50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Solange die Kinder dem Hause zur Last fielen, murrte Antoine darüber. Es waren unnütze Mäuler, die ihm seinen Teil verkürzten. Er hatte gleich seinem Bruder geschworen, nicht mehr Kinder zu haben, die alles aufessen und ihre Eltern zugrunde richten. Man mußte ihn nur wüten hören, seitdem sie ihrer fünf zu Tische gingen und die Hausmutter die besten Bissen Lisa, Jean und Gervaise gab.

Ganz recht, brummte er; füttere sie nur, bis sie bersten.

Wenn Fine ein Kleidungsstück oder ein Paar Schuhe für eines der Kinder anschaffte, konnte er tagelang zürnen. O, wenn er das gewußt hätte! Nie hätte er dieses Pack gehabt, das ihn nötigte, sich mit Tabak um vier Sous täglich zu bescheiden, und die Familie zwang, viermal die Woche Kartoffelmus zu essen, ein Gericht, das er verabscheute.

Später, als Jean und Gervaise die ersten Fünffrankenstücke ins Haus brachten, fand er, daß es mit den Kindern auch sein Gutes habe. Lisa war schon aus dem Hause. Er ließ sich von seinen zwei Kindern ernähren, die jetzt ohne jeden Skrupel im Hause bleiben durften, wie er sich früher schon von ihrer Mutter hatte ernähren lassen. Es war dies von seiner Seite eine ausgemachte Spekulation. Kaum acht Jahre alt ging Gervaise schon zu einem benachbarten Kaufmanne Mandelkerne aufschlagen. Sie erwarb täglich zehn Sous, die er mit königlicher Würde einsackte, ohne daß Fine auch nur zu fragen wagte, wohin das Geld geraten sei. Später ging das Mädchen zu einer Wäscherin in die Lehre, und als sie schon eine fertige Arbeiterin war und zwei Franken täglich bekam, verschwanden auch die zwei Franken in den Taschen Antoines. Jean, der das Tischlerhandwerk erlernt hatte, wurde an den Zahltagen gleichfalls ausgeplündert, wenn es Macquart gelang, ihn vor der Türe seiner Werkstätte zu erwischen, bevor der Junge das Geld seiner Mutter übergeben hatte. Wenn das Geld ihm entging, was manchmal geschah, war er furchtbar verdrossen. Eine Woche lang sah er Weib und Kinder mit wütenden Blicken an, suchte Händel mit ihnen, hatte aber doch so viel Scham, die Ursache seines Zornes nicht einzugestehen. Am nächsten Zahlungstage legte er sich dann auf die Lauer, und wenn es ihm gelungen war, den Arbeitslohn der Kinder in seine Taschen zu spielen, war er tagelang nicht mehr sichtbar.

Gervaise, das geprügelte Mädchen, das auf der Straße, unter den Burschen der Nachbarschaft aufwuchs, ward mitvierzehn Jahren schwanger. Der Vater des Kindes war noch nicht achtzehn Jahre alt. Es war ein Gerbergehilfe namens Lantier. Macquart geriet in Wut darüber. Als er erfuhr, daß Lantiers Mutter, die eine wackere Frau war, bereit sei, das Kind zu sich zu nehmen, beruhigte er sich wieder. Allein er behielt Gervaise bei sich, die jetzt schon 25 Sous täglich verdiente, und wollte von einer Heirat nichts hören. Vier Jahre später gebar sie einen zweiten Sohn, den die alte Lantier ebenfalls zu sich ins Haus nahm. Diesmal drückte Macquart beide Augen zu; und als Fine schüchtern bemerkte, es sei gut, mit dem Gerber zu reden und das Verhältnis, das schon zu allerlei Gerede Anlaß gebe, in Ordnung zu bringen, erklärte er rundheraus, daß seine Tochter ihn nicht verlassen und daß er sie ihrem Verführer später geben werde, »wenn er ihrer wert sei und die Mittel habe, Mobiliar zu kaufen«.

Diese Zeit war die schönste Antoine Macquarts. Er kleidete sich wie ein Spießbürger, trug Leibröcke und Beinkleider von feinem Tuch. Sorgfältig rasiert und fast dick geworden, war er nicht mehr der hagere und zerlumpte Vagabund, der sich in den Kneipen herumtrieb. Er besuchte die Kaffeehäuser, las die Zeitungen, ging auf der Promenade Sauvaire spazieren. Er spielte jetzt den Herrn, solange er Geld in der Tasche hatte. In den Tagen der Not blieb er zu Hause; er war dann wütend, daß er in seiner Höhle hocken müsse und nicht fortgehen könne, sein Schälchen Kaffee zu trinken. An solchen Tagen schimpfte er auf das ganze Menschengeschlecht wegen seiner Armut; er machte sich krank vor Zorn und Neid, so daß Fine aus Mitleid ihm oft das letzte Silberstück gab, das sie im Hause hatte, nur damit er seinen Abend im Kaffeehause zubringen könne. Der liebe Mann war von einer rücksichtslosen Selbstsucht. Gervaise brachte bis zu sechzig Franken monatlich nach Hause und trug ärmliche Kattunkleidchen, während er sich seidene Westen bei einem der ersten Schneider von Plassans bestellte. Jean, der lange, kräftige Bursche, der drei bis vier Franken täglich verdiente, wurde vielleicht mit noch größerer Schamlosigkeit ausgeplündert. Das Kaffeehaus, wo sein Vater ganze Tage zubrachte, lag just dem Laden seines Dienstgebers gegenüber und während er den Hobel oder die Säge handhabte, konnte er sehen, wie »Herr« Macquart drüben seinen Kaffee zuckerte und eine Partie Piquet mit irgendeinem kleinen Rentier der Stadt spielte. Sein Geld war es, um das der alte Taugenichts spielte. Er selbst ging niemals ins Kaffeehaus; er besaß nicht die fünf Sous, um ein Glas Kümmel zu trinken. Antoine behandelte ihn wie ein Mädchen, ließ ihm keinen Heller in der Tasche und forderte von ihm Rechenschaft über seine Zeit.

Wenn der Unglückliche, von Kameraden verleitet, einen Arbeitstag versäumte, um einen Ausflug zum Ufer der Viorne oder in das Garriguesgebirge zu machen, geriet sein Vater in Zorn, erhob die Hand und grollte ihm lange wegen der vier Franken, die er am Ende des halben Monats weniger nach Hause brachte. So erhielt er seinen Sohn in einem Zustande eigennütziger Abhängigkeit und ging hierin manchmal so weit, daß er die Dirnen, um deren Gunst Jean sich bewarb, als die seinigen betrachtete. In das Macquartsche Haus kamen mehrere Freundinnen der Gervaise, Arbeiterinnen im Alter von sechzehn bis achtzