzwischen verkündete ein Lautsprecher, dass an dieser Stelle der Zugstrecke Außenaufnahmen für eine Hollywoodverfimung gedreht worden waren.

Lisa sah in ihr Buch und Alwin in die Zeitung.

„Haben Sie nichts davon gehört?!“

“Nein“, erwiderte Alwin, nahm umständlich seine Zeitung auseinander und legte sie genauso umständlich wieder zusammen.

„Eine wunderbare Geschäftsidee, diese Serie soll mittlerweile auch in der britischen Außenhandelsbilanz aufscheinen!“, fuhr ihr Gegenüber fort.

„Was bei der britischen Außenhandelsbilanz nicht allzu schwierig ist“, brummte Alwin genervt und versuchte sich wieder in den „Guardian“ zu vertiefen.

Lisa hingegen war zu angepannt, um den Wortwechsel witzig zu finden. Unwirsch meinte sie: „Natürlich! Es gibt für Schriftsteller nichts Wichtigeres als die nationale Wettbewerbsfähigkeit ihres Landes zu steigern…“

„Aber…, nein, so habe ich das gar nicht gemeint, Miss… Sehen Sie, ich habe Wirtschaft studiert und leite jetzt eines der erfolgreichsten Mobilfunkunternehmen in Massachusetts und betrachte die Welt somit… aus etwas anderen Augen… Mac Futuroy, wenn ich mich übrigens vorstellen darf.“

Lisa sah abrupt aus dem Fenster.

Während sich der Zug wieder in Bewegung setzte, hörte sie ihren Mann langsam sagen, „Ihr Name klingt asiatisch, Sie sehen aber nicht danach aus!“

 

Lisa biss sich auf die Lippen, doch das bemerkte niemand.

„Ja, ich…“ Abrupt brach der jüngere Mann seinen Satz ab, um nach einer kurzen Pause leise hinzuzufügen, „das ist reiner Zufall… Ich hoffe, Sie werden eine angenehme Zeit in Schottland verbringen!“

Lisa sah von Alwin auf den Fremden, dann meinte sie äußerst liebenswürdig: „Dasselbe wünschen wir Ihnen auch!“ Eine Zeit lang blieb es im Abteil still. Lisa konzentrierte sich auf den Text ihres Buches, während Alwin immer wieder aus dem Fenster zu sehen versuchte und nichts anderes sah als den Fremden, der sich im Fensterglas spiegelte.

„Sie lesen gerne, Miss?“

„Genau, und das würde ich jetzt auch verdammt gerne tun!“, dachte Lisa. Sie wünschte sich, der Zug würde bald wieder halten und der Mitreisende aussteigen. Irritiert sah sie von ihrem Buch auf. Ihr Lächeln glich einem Hochseilkünstler, der registrierte, dass das Seil immer länger und dünner wurde, auf dem er tanzte. Der Fremde blickte zum Fenster, wo ihn Alwins Blick traf. Ein paar Minuten schwiegen alle, die Stimmung war angesapnnt, Lisa hätte am liebsten in ihr Buch gebissen.

„Wir kommen bald in Mallaig an“, sagte Alwin schließlich, bloß um irgendetwas zu sagen.

„Ja, und ich steige eine Station früher aus. Aber wenn es ihr Zeitplan zulässt, besuchen Sie mich doch einmal auf meinem Anwesen!“ Alwin hob die Augenbrauen und Lisa sah eine Spur zu schnell auf. Der Fremde genoss es sichtlich, seine Mitreisenden in Erstaunen zu versetzen und legte lächelnd seine Visitenkarte auf das Amaturenbrett des Wagonfensters.

„Ich hoffe, Sie haben sich durch meine Anwesenheit in keiner Weise belästigt gefühlt. Ich weiß, ich habe nichts mehr von der britischen Reserviertheit an mir, die man uns gemeinhin zuschreibt, dafür habe ich schon zulange in Amerika gelebt. Ich bitte Sie, meine Geste nicht als Höflichkeitsfloskel abzutun. Es würde mich wirklich freuen, Sie in meinem Haus als Gäste begrüßen zu dürfen! Wie ich heraushören konnte, darf ich Sie ja in gewissem Sinn als Landsleute betrachten. Danke für Ihre kurzweilige Präsenz, ich wünsche Ihnen noch eine angenehme Reise.“ Mit diesen Worten erhib sich der Fremde. „Ach, und, ich hätte es beinahe vergessen…“ Er öffnete seine Aktentasche und nahm ein Mobiltelefon heraus. „Zur Zeit entwickeln wir ein Gerät, das bereits 46 verschiedene audiovisionelle Zusatzfunktionen beinhaltet…! Tja, unser Mobiltelefon kann schon einiges… und noch viel mehr...!“ Beflissen legte er das Telefon neben seine Karte. „Ein kleines Werbegeschenk, sozusagen. Ich wünsche Ihnen noch alles Gute!“

Lisa versuchte abermals zu lächeln und es gelang ihr sogar etwas. Ein Hochseilkünstler erblickte das Ende der Seilstrecke. Als der Fremde die Abteiltür hinter sich geschlossen hatte, schüttelte sie den Kopf.

Alwin lachte laut auf und nahm die Karte in die Hand. „Mister Mac Futuroy, Director of ‚Mobiles Word Wide’, Frebur Elm, Massachusets, USA.“ Darunter stand eine Telefonnummer. Lächelnd steckte er die Karte ein, griff nach dem Telefon und schaltete es ein. „Na, wunderbar!“

„Alwin, bitte lass es da!“

„Wieso? So ein Handy kann man immer brauchen, sogar mit Internetzugang, nicht schlecht.“

„Du weißt doch, mir gehen diese Dinger schrecklich auf die Nerven und ich lege keinen Wert darauf, ein Andenken an diesen netten Zeitgenossen mit uns herumzutragen! Bitte!“

„Lisa, ich weiß, du bist…“

„Alwin, lass es liegen!“

„Und wenn Bruce Springsteen mit uns gefahren wäre? Hättest du es von ihm angenommen?“ Grinsend warf er das Telefon auf den Sitz gegenüber.

„Bruce Springsteen hat es nicht nötig, Mobiltelefone zu verschenken!“

Alwin lachte noch ziemlich oft an diesem Abend. Es dauerte nicht mehr lange, bis sie Mallaig erreichten, wo sie sich in einem Hotel ein Zimmer nahmen.

Noch am selben Abend fuhr der Zug nach Glasgow zurück, um am nächsten Tag pünktlich zur Generalüberholung bei Whisley und Co, zwischen Containerhallen, etwas außerhalb Glasgows, bereit zu sein. Doch es war seine letzte Fahrt. Er stand auf dem Abstellgleis, als ein Mobiltelefon klingelte. Es klingelte einmal. Es klingelte zweimal. Es klingelte dreimal…

Die Anrainer rundherum weckte eine ohrenbetäubende Detonation, dichte Rauchwolken erhoben sich über die Containerhallen.