50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

Tekst
Książka nie jest dostępna w twoim regionie
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Peter, der sein Herz ausgeschüttet hatte, sah jetzt übrigens auch die häßliche Seite der Frage. Er sprach von Macquart. Wie sollte man sich dieses Schnapphahns entledigen? Doch Felicité, von dem Fieber des Erfolges wieder ergriffen, rief:

Man kann nicht alles auf einmal tun. Wir werden ihn schon knebeln, schon ein Mittel ausfindig machen …

So sprechend ging sie hin und her, ordnete die Sessel, stäubte die Lehnen ab. Plötzlich blieb sie mitten im Zimmer stehen, ließ ihren Blick lange auf den verschossenen Möbeln ruhen und rief:

Mein Gott! wie häßlich ist es hier! Und es kommen doch so viele Leute zu uns!

Bah! Wir werden alles vertauschen, sagte Peter mit großartigem Gleichmute.

Er, der noch gestern eine fast feierliche Achtung für diese Sessel und für dieses Sofa hatte, wäre jetzt bereit gewesen, darauf herumzuspringen. Felicité, die die nämliche Mißachtung für diese Möbel empfand, ging so weit, einen Lehnsessel umzustoßen, dem ein Rädchen fehlte und der deshalb nicht schnell genug rollen wollte.

In diesem Augenblicke trat Roudier ein. Es schien der alten Frau, daß er viel höflicher als sonst sei. Die Anreden »Mein Herr« und »Madame« flössen in lieblichem Wohllaut dahin. Die Freunde des Hauses kamen übrigens jetzt nach der Reihe an; der Salon füllte sich. Noch niemand kannte die Vorgänge der Nacht in ihren Einzelheiten, und alle eilten herbei mit neugierig glotzenden Augen, mit einem Lächeln auf den Lippen, durch die Gerüchte getrieben, die in der Stadt die Runde machten. Diese Herren, die gestern abend bei der Nachricht von dem Herannahen der Aufständischen so rasch den gelben Salon verlassen hatten, kamen jetzt summend, neugierig und lästig wieder wie ein Mückenschwarm, den ein Windstoß zerstreut hat. Manche hatten sich nicht einmal Zeit genommen, die Hosenträger anzulegen. Ihre Ungeduld war groß, aber es war ersichtlich, daß Rougon noch jemanden erwartete, ehe er sprechen wollte. Jede Minute wandte er den besorgten Blick nach der Türe. Während einer vollen Stunde fand ein beredter Austausch von Händedrücken statt, unbestimmte Glückwünsche, ein bewunderndes Geflüster, eine verhaltene Freude ohne bestimmten Grund, die nur eines Wortes harrte, um sich zur Begeisterung zu steigern.

Endlich erschien Granoux. Er blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen, die Rechte in den zugeknöpften Überrock steckend; sein plumpes, fahles Antlitz, das frohlockte, versuchte vergeblich, seine große Erregtheit unter einer Miene hoher Würde zu verbergen. Bei seinem Erscheinen trat Stille ein; man hatte das Gefühl, daß etwas Außerordentliches sich vorbereite. Inmitten einer lebenden Hecke schritt Granoux geradeaus auf Rougon zu und reichte ihm die Hand.

Mein Freund! sagte er, ich überbringe Ihnen die Huldigungen des Gemeinderates. Er beruft Sie an seine Spitze, bis unser Bürgermeister uns wiedergegeben ist. Sie haben Plassans gerettet. In der abscheulichen Zeit, in der wir jetzt leben, brauchen wir Männer, die Ihre Klugheit mit Ihrem Mute verbinden. Kommen Sie! … Granoux, der da eine kleine Rede hersagte, die er sich vom Rathause bis zur Banne-Straße mühsam vorbereitet hatte, fühlte jetzt, daß sein Gedächtnis ihn im Stich lasse. Doch Rougon, von der Bewegung überwältigt, unterbrach ihn, drückte ihm beide Hände und sprach:

Dank, mein lieber Granoux, vielen Dank!

