50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

Tekst
Książka nie jest dostępna w twoim regionie
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Kapitel Drei­und­neunzig



Gegen fünf Uhr morgens wagte Rougon endlich das Haus seiner Mutter zu verlassen. Die Alte war auf einem Sessel eingeschlafen. Vorsichtig wagte er sich bis zum Ende des Saint-Mittre-Gäßchens. Kein Laut, kein Schatten. Er drang bis zum römischen Tore vor. Hinter den weit offenen Torflügeln lag die schlafende Stadt im Dunkel da. Plassans schlief fest, ohne zu ahnen, welche Unvorsichtigkeit es beging, indem es die Stadttore offen ließ. Man hätte glauben mögen, eine tote Stadt vor sich zu haben. Rougon faßte allmählich Mut und betrat die Nizzaer Straße. Schon aus der Ferne spähte er nach jeder Gassenecke und er zitterte bei jeder Türhöhlung, weil er glaubte, daß eine Bande Aufständischer hervorbrechen und ihm an den Hals springen könne. Indes erreichte er unbehelligt die Promenade Sauvaire. Entschieden waren die Aufständischen im Dunkel zerstoben wie ein böser Traum.



Da hielt Peter einen Augenblick auf dem verlassenen Bürgersteige still. Er stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung und des Triumphes aus. Diese Halunken von Republikanern überließen ihm Plassans. Zu dieser Stunde gehörte die Stadt ihm; sie schlief in ihrer Einfalt; dunkel und friedlich, stumm und vertrauensvoll lag sie da; er brauchte nur die Hand nach ihr auszustrecken. Dieser kurze Halt, dieser Blick eines überlegenen Mannes, auf den Schlaf einer ganzen Unterpräfektur geworfen, verursachte ihm eine unsagbare Wonne. Er stand da mit gekreuzten Armen, in der Einsamkeit der Nacht, die Pose eines Anführers am Vorabend einer siegreichen Schlacht annehmend. In der Ferne vernahm er nichts als das Plätschern der Springbrunnen auf dem Platze, die ihr Wasser in dünnen Fäden in das Becken fallen ließen.



Dann stieg ein Gefühl der Angst in ihm auf. Wenn man unglücklicherweise das Kaiserreich ohne ihn errichtet hätte! Wenn die Sicardot, die Garconnet, die Peirotte, anstatt verhaftet und von der Bande der Aufständischen fortgeführt zu werden, die letzteren in die Kerker der Stadt geworfen hätten! Der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirne; er setzte seinen Weg fort in der Hoffnung, daß Felicité ihm genaue Nachrichten geben werde. Er ging jetzt rascher immer die Häuser der Banne-Straße entlang, als ein seltsames Schauspiel, das er den Kopf erhebend erblickte, ihn plötzlich fesselte. Ein Fenster des gelben Salons war hell beleuchtet, und eine schwarze Gestalt, die er als seine Frau erkannte, beugte sich hinaus und fuchtelte verzweifelt mit den Armen. Er war erschreckt und begriff nichts von der Sache; da fiel ein harter Gegenstand zu seinen Füßen nieder. Felicité warf ihm den Schlüssel des Schuppens hinab, wo er die Gewehre versteckt hatte. Der Schlüssel bedeutete klar, daß er die Waffen holen solle. Er machte denn auch sogleich kehrt, obgleich er nicht begreifen konnte, weshalb seine Frau ihn verhindert hatte, hinaufzugehen. Er bildete sich furchtbare Dinge ein.



Geradenwegs ging er zu Roudier, den er auf und marschbereit fand, aber in völliger Unkenntnis der Geschehnisse der Nacht. Roudier wohnte am Ende der Neustadt mitten in einer Einöde, wohin das Geräusch der durchziehenden Aufständischen nicht gedrungen war. Peter machte ihm den Vorschlag, Granoux aufzusuchen, dessen Haus an der Ecke des Recolletsplatzes lag und vor dessen Hause die Aufständischen hatten vorbeikommen müssen. Die Magd des Gemeinderates unterhandelte lange, ehe sie die beiden einließ, und sie hörten, wie der arme Mann mit zitternder Stimme vom ersten Stock herabrief:



Öffnen Sie nicht, Katharina! Die Straßen sind noch voll von Räubern.



Er war in seinem Schlafzimmer ohne Licht. Als er seine zwei Freunde erblickte, fühlte er sich erleichtert; aber er wollte nicht, daß die Magd eine Lampe bringe, weil er fürchtete, die Helle könne ihm eine Kugel zuziehen. Er schien zu glauben, die Stadt sei noch voll von Aufständischen. In einem Sessel am Fenster zurückgelehnt, in Unterhosen und den Kopf in ein Seidentuch gehüllt, saß er da und ächzte:



Ach, meine Freunde, wenn ihr wüßtet! Ich versuchte zu schlafen, aber sie machten einen Lärm! Da warf ich mich in einen Lehnsessel. Ich habe alles gesehen, alles. Greuliche Fratzen! Eine Bande von entsprungenen Zuchthäuslern! Sie kamen noch einmal vorbei und schleppten den tapfern Major Sicardot, den würdigen Herrn Garçonnet, den Postdirektor und noch andere Herren mit und stießen ein wahres Kannibalengeheul aus.



Rougon war innerlich hoch erfreut. Er ließ sich von Granoux noch einmal erzählen, daß dieser den Bürgermeister und die anderen wirklich in der Mitte des Gesindels gesehen hatte.



Wenn ich Ihnen sage! ächzte der gute Alte; ich stand hinter dem Fenstervorhang und sah alles. Auch Herrn Peirotte haben sie verhaftet. Ich hörte ihn sagen: Tun Sie mir nichts zuleide, meine Herren! Sie haben ihn sicherlich zu Tode gefoltert. 0, es ist eine Schmach!



Roudier beschwichtigte Granoux, indem er ihm versicherte, die Stadt sei frei. Der würdige Mann nahm denn auch sogleich eine kriegerische Haltung an, als Peter ihm sagte, er wolle ihn holen kommen, damit sie Plassans retteten. Die drei Retter berieten sich. Sie beschlossen, daß jeder von ihnen seine Freunde wecken und nach dem Schuppen, dem geheimen Arsenal der Reaktion, bestellen werde. Rougon dachte immer an die heftigen Armbewegungen Felicitès und witterte irgendwo Gefahr. Granoux, sicherlich der dümmste von den dreien, war der erste, der fand, daß Republikaner in der Stadt geblieben sein müßten. Das war ein Lichtblick; in einem untrüglichen Vorgefühl sagte sich Rougon:



Da muß Macquart die Hand im Spiele haben.



Nach Verlauf einer Stunde fanden sie sich im Schuppen wieder, der im Hintergrunde eines abseits gelegenen Stadtviertels lag. Vorsichtig waren sie von Tür zu Tür geschlichen, hatten die Hausglocken und Türhämmer leise gehandhabt und so viel Männer wie möglich zusammengerufen. Aber sie hatten ihrer kaum vierzig gewonnen, die nach und nach kamen, im Schatten dahinhuschend, ohne Krawatte, mit ihren bleichen und verschlafenen Spießbürgergesichtern. Der Schuppen, den man von einem Faßbinder gemietet hatte, war voll bodenloser Fässer und alter eiserner Reifen. In der Mitte lagen die Gewehre in drei langen Kisten. Eine Kellerlaterne beleuchtete diese seltsame Szene mit ihrem Flackerscheine. Als Rougon die Deckel von den drei Kisten abhob, bot sich ein Schauspiel von düsterer Drolligkeit. Über den Gewehren, deren Läufe bläulich und gleichsam phosphoreszierend schimmerten, reckten sich die Hälse und neigten sich die Köpfe mit einer Art geheimer Furcht, während das flackernde Licht der Laterne die Schatten ungeheurer Nasen und riesiger Büschel starren Haares auf die Wände zeichnete.



Indes begann die reaktionäre Schar ihre Mannen abzuzählen; angesichts der geringen Anzahl zögerte sie. Es waren ihrer neununddreißig; das hieß in den sicheren Tod gehen. Ein Familienvater sprach von seinen Kindern; andere wandten sich zur Türe, ohne auch nur einen Vorwand anzuführen. Mittlerweile kamen noch zwei Verschworene; diese wohnten auf dem Rathausplatze und wußten, daß in dem Rathause kaum zwanzig Republikaner zurückgeblieben seien. Man beriet von neuem. Einundvierzig gegen zwanzig schien eine mögliche Ziffer. Unter einem leichten Frösteln wurden die Waffen verteilt. Rougon nahm sie aus den Kisten und beim Empfang seines Gewehres, dessen Lauf ia dieser Dezembernacht eisig kalt war, fühlte jeder eine große Kälte bis in sein Innerstes ihn durchdringen. Die Schatten an den Wänden nahmen die seltsamen Gestalten von linkischen Rekruten an, die alle zehn Finger ausspreizen. Pierre schloß die Kisten mit Bedauern wieder zu; es blieben hundertneunundzwanzig Gewehre zurück, die er gar so gerne verteilt hätte. Dann ging er an das Verteilen des Schießbedarfes. Im Hintergrunde des Schuppens standen zwei bis an den Rand gefüllte Fässer voll Patronen; das war genug, um Plassans gegen eine Armee zu verteidigen. Da dieser Winkel nicht beleuchtet war und einer der Herren sich mit der Laterne näherte, erboste sich ein anderer Verschworener – ein dicker Fleischermeister mit riesigen Fäusten – und meinte, es sei sehr unvorsichtig, dermaßen mit dem Lichte nahe zu kommen. Die anderen stimmten ihm lebhaft zu. Die Patronen wurden dann in voller Finsternis verteilt. Sie füllten sich damit die Taschen zum Platzen. Als sie fertig waren und ihre Waffen mit unendlicher Vorsicht geladen hatten, standen sie einen Augenblick unschlüssig da, sahen sich gegenseitig argwöhnisch an und tauschten Blicke aus, in denen feige Grausamkeit sich mit Dummheit mengte.



In den Straßen schlichen sie längs der Häuser hin, stumm, in einer langen Reihe, wie die Wilden, die in den Krieg ziehen. Rougon hatte sich die Ehre ausgebeten, an der Spitze zu marschieren; die Stunde war gekommen, wo er seine Person einsetzen mußte, wenn er einen Erfolg seiner Pläne sehen wollte. Trotz der herrschenden Kälte stand ihm der Schweiß auf der Stirne; aber er bewahrte eine sehr kriegerische Haltung. Unmittelbar hinter ihm kamen Roudier und Granoux. Zweimal hielt die Kolonne plötzlich inne; sie hatte das Geräusch eines Treffens aus der Ferne zu vernehmen geglaubt; es waren aber nur die Messingteller der Barbiere, die im Morgenwinde tanzten. Nach jedem Halt nahmen die Retter von Plassans ihren vorsichtigen Marsch durch die Finsternis wieder auf, immer ihre Haltung wilder Helden beibehaltend. So langten sie auf dem Rathausplatze an. Hier stellten sie sich um Rougon und hielten wieder einmal großen Kriegsrat. Ihnen gegenüber, an der schwarzen Stirnwand des Rathauses war ein einziges Fenster erhellt. Es war nahezu sieben Uhr; der Tag mußte bald anbrechen.



Nach einer Besprechung von zehn Minuten wurde beschlossen, bis zum Tore vorzudringen, um zu sehen, was dieses Dunkel, dieses beunruhigende Schweigen zu bedeuten habe. Das Tor war nur angelehnt. Einer der Verschworenen steckte den Kopf hindurch und zog ihn gleich wieder zurück, indem er meldete, daß unter der Torwölbung ein Mann sei, der mit der Flinte zwischen den Beinen an die Wand gelehnt sitze und schlafe. Als Rougon sah, daß es hier etwas zu erforschen gebe, trat er zuerst ein, bemächtigte sich des Mannes und hielt ihn fest, während Roudier ihn knebelte. Dieser erste Erfolg – in aller Stille errungen – ermutigte seltsam die kleine Truppe, die von einer mörderischen Schießerei geträumt hatte. Rougon mußte gebieterisch abwinken, damit die Freude seiner Soldaten sich nicht gar zu geräuschvoll offenbare.

 



Auf den Fußspitzen schleichend, drangen sie weiter vor. Sie sahen in der links gelegenen Polizeiwachtstube etwa fünfzehn Männer, die auf einem Feldbette lagen und bei dem verlöschenden Lichte einer an der Wand hängenden Laterne schnarchten. Rougon, der entschieden ein großer General wurde, ließ die Hälfte seiner Leute vor dem Polizeiposten zurück mit der Weisung, die Schläfer nicht zu wecken, aber in Schach zu halten und gefangen zu nehmen, wenn sie sich rühren sollten. Was ihn beunruhigte, war das erleuchtete Fenster, das sie vom Rathausplatze gesehen hatte; er witterte noch immer, daß Macquart mit bei der Geschichte sei, und da er begriff, daß man sich vor allem derer bemächtigen müsse, die oben wachten, zog er es vor, sie zu überrumpeln, ehe das Geräusch des Kampfes zu ihnen drang und sie sich verbarrikadierten. Er stieg sachte die Treppe hinan, gefolgt von den zwanzig Helden, über die er noch verfügte. Roudier befehligte die im Hofe zurückgebliebene Abteilung. In der Tat machte sich Macquart oben, im Arbeitszimmer des Bürgermeisters breit, in dessen Sessel sitzend, die Ellbogen auf dessen Schreibpult gestemmt. Nach dem Abzug der Aufständischen hatte er mit der Vertrauensseligkeit eines Einfaltspinsels, völlig in seiner fixen Idee und in seinem Liebestraum sich wiegend, sich gesagt, daß er der Herr von Plassans sei und daß er daselbst als Sieger auftreten wolle. In seinen Augen war diese Bande von dreitausend Mann, die soeben durch die Stadt gezogen war, eine unbesiegbare Armee, die genügen würde, diese Spießbürger untertänig und seinen Befehlen gefügig zu machen. Die Aufständischen hatten die Gendarmen in ihrer Kaserne eingesperrt; die Nationalgarde war in voller Auflösung, das adelige Viertel mußte vor Angst zittern, die Rentiers der Neustadt hatten gewiß in ihrem ganzen Leben kein Gewehr berührt. Es fehlte übrigens an Waffen, wie es an Soldaten fehlte. Er gebrauchte nicht einmal die Vorsicht, die Tore schließen zu lassen und während seine Leute das Zutrauen so weit trieben, daß sie sich schlafen legten, erwartete er selbst ruhig den Anbruch des Tages, der – wie er glaubte – alle Republikaner der Gegend sich um ihn scharen sehen sollte.



Schon dachte er an große, revolutionäre Maßregeln: es sollte eine Gemeindevertretung gewählt werden, deren Oberhaupt er sein würde; die schlechten Patrioten und besonders die Leute, die ihm mißfielen, sollten eingekerkert werden. Der Gedanke, das die Rougons besiegt seien, der gelbe Salon verödet sei, die ganze Gesellschaft Gnade von ihm erflehen werde, erfüllte ihn mit süßer Freude. Inzwischen wollte er einen Aufruf an die Bewohner von Plassans richten. Ihrer vier machten sich daran, das Schriftstück abzufassen. Als sie damit fertig waren, nahm Macquart in dem Sessel des Bürgermeisters eine würdige Haltung an und ließ sich das Plakat vorlesen, ehe er es in die Buchdruckerei des »Unabhängigen« schicke, auf deren Bürgersinn er rechnete. Einer der Verfasser des Plakats begann mit Begeisterung zu lesen: Bewohner von Plassans! die Stunde der Unabhängigkeit hat geschlagen. Die Herrschaft der Gerechtigkeit ist gekommen …



Da ward draußen ein Geräusch vernehmbar und die Türe ging langsam auf.



Bist du es, Cassoute? fragte Macquart und unterbrach das Lesen.



Keine Antwort. Die Türe wurde noch weiter geöffnet.



So komm doch herein! rief Macquart Ist mein Bruder, der Räuber, zu Hause?



Da wurden plötzlich beide Flügel der Türe heftig aufgestoßen und eine Schar bewaffneter Männer, in ihrer Mitte Rougon, zornesrot mit aus den Höhlen tretenden Augen, drang in das Zimmer, und diese Männer schwangen ihre Flinten wie Stöcke.Ha, die Hundsfötter haben Waffen! heulte Macquart.



Er wollte ein paar Pistolen ergreifen, die auf dem Schreibpulte lagen; allein schon hatten fünf Männer ihn an der Gurgel gefaßt, daß er sich nicht rühren konnte. Die vier Verfasser des Aufrufes wehrten sich einen Augenblick. Es begann ein Drängen, Stoßen, Stampfen; einzelne fielen mit dumpfem Geräusch zu Boden. Die Kämpfenden waren seltsam behindert durch ihre Flinten, die ihnen zu nichts nütze waren und die sie dennoch nicht lassen wollten. Im Drange des Gefechtes ging die Flinte Rougons, die ein Aufständischer ihm entreißen wollte, von selbst los mit einem schrecklichen Knall, das Zimmer mit Rauch füllend. Die Kugel zerschmetterte einen Spiegel, der vom Kamin bis an die Decke reichte und für einen der schönsten Spiegel der Stadt galt. Dieser Schuß, den sich niemand erklären konnte, verblüffte alle und machte dem Kampfe ein Ende.



Während die Herren sich verschnauften, hörte man im Hofe drei Schüsse. Granoux eilte zu einem der Fenster des Zimmers. Die Gesichter wurden länger, und alle harrten ängstlich, was da kommen werde, wenig entzückt von der Aussicht, den Kampf mit den Polizeileuten aufnehmen zu müssen, die sie in ihrem Siegesrausche vergessen hatten. Doch Roudier rief ihnen hinauf, daß alles gut gehe. Tatsache war, daß der Schuß aus der Flinte Rougons die Schläfer geweckt hatte; sie hatten sich ergeben, da sie sahen, daß jeder Widerstand unmöglich sei. Nur hatten in der blinden Hast und weil sie die Sache los haben wollten, drei Leute Roudiers ihre Flinten in die Luft abgeschossen, gleichsam als Antwort auf den Schuß von oben, wenngleich sie nicht recht wußten, was sie taten. Es gibt eben Augenblicke, wo die Flinten in den Händen der Feiglinge von selbst losgehen.



Mittlerweile ließ Rougon mittels der Schnüre der grünen Vorhänge des Zimmers Macquart fesseln. Dieser hätte weinen mögen vor Wut, tat aber sehr keck und zuversichtlich.



Nur zu, schon recht! sagte er. Heute abend oder morgen, wenn die anderen wiederkommen, werden wir unsere Rechnung begleichen.



Bei dieser Anspielung auf die Bande der Aufständischen überlief die Sieger eine Gänsehaut. Im besonderen fühlte Rougon, daß sich ihm die Kehle zusammenschnürte. Sein Bruder, der wütend darüber war, wie ein Kind überrumpelt zu werden von diesen schreckensbleichen Spießbürgern, die er, der ehemalige Soldat, als verächtliche Hasenfüße behandelte – sein Bruder also betrachtete ihn mit von Trotz und Haß leuchtenden Augen.



Oh, ich weiß schöne Geschichten, fuhr er fort, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Schickt mich nur auf die Anklagebank; da will ich den Richtern lustige Dinge erzählen.



Rougon wurde bleich. Er hatte eine höllische Angst, daß Macquart reden und ihn um die Achtung der Herren bringen könne, die ihm soeben Plassans hatten retten helfen. Diese hatten sich übrigens, völlig verblüfft von der dramatischen Begegnung der beiden Brüder, in einen Winkel des Kabinetts zurückgezogen, als sie sahen, daß eine stürmische Auseinandersetzung stattfinden werde. Rougon faßte einen heldenmütigen Entschluß. Er näherte sich der Gruppe und sagte in einem ruhigen Tone:



Wir werden den Mann hier behalten. Wenn er über seine Lage nachgedacht hat, kann er uns nützliche Aufschlüsse geben.



Dann fügte er in einem noch würdigeren Tone hinzu:



Ich werde meine Pflicht erfüllen, meine Herren. Ich habe geschworen, die Stadt vor Mord und Brand zu retten, und ich werde sie retten, selbst wenn ich der Henker meines nächsten Anverwandten werden müßte.



Man glaubte einen alten Römer zu hören, der seine Familie auf dem Altar des Vaterlandes opfert. Granoux war sehr gerührt und drückte ihm die Hand mit einer trübseligen Miene, die besagen wollte: »Ich begreife Sie; Sie sind erhaben.« Er erwies ihm dann den Dienst, alle wegzuführen, unter dem Vorwande, daß er die vier Gefangenen, die man hier überwältigt, in den Hof führen müsse.



Als Peter mit seinem Bruder allein war, fühlte er seinen ganzen Mut wiederkehren.



Ihr habt mich nicht erwartet, wie? sagte er. Ich verstehe Euch jetzt. Ihr scheint in meiner Wohnung eine Falle gestellt zu haben. Unglücklicher! Ihr seht jetzt, wohin Euere Laster und Euere Streiche Euch führen.



Macquart zuckte mit den Achseln.



Laßt mich in Ruhe. Ihr seid ein alter Schuft, erwiderte er. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.



Rougon, der noch keinen bestimmten Plan mit ihm hatte, stieß ihn in ein Ankleidezimmer, in dem Herr Garçonnet manchmal ausruhte. Dieses Kabinett, das von obenher das Licht empfing, hatte keinen andern Ausgang, als die Türe, die nach dem Arbeitszimmer des Bürgermeisters führte. Es war mit einigen Lehnsesseln, einem Diwan und einem Waschtische von Marmor möbliert. Peter verschloß die Türe sorgfältig, nachdem er die Fessel seines Bruders gelockert hatte. Er hörte diesen letzteren sich auf den Diwan werfen und mit einer fürchterlichen Stimme das »Ca ira!« anheben, mit dem er sich gleichsam in den Schlaf lullen wollte.



Als er endlich allein war, ließ sich Rougon in den Sessel des Bürgermeisters nieder. Er stieß einen Seufzer aus und trocknete sich die Stirne. Wie schwer war es doch, Reichtum und Ehren zu erwerben! Endlich war er am Ziel: endlich saß er im weichen Lehnsessel; endlich konnte er mit einer unbewußten Handbewegung das Schreibpult von Acajouholz streicheln, das er weich und zart fand, wie die Haut einer schönen Frau. Er richtete sich noch stolzer auf und nahm jene würdige Haltung an, die Macquart einen Augenblick früher bei der Lesung der Proklamation angenommen hatte. Die Stille im Zimmer schien ihm einen feierlichen Ernst anzunehmen, der seine Seele mit göttlicher Wonne erfüllte. Selbst der Geruch des Staubes und der alten Papiere, die in den Winkeln herumlagen, stieg ihm wie Weihrauch in die weit offenen Nüstern. Dieses Zimmer mit den verblaßten Tapeten, das nach den kleinlichen, erbärmlichen Geschäften und Sorgen einer Stadt dritten Ranges roch, war für ihn ein Tempel, dessen Gott er wurde. Ihm war, als sei er in ein Heiligtum getreten. Er, der im Grunde die Priester nicht liebte, erinnerte sich der tiefen Rührung, die ihn ergriff, als er bei seiner ersten Kommunion den Leib des Heilands zu genießen glaubte.



Aber in seiner Wonne störte ihn ein nervöses Zucken, so oft er die Stimme Macquarts hörte. In heftigen Ausbrüchen drangen die Worte: Aristokrat, Laterne, Hängen durch die Türe und durchschnitten in unliebsamer Weise seinen Siegestraum. Immer dieser Mensch! Und sein Traum, der ihm Plassans zu seinen Füßen zeigte, schloß mit dem plötzlichen Bilde des Gerichtshofes, der Richter, der Geschworenen und des Publikums, die den schmachvollen Enthüllungen Macquarts lauschen, der Geschichte von den fünfzigtausend Franken und den anderen Geschichten; oder: während er in dem weichen Lehnsessel des Bürgermeisters ruhte, sah er sich plötzlich an einer Laterne der Banne-Straße hängen. Wer wird ihn von diesem Elenden befreien? Endlich schlief Antoine ein. Peter hatte zehn Minuten ungetrübten Entzückens.



Roudier und Granoux kamen und rüttelten ihn aus seinem süßen Brüten auf. Sie kamen aus dem Gefängnisse, wohin sie die Aufständischen geführt hatten. Der Tag brach an, die Stadt mußte bald erwachen, es galt einen Entschluß zu fassen. Roudier erklärte, es wäre vor allem gut, einen Aufruf an die Bevölkerung zu richten. Peter las eben das Schriftstück, das die Aufständischen auf einem Tische zurückgelassen hatten.



Aber das paßt uns ja vollkommen! rief er. Wir haben nur einige Worte zu ändern.



In der Tat genügte eine Viertelstunde, nach deren Verlauf Granoux mit bewegter Stimme lesen konnte:



Bewohner von Plassans! Die Stunde des Widerstandes hat geschlagen! Die Herrschaft der Ordnung ist wiedergekehrt …



Es wurde beschlossen, den Aufruf in der Buchdruckerei der Zeitung drucken und dann an allen Straßenecken der Stadt anschlagen zu lassen.



Und jetzt hören Sie mich an! sagte Rougon. Wir verfügen uns zu mir. Inzwischen versammelt Herr Granoux die Mitglieder des Gemeinderates, die nicht verhaftet wurden, hier und teilt ihnen die schrecklichen Ereignisse dieser Nacht mit.



Dann fügte er majestätisch hinzu:



Ich bin völlig bereit, die Verantwortlichkeit für meine Handlungen zu übernehmen. Wenn das, was ich schon getan habe, als ein genügendes Unterpfand meiner Liebe zur Ordnung erachtet wird, dann bin ich bereit, mich an die Spitze einer Gemeindevertretung zu stellen, bis die gesetzmäßigen Behörden wieder ins Amt gesetzt sind. Um aber nicht ehrgeizigen Strebens geziehen zu werden, kehre ich nach dem Rathause nur zurück, wenn meine Mitbürger mich dahin berufen.

 



Granoux und Roudier beteuerten, Plassans werde sich nicht undankbar erweisen. Denn schließlich habe ihr Freund die Stadt gerettet. Und sie erinnerten ihn an alles, was er für die Sache der Ordnung getan hatte: an den gelben Salon, der allen Freunden der herrschenden Gewalt stets offen stand; an die Verkündung der guten Sache in den drei Quartieren; an das Bereithalten von Waffen, das sein Gedanke gewesen; und besonders an diese merkwürdige Nacht, an diese Nacht der Vorsicht und des Heldenmutes, in der er sich für immerwährende Zeiten mit Ruhm bedeckt hatte. Granoux fügte hinzu, er sei im vorhinein der Bewunderung und des Dankes der Herren Gemeinderäte sicher. Er schloß mit den Worten:



Rühren Sie sich nicht aus dem Hause; ich komme und führe Sie im Triumphe zurück.



Roudier sagte seinerseits, er begreife vollkommen den Takt und die Bescheidenheit ihres Freundes und stimme ihm zu. Niemand denke daran, ihn ehrgeizigen Strebens zu zeihen; man begreife vielmehr das Zartgefühl, mit dem er nichts sein wolle, ohne die Zustimmung seiner Mitbürger. Das sei sehr würdig, sehr edel, ganz und gar erhaben.



Unter diesem Platzregen von Lobsprüchen neigte Rougon demütig das Haupt. Nein, nein, Sie gehen zu weit, sagte er mit dem Behagen eines Menschen, der wollüstig gekitzelt wird. Jeder Satz des ehemaligen Schlafmützenfabrikanten und des Mandelhändlers im Ruhestande, die rechts und links neben ihm saßen, wehte ihm sanft über das Antlitz; zurückgelehnt in dem Lehnsessel des Bürgermeisters, durchdrungen von dem Geruch der Stadtverwaltung, der dieses Zimmer erfüllte, grüßte er rechts und links mit der Haltung eines Thronbewerbers, der sich anschickt, durch einen Staatsstreich sich der Herrschaft zu bemächtigen.



Als sie sich genug beräuchert hatten, gingen sie hinab. Granoux machte sich auf, um den Gemeinderat zusammenzurufen. Roudier sagte Rougon, er möge vorausgehen; er werde ihm in seine Wohnung folgen, doch wolle er vorher die nötigen Weisungen zur Bewachung des Rathauses geben. Es wurde immer heller. Peter erreichte die Banne-Straße, wobei er in den noch leeren Straßen militärisch stramm auftrat. Trotz der empfindlichen Kälte hielt er den Hut in der Hand; die Regungen des Stolzes drängten ihm alles Blut ins Gesicht.



Am Fuße der Treppe traf er Cassoute. Der Erdarbeiter hatte sich nicht von der Stelle gerührt, da er niemanden hatte zurückkommen sehen. Er saß da auf der untersten Stufe, den dicken Kopf in den Händen haltend und starr vor sich hinschauend, mit dem stieren Blick und der stummen Beharrlichkeit eines treuen Hundes.



Sie haben mich erwartet, nicht wahr? fragte ihn Peter, der alles begriff, als er ihn sah. Gut, sagen Sie Herrn Macquart, daß ich zurückgekehrt bin. Fragen Sie auf dem Rathause nach ihm.



Cassoute erhob sich und ging mit einem linkischen Gruße. Wie ein Lamm zur Schlachtbank, ging er seiner Verhaftung entgegen zum großen Vergnügen Peters, der still für sich hin lachte, während er die Treppe hinaufging, überrascht von sich selbst und sich im stillen sagend:



Ich habe Mut; habe ich auch Geist?



Felicitè war nicht zu Bett gegangen. Er fand sie in ihrem Sonntagsstaate, mit ihrer Haube mit zitronengelben Bändern wie eine Frau, die Gesellschaft erwartet. Sie war vergebens am Fenster geblieben; sie hatte nichts gehört und starb vor Neugierde.



Nun? rief sie, ihrem Gatten entgegenstürzend.



Keuchend betrat Peter den gelben Salon, wohin sie ihm folgte, indem sie sorgfältig die Türen schloß. Er sank in einen Lehnsessel und stieß aus beklommener Brust die Worte hervor:



Die Sache ist fertig; wir werden Steuereinnehmer.



Sie flog ihm an den Hals und küßte ihn.



Ist's wahr? schrie sie. Aber ich habe nichts gehört. Oh, mein liebes Männchen; erzähle mir doch, erzähle mir alles!



Sie schien jetzt ganz verjüngt, fünfzehn Jahre alt zu sein; sie schmeichelte wie ein Kätzchen und flog hin und her wie eine Grille, die von Licht und Wärme trunken geworden. In dem überquellenden Jubel über seinen Sieg schüttete nun Peter sein Herz aus. Nicht die geringste Einzelheit überging er. Er erklärte ihr sogar seine Entwürfe für die Zukunft und vergaß hierbei, daß nach seinem Ausspruche die Frauen zu nichts gut seien und daß die seinige nichts wissen durfte, wenn er der Herr bleiben wollte. Felicité stand vorgebeugt da und sog seine Worte ein. Gewisse Teile seiner Erzählung ließ sie ihn wiederholen, indem sie sagte, sie habe nicht recht gehört; in der