Mehr wußte er nicht zu sagen. Jetzt setzte ein betäubender Ausbruch von Stimmen ein. Jeder stürzte herbei, streckte ihm die Hand entgegen, überhäufte ihn mit Lobsprüchen und befragte ihn sehr eifrig. Doch er benahm sich sehr würdig, wie ein Beamter und erbat sich einige Minuten, um sich mit den Herren Granoux und Roudier zu besprechen. Die Geschäfte vor allem. Die Stadt befand sich in einer so kritischen Lage! Die drei zogen sich in einen Winkel des Zimmers zurück und teilten mit leiser Stimme die Macht unter sich auf, während die Freunde des Hauses, einige Schritte weiter entfernt stehend und die Verschwiegenen heuchelnd, ihnen heimlich Blicke zuwarfen, in denen Bewunderung und Neugierde sich mengten. Rougon sollte den Titel eines Obmannes des Gemeindeausschusses annehmen; Granoux sollte Sekretär werden; Roudier sollte die neu organisierte Nationalgarde befehligen. Die Herren schworen sich gegenseitige Unterstützung und unverbrüchliche Treue.

Felicité, die sich ihnen genähert hatte, fragte plötzlich:

Und was ist's mit Vuillet?

Sie sahen einander an. Niemand hatte Vuillet bemerkt. Rougon verzog unruhig das Gesicht.

Man hat ihn vielleicht mit den übrigen weggeführt … sagte er, um sich selbst zu beruhigen.

Aber Felicité schüttelte den Kopf. Vuillet sei nicht der Mann, der sich abfangen lasse. Wenn man ihn nicht sehe und nicht höre, tue er sicherlich etwas Schlechtes. Die Türe ging auf und Vuillet trat ein. Er grüßte untertänig, mit dem ihm eigentümlichen Blinzeln und seinem spitzigen Mesnerlächeln. Dann trat er näher und streckte seine feuchte Hand Rougon und den zwei anderen hin. Vuillet hatte ganz allein seine kleinen Geschäfte besorgt. »Er hatte sich selbst sein Stück Kuchen abgeschnitten« – würde Felicité gesagt haben. Hinter der Luke seines Kellers hatte er gesehen, wie die Aufständischen den Postdirektor festnahmen, dessen Büros an seinen Bücherladen stießen. Darum hatte er schon am Morgen, zur selben Stunde, als Rougon sich in dem Sessel des Bürgermeisters niederließ, ganz ruhig das Amtszimmer des Postdirektors bezogen. Er kannte die Beamten; er empfing sie bei ihrem Eintreffen, indem er ihnen sagte, daß er ihren Vorstand bis zu dessen Rückkehr ersetze und daß sie sich um nichts zu bekümmern hätten. Dann war er mit schlecht verhohlener Neugierde über die Frühpost hergefallen; er schnupperte nach Briefen und schien im besonderen einen Brief zu suchen. Ohne Zweifel war die neue Lage einem seiner geheimen Pläne günstig, und er ging in seiner Freude so weit, einem seiner Beamten ein Exemplar der »Humoristischen Werke« Pirons zu geben. Vuillet hatte eine reichlich ausgestattete und gut gewählte Sammlung gemeiner Bücher, die er in einem großen Schranke verbarg unter einer Lage von Heiligenbildern und Rosenkränzen; er überschwemmte die Stadt mit unanständigen Photographien und Bildern, ohne daß dies im mindesten dem Absätze der Gebetbücher geschadet hätte. Indes bekam er im Laufe des Vormittags dennoch Angst über die voreilige Art, wie er von dem Posthofe Besitz ergriffen hatte und dachte daran, diesen Gewaltakt hinterher die Gutheißung zu verschaffen. Darum eilte er zu Rougon, der ganz entschieden eine mächtige Persönlichkeit wurde.

Wo steckten Sie denn? fragte Felicité mißtrauisch. Da erzählte er seine Geschichte, die er natürlich verschönerte. Nach seiner Darstellung hatte er den Posthof vor der Plünderung gerettet.

Abgemacht, bleiben Sie daselbst, sagte Peter nach kurzem Nachdenken. Machen Sie sich nützlich.

Dieser letztere Satz verriet die große Furcht der Rougon; sie fürchteten, daß andere sich allzu nützlich machen, die Stadt mehr retten könnten als sie selbst. Allein Peter hatte keine Gefahr darin erblickt, Vuillet zeitweilig im Amte des Postdirektor zu belassen; es war dies sogar ein Mittel, sich seiner zu entledigen. Felicité war durch diese Wendung sehr unangenehm berührt.

Als die Besprechung zu Ende war, mengten die Herren sich wieder unter die Gruppen, die den Salon füllten. Endlich mußten sie die allgemeine Neugierde befriedigen. Sie mußten die Ereignisse des Vormittags haarklein erzählen. Rougon war großartig. Die Geschichte, die er seiner Frau erzählt hatte, vergrößerte, verschönerte, dramatisierte er. Als er die Verteilung der Gewehre und Patronen schilderte, lauschten alle atemlos. Der Marsch durch die öden Straßen, die Einnahme des Rathauses überwältigten diese Spießbürger. Bei jeder neuen Einzelheit wurde er unterbrochen.

Und ihr wäret nur euer einundvierzig? Das ist wunderbar!

Ei, da dank' ich schön! Es muß höllisch finster gewesen sein!

Nein, ich muß sagen, ich hätte es nie gewagt!

Und Sie haben ihn so mir nichts dir nichts an der Gurgel gefaßt?

Und was haben die Aufständischen dazu gesagt?

Diese kurzen Bemerkungen eiferten Rougon nur noch mehr an. Er antwortete jedem und begleitete seine Darstellung mit einem leibhaften Gebärdenspiel. In der Bewunderung seiner eigenen Taten fand dieser Mann die Geschmeidigkeit eines Schülers wieder; er wiederholte sich, kam auf einzelnes zurück inmitten der sich kreuzenden Ausrufe, der da und dort sich entwickelnden Erörterungen der Einzelheiten; wie von einem epischen Luftzug getragen, ereiferte er sich immer mehr und ward sichtlich größer. Überdies standen Granoux und Roudier an seiner Seite und raunten ihm allerlei, kaum wahrnehmbare Einzelheiten zu, die er übergangen hatte. Auch sie brannten vor Begierde, ein Wörtchen anzubringen, eine Episode zu erzählen und manchmal fingen sie ihm das Wort ab; oder es sprachen auch alle drei zugleich. Doch als Rougon, um die homerische Episode von dem zerbrochenen Spiegel gleichsam als Abschluß, als Sträußchen vorbringend, erzählen wollte, was unten im Hofe, bei der Entwaffnung des Wachtpostens vorgegangen war, beschuldigte ihn Roudier, daß er der Erzählung schade, indem er die Reihenfolge der Dinge verwechsele. Und sie stritten eine Weile ziemlich lebhaft. Als Roudier sah, daß die Gelegenheit ihm günstig sei, rief er entschlossen aus:

Es sei, wie es sei; ich weiß es doch besser, sintemalen Sie nicht dabei waren.

Und nun erklärte er lang und breit, wie die Aufständischen erwacht waren und wie man sie aufs Korn genommen hatte, um sie unschädlich zu machen. Er fügte hinzu, daß glücklicherweise kein Blut geflossen sei. Diese letztere Versicherung war eine Enttäuschung für die Zuhörer, die auf einen Toten gerechnet hatten.

Aber ich glaube, Sie haben geschossen unterbrach ihn Felicité, als sie sah, daß das Drama sehr ärmlich verlaufe.

 

Ja, ja, drei Schüsse, sagte der ehemalige Hutmacher. Der Wurstmacher Dubruel, Herr Liévin und Herr Massicot haben mit sträflicher Eile ihre Waffen entladen.

Und als darob ein Gemurmel entstand, fuhr er fort:

Ja, sträflich, ich halte das Wort aufrecht. Es gibt der Greuel genug im Kriege, ohne daß man unnützes Blut vergießt. Ich hätte euch an meiner Stelle sehen mögen … Die Herren schwuren mir übrigens, daß es nicht ihre Schuld sei; sie könnten sich nicht erklären, wie ihre Flinten losgegangen seien. Dennoch verirrte sich eine Kugel, die von der Mauer abprallte und einem Aufständischen einen blauen Fleck auf der Wange schlug.

Dieser blaue Fleck, diese unverhoffte Verwundung befriedigte die Zuhörer. Auf welcher Wange hatte er den blauen Fleck? Und wie ist es möglich, daß eine Kugel, und wäre es auch nur eine verirrte Kugel, jemanden an der Wange treffen kann, ohne sie zu durchlöchern? Diese Fragen boten Anlaß zu langen Erörterungen.

Wir oben, fuhr Rougon mit lauter Stimme fort, ehe die Erregung Zeit gefunden hatte, sich zu legen, wir oben hatten indessen viel zu tun. Es war ein harter Kampf …

Und er schilderte die Festnahme seines Bruders und der vier anderen Aufständischen sehr weitläufig, ohne Macquart beim Namen zu nennen. Er nannte ihn nur »der Anführer«. Die Worte: »das Arbeitszimmer des Herrn Bürgermeisters« – »der Sessel des Herrn Bürgermeisters« – »das Schreibpult des Herrn Bürgermeisters« kehrten jeden Augenblick wieder und verliehen dieser Schreckensszene in den Augen der Anwesenden eine wunderbare Größe. Es war nicht ein Kampf bei dem Hauswart, sondern bei dem ersten Beamten der Stadt. Roudier war zunichte gemacht. Endlich kam Rougon bei jener Episode an, die er seit dem Beginn vorbereitete und die ihn als Helden hinstellen sollte.

Da stürzte ein Aufständischer sich auf mich, erzählte er. Ich schiebe den Lehnsessel des Herrn Bürgermeisters zur Seite und fasse den Mann an der Gurgel. Ich hielt ihn fest, glauben Sie mir's. Allein, mein Gewehr behinderte mich. Ich wollte es nicht fallen lassen; man trennt sich niemals von seiner Waffe. Ich hielt es so, unter dem linken Arm. Plötzlich ging der Schuß los …

Alle hingen an Rougons Munde. Granoux, der vor Begierde brannte, auch seinerseits wieder zu reden und mit gespitztem Munde dastand, rief plötzlich aus:

Nein, nein … nicht so war's! Sie haben es nicht sehen können, mein Freund. Sie haben sich geschlagen wie ein Löwe. Aber ich, der ich half, einen der Gefangenen zu fesseln, ich habe alles gesehen … Der Mann hat Sie töten wollen; er ist's, der das Gewehr abgeschossen hat; ich habe sehr genau seine schwarzen Finger gesehen, als er sie unter Ihren Arm steckte.

Sie glauben? fragte Rougon erbleichend.

Er wußte nicht, daß er in so großer Gefahr geschwebt und die Erzählung des ehemaligen Mandelhändlers ließ das Blut in seinen Adern erstarren. Granoux log sonst nicht; aber an einem Schlachttage ist es wohl erlaubt, die Dinge in einem dramatischen Lichte zu sehen.

Wenn ich Ihnen sage! … Der Mensch hat Sie töten wollen, wiederholte er mit Überzeugung.

Darum also hörte ich die Kugel an meinem Ohre vorüber pfeifen, flüsterte Rougon mit ersterbender Stimme.

Es entstand eine heftige Aufregung im Salon; alle waren von Achtung für diesen Helden erfüllt. Er hatte eine Kugel an seinem Ohre vorüber pfeifen hören. Fürwahr, keiner der hier versammelten Spießbürger hatte ein gleiches von sich sagen können. Felicité glaubte sich ihrem Gatten in die Arme werfen zu müssen, um die Rührung der Versammlung auf den höchsten Gipfel zu treiben. Doch Rougon machte sich hastig los und schloß seine Erzählung mit dem folgenden heroischen Satze, der in Plassans berühmt geblieben ist:

Der Schuß geht los, ich höre die Kugel an meinem Ohre vorüber pfeifen und paff! die Kugel zerschmettert den Spiegel des Herrn Bürgermeisters.

Die Verblüffung war allgemein. Ein so schöner Spiegel! Unglaublich fürwahr! Der dem Spiegel widerfahrene Unfall hielt in der Teilnahme dieser Herren dem Heldenmute Rougons die Wage. Dieser Spiegel ward eine Person und man sprach von demselben eine Viertelstunde lang mit Worten des Mitleids, als ob diese Person im Herzen getroffen wäre. Es war das Sträußchen, wie Peter es vorbereitet hatte, die Entwickelung dieser wunderbaren Odyssee. Ein lautes Stimmengewirre erfüllte den gelben Salon. Man wiederholte unter sich die Geschichte, die man soeben gehört hatte, und von Zeit zu Zeit trat ein Herr aus der Gruppe, um von einem der drei Helden die genaue Darstellung irgendeiner bestrittenen Tatsache zu erfragen. Und die Helden stellten die Tatsache mit einer peinlichen Genauigkeit fest; sie fühlten, daß sie für die Geschichte sprachen.

Indessen sagten Rougon und seine beiden Beistände, daß sie auf dem Rathause erwartet würden. Achtungsvolle Stille trat ein; man grüßte sich gegenseitig mit ernstem Lächeln. Granoux platzte schier im Bewußtsein seiner Wichtigkeit; er allein hatte gesehen, wie der Aufständische den Hahn losdrückte und der Spiegel in Trümmer ging. Das machte ihn groß; er blies sich auf, daß er schier aus der Haut fuhr. Als er den Salon verließ, nahm er den Arm Roudiers mit der Miene eines von den Mühen gebrochenen großen Anführers und murmelte:

Seit sechsunddreißig Stunden bin ich auf den Beinen und Gott weiß, wann es mir vergönnt ist, das Bett aufzusuchen.

Als Rougon ging, nahm er Vuillet beiseite und sagte ihm, die Partei der Ordnung zähle mehr als je auf ihn und die Zeitung. Er müsse einen schönen Artikel bringen, um die Bevölkerung zu beruhigen und die Bande von Bösewichten, die Plassans durchzogen hatte, nach Gebühr zu geißeln.

Seien Sie beruhigt, erwiderte Vuillet. Die Zeitung sollte erst morgen erscheinen, aber ich will sie schon heute ausgeben.

Als sie fort waren, blieben die Gäste des gelben Salons noch einen Augenblick da geschwätzig wie die Basen, die ein entflohener Zeisig auf den Fußsteig versammelt. Für diese vormaligen Kaufleute, für diese Ölhändler, für diese Hutfabrikanten waren die neuen Ereignisse ein wahres Zauberdrama. Niemals hatte ein solcher Stoß sie aufgerüttelt. Sie konnten sich vor Staunen darüber nicht fassen, daß solche Helden wie Rougon, Granoux und Roudier unter ihnen erstanden. Als ihnen der Salon zu eng wurde und sie es überdrüssig wurden, sich immer wieder die nämliche Geschichte zu erzählen, empfanden sie ein lebhaftes Verlangen, die große Neuigkeit überallhin zu verbreiten. Sie verschwanden einer nach dem andern, jeder von dem Ehrgeiz getrieben, der erste zu sein, der alles weiß und alles erzählt; und Felicité, die allein geblieben war, sah, zum Fenster hinausgeneigt, wie sie sich in der Banne-Straße zerstreuten, die Arme bewegend wie große, dürre Vögel ihre Schwingen und nach allen vier Enden der Stadt die Aufregung verbreitend.

Es war zehn Uhr. Das aus dem Schlafe erwachte Plassans lief in den Straßen umher, verblüfft durch die umlaufenden Gerüchte. Wer die aufständische Rotte gesehen oder gehört hatte, erzählte märchenhafte Geschichten, die einander widersprachen, und erging sich in ungeheuerlichen Vermutungen. Aber die größte Anzahl Leute wußte nicht einmal, um was es sich handelte; sie wohnten in den äußeren Teilen der Stadt und hörten offenen Mundes wie ein Ammenmärchen, diese Geschichte von mehreren tausend Banditen, die die Straßen überfluteten und vor Tagesanbruch wieder verschwunden waren, wie ein Heer von Gespenstern. Die schlimmsten Zweifler sagten: »Geht, geht!« Und doch waren einige Einzelheiten ganz genau. Schließlich war Plassans überzeugt, daß, während es schlief, ein furchtbares Unglück über sein Haupt hinweggezogen sei, ohne es zu berühren. Diese schlecht erklärte Katastrophe verlieh den nächtlichen Schatten, den Widersprüchen der verschiedenen Nachrichten einen unbestimmten Charakter, einen unergründlichen Schrecken, der die Tapfersten erzittern ließ. Wer hat den Blitzschlag abgewendet? Es grenzte ans Wunderbare. Man sprach von unbekannten Rettern, von einer kleiner Schar von Männern, die der Hydra den Kopf abgeschlagen, aber ohne Einzelheiten vorzubringen wie von einer kaum glaublichen Sache, als die Gäste des kleinen Salons sich durch die Straßen zerstreuten, die Nachrichten verbreitend, vor jeder Türe die nämliche Geschichte erzählend.

Es war wie ein Lauffeuer. Binnen wenigen Minuten hatte die Nachricht den Weg von einem Ende der Stadt bis zum andern zurückgelegt. Der Name Rougon flog von Mund zu Mund, mit Ausrufen der Überraschung in der Neustadt, mit Lobeserhebungen im alten Stadtviertel. Der Gedanke, daß sie ohne Unterpräfekten, ohne Bürgermeister, ohne Postdirektor, ohne Einnehmer, ohne jede Behörde seien, rief zuerst Bestürzung unter den Einwohnern der Stadt hervor. Sie waren betroffen, wie sie ohne jegliches Regiment ihren Schlaf beenden und wie gewöhnlich aufstehen konnten. Als die erste Bewunderung vorüber war, stürzten sie sich hingebungsvoll ihren Befreiern in die Arme. Die wenigen Republikaner zuckten mit den Achseln; doch die Krämer, die kleinen Rentenbesitzer, die konservativen Elemente jeder Gattung segneten diese bescheidenen Helden, deren Taten das Dunkel der Nacht bedeckt hatte. Als man erfuhr, daß Rougon seinen eigenen Bruder verhaftet habe, kannte die Bewunderung keine Grenzen mehr. Man sprach von Brutus; diese Schwatzhaftigkeit, die er gefürchtet hatte, wandte sich zu seinem Ruhme. In dieser Stunde des noch nicht völlig zerstreuten Schreckens war die Dankbarkeit eine einhellige. Man ließ sich Rougon als Retter gefallen, ohne ihm näher ins Gesicht zu leuchten.

Bedenken Sie nur, sagten die Mattherzigen, sie waren ihrer im ganzen einundvierzig!

Diese Ziffer 41 brachte die ganze Stadt in Aufregung. So entstand zu Plassans die Legende von den einundvierzig Bürgern, die dreitausend Aufständische ins Gras hatten beißen lassen. Nur einige Neidharte der Altstadt, Advokaten ohne Prozesse, ehemalige Soldaten, die sich schämten, diese Nacht geschlafen zu haben, erhoben leise Zweifel. Alles in allem waren die Aufständischen vielleicht von selbst abgezogen. Es gab keinerlei Beweise eines Kampfes, weder Leichen, noch Blutlachen. Die Herren hatten wahrhaftig eine leichte Aufgabe.

Aber der Spiegel, der Spiegel! wiederholten die Fanatiker. Sie können doch nicht leugnen, daß der Spiegel des Herrn Bürgermeisters zertrümmert ist. Schauen Sie nur nach!

Und in der Tat drängte bis zum Abend eine Menge Leute unter tausend Vorwänden in das Arbeitszimmer, dessen Türe Rougon übrigens weit offen gelassen hatte; sie stellten sich vor den Spiegel hin, in den die Kugel ein rundes Loch geschlagen, von dem breite Brüche ausliefen; dann murmelten alle dieselben Worte:

Alle Wetter! Die Kugel war aber stark!

Und sie gingen überzeugt ihrer Wege.

Felicité stand an ihrem Fenster und sog mit Wonne diese Nachrichten, die Lobsprüche und Danksagungen ein, die in der Stadt emporstiegen. Ganz Plassans beschäftigte sich zu dieser Stunde mit ihrem Gatten; sie fühlte ordentlich, wie die Stadtteile zu ihren Füßen erbebten und alle Hoffnung auf einen nahen Sieg in ihn setzten. Ha, wie wird sie diese Stadt zertreten, die sie so spät sich unterwarf. Aller ihrer Kränkungen war sie jetzt eingedenk; ihre früheren Leiden schärften nur ihr Verlangen nach unmittelbaren Freuden und Genüssen.

Sie verließ das Fenster und schritt langsam im Salon umher. Hier hatten vorhin alle Hände sich ihnen entgegen gestreckt. Sie hatten gesiegt, die Bürgerschaft lag zu ihren Füßen. Der gelbe Salon schien ihr geweiht. Die lahmen Möbel, der verschossene Samt, der vom Fliegenschmutz ganz schwarze Armleuchter, alle diese Trümmer waren jetzt in ihren Augen die ruhmvollen Bruchstücke, die auf einem Schlachtfelde ausgestreut liegen. Die Ebene von Austerlitz hätte ihr kaum eine so tiefe Ehrfurcht einflößen können.

Als sie wieder an das Fenster trat, bemerkte sie Aristide, der, die Nase witternd in die Höhe richtend, auf dem Platze der Unterpräfektur herumschlenderte. Sie winkte ihm heraufzukommen. Er schien nur auf diesen Ruf gewartet zu haben.

Komm doch herein, sagte ihm seine Mutter, als sie ihn auf dem Flur stehen sah. Dein Vater ist nicht zu Hause.

Aristide machte eine verlegene Miene wie ein verlorener Sohn. Seit bald vier Jahren hatte er den gelben Salon nicht mehr betreten. Er trug den Arm noch in der Binde.

Schmerzt dich deine Hand noch immer? fragte seine Mutter spöttisch.

Er errötete und antwortete verlegen:

Nein, es geht besser; sie ist fast geheilt.

Dann blieb er verlegen stehen, drehte sich hin und her und fand nichts zu sagen. Seine Mutter kam ihm zu Hilfe, Du hast gehört, wie tapfer dein Vater sich benommen hat? fragte sie.

 

Er erwiderte, daß in der ganzen Stadt davon gesprochen werde. Inzwischen hatte er auch seine Keckheit wiedererlangt. Um seiner Mutter ihre Spötterei zu vergelten, fügte er hinzu, indem er ihr fest in die Augen blickte:

Ich bin gekommen, zu sehen, ob Papa nicht verwundet ist.

Stelle dich doch nicht so dumm! rief Felicité mit ihrer gewohnten Heftigkeit. Ich an deiner Stelle würde entschlossen handeln. Du hast einen Mißgriff begangen, gestehe es nur, indem du dich mit diesen lumpigen Republikanern einließest. Heute wäre es dir ganz recht, sie im Stiche zu lassen und mit uns zu gehen, weil wir die Stärkeren sind. Unser Haus steht dir offen.

Doch Aristide widersprach. Die Republik sei eine große Idee, meinte er. Auch könne es geschehen, daß die Aufständischen den Sieg davon tragen.

Laß mich doch zufrieden! fuhr die alte Frau gereizt fort. Du fürchtest, dein Vater könne dich schlecht empfangen. Ich nehme die Sache auf mich … Höre mich an: du begibst dich zu deinem Blatte und fertigst zwischen heute und morgen eine dem Staatsstreiche sehr günstige Nummer an; morgen abend, wenn die Nummer erschienen ist, kommst du hierher und wirst mit offenen Armen empfangen.

Und da der junge Mann noch immer in seinem Stillschweigen verharrte, fuhr sie mit gedämpfter Stimme und immer lebhafter fort:

Hörst du mich? Es handelt sich um unser Glück und um dein Glück. Fange deine Torheiten nicht wieder an. Du bist schon ohnehin genug kompromittiert.

Der junge Mann machte eine Gebärde, wie etwa Cäsar sie gemacht hat, als er den Rubicon überschritt. In dieser Weise vermied er, sich durch Worte irgendwie zu binden. In dem Augenblicke, als er sich entfernen wollte, wies seine Mutter auf seine Schärpe und meinte:

Vor allem mußt du diesen Fetzen wegwerfen; das Ding ist lächerlich.

Aristide ließ sie gewähren. Als die Schleife los war, faltete er sie sauber zusammen, küßte seine Mutter und sagte:

Auf Wiedersehen bis morgen!

Inzwischen ergriff Rougon öffentlich Besitz vom Bürgermeisteramte. Es waren im ganzen acht Gemeinderäte da; die übrigen waren in der Gewalt der Aufständischen, ebenso wie der Bürgermeister und seine beiden Gehilfen. Diesen acht Herren – Helden vom Schlage Granoux – trat der Angstschweiß auf die Stirne, als der letztere ihnen die kritische Lage der Stadt erläuterte. Um zu begreifen, mit welchem Schrecken diese biederen Bürger sich Rougon in die Arme warfen, muß man wissen, aus welchen Elementen die Gemeindevertretung gewisser kleiner Provinzstädte sich zusammensetzte. In Plassans hatte der Bürgermeister es mit unglaublichen Dummköpfen zu tun, mit bloßen Werkzeugen einer völlig passiven Fügsamkeit. Als Herr Garçonnet nicht mehr da war, mußte die Gemeindemaschine aus den Fugen gehen und dem erstbesten gehören, der es verstand, sich des Räderwerks zu bemächtigen. Da der Unterpräfekt derzeit die Gegend verlassen hatte, war Rougon natürlich vermöge der Umstände der alleinige und unumschränkte Gebieter der Stadt. Eine seltsame Krise, die die Macht, in die Hände eines abgetanen Menschen legte, dem noch einen Tag vorher keiner der Bürger auch nur hundert Centimes geliehen hätte.

Peters erste Verfügung war, daß er die einstweilige Kommission für dauernd erklärte. Dann beschäftigte er sich mit der Neubildung der Nationalgarde, und es gelang ihm, dreihundert Mann auf die Beine zu bringen. Die in der Scheune zurückgebliebenen hundertundneun Gewehre wurden verteilt, wodurch es die Reaktion auf hundertundfünfzig Bewaffnete brachte; die anderen hundertundfünfzig Nationalgarden waren gutgesinnte Bürger und Soldaten, die Sicardot zu Gebote standen. Als der Kommandant Roudier auf dem Rathausplatze diese kleine Armee aufmarschieren ließ, sah er zu seinem Verdrusse, daß die Gemüsehändler höhnisch lächelten. Nicht alle hatten eine Uniform. Einige sahen recht drollig aus mit ihrem schwarzen Hute, ihrem Überrock und ihrer Flinte. Aber im Grunde war die Absicht gut. Auf dem Bürgermeisteramte ließ man einen Wachtposten zurück; der Rest der kleinen Armee wurde in Abteilungen aufgelöst, die nach den verschiedenen Stadttoren gesendet wurden. Roudier behielt sich den Befehl über den Posten am großen Tore vor; dieser Punkt war am meisten gefährdet.

Rougon selbst, der sich in diesem Augenblicke sehr stark fühlte, begab sich nach der Canquoin-Straße, um die Gendarmen zu bitten, daß sie zu Hause blieben und sich in nichts einmengten. Er ließ übrigens die Tür der Gendarmerie öffnen, deren Schlüssel die Aufständischen mitgenommen hatten. Aber er wollte ganz allein triumphieren; die Gendarmen sollten ihm nicht einen Teil seines Ruhmes entreißen. Sollte er ihrer durchaus bedürfen, werde er sie schon rufen; und er erklärte ihnen, daß ihre Anwesenheit die Arbeiter vielleicht reizen und so die Lage nur noch verschlimmern würde. Der Abteilungskommandant beglückwünschte ihn zu seiner klugen Vorsicht. Als Rougon hörte, daß in der Kaserne ein Verwundeter liege, wollte er sich beliebt machen und verlangte, den Mann zu sehen. Er fand Rengade mit einer Binde um die Augen, unter welcher der dichte Schnurrbart hervorragte. Er ermutigte durch eine schöne Rede über die Pflichterfüllung den Einäugigen, der fluchend und schnaubend dalag, erbittert ob seiner Verwundung, die ihn zwingen werde, aus dem Dienste zu treten. Rougon versprach, ihm einen Arzt zu senden.

Ich danke Ihnen, mein Herr, erwiderte Rengade; aber mehr Erleichterung denn alle Arzeneien würde mir schaffen, wenn ich dem Elenden, der mir das Auge ausgestoßen, den Hals umdrehen könnte. Ich werde ihn erkennen; es ist ein kleiner magerer Mensch, bleich und noch ganz jung …

Peter erinnerte sich des Blutes, welches die Hände Silvères bedeckte. Er wich unwillkürlich zurück, als habe er gefürchtet, daß Rengade ihn an der Gurgel fassen und ausrufen könne: Dein Neffe ist's, der mir das Auge ausgestoßen; du wirst es statt seiner entgelten! Während er im stillen seiner unwürdigen Familie fluchte, erklärte er feierlich, daß der Schuldige, wenn er ergriffen werde, mit der vollen Strenge der Gesetze bestraft werden solle.

Nein, nein, unnötig, erwiderte der Einäugige; ich werde ihm schon den Hals umdrehen.

Rougon beeilte sich, nach dem Bürgermeisteramte zurückzukehren. Der Nachmittag wurde dazu benutzt, verschiedene Vorkehrungen zu treffen. Die gegen ein Uhr angeheftete Kundmachung brachte einen sehr guten Eindruck hervor. Sie schloß mit einer Berufung an die Besonnenheit der Bürger und gab die bündige Versicherung, daß die Ordnung nicht gestört werden solle. Bis zum Abend boten die Straßen in der Tat das Bild allgemeiner Beruhigung und vollständigen Vertrauens. Die Gruppen auf den Bürgersteigen sagten, nachdem sie die Proklamation gelesen:

Es ist zu Ende; wir sehen bald die zur Verfolgung der Aufständischen ausgesendeten Truppen erscheinen. Der Glaube an das nahe Eintreffen der Soldaten war so groß, daß die Müßiggänger von der Promenade Sauvaire sich auf die Nizzaer Straße begaben, um der Musik entgegenzugehen. Mit einbrechender Nacht kamen sie enttäuscht zurück; sie hatten nichts gesehen. Da bemächtigte sich eine dumpfe Unruhe der Stadt.

Die einstweilige Vertretung auf dem Bürgermeisteramte hatte so viele leere Worte gemacht, daß ihre Mitglieder, hungrig und erschreckt durch ihr eigenes Geschwätz, sich abermals von Furcht ergriffen fühlten; Rougon entließ sie zum Essen und berief sie für neun Uhr abends wieder ein. Er selbst schickte sich an, das Zimmer zu verlassen, als Macquart erwachte und heftig an die Türe seines Gefängnisses zu pochen begann. Er erklärte, daß er Hunger habe; dann fragte er nach der Zeit, und als sein Bruder ihm sagte, daß es fünf Uhr sei, brummte er mit teuflischer Bosheit, ein lebhaftes Erstaunen heuchelnd, daß die Aufständischen ihm versprochen hätten, früher zurückzukehren und daß sie sehr lange säumten, ihn zu befreien. Rougon ließ ihm zu essen reichen und ging dann hinunter, gereizt durch die Beharrlichkeit, mit welcher Macquart von der Rückkehr der aufständischen Horde sprach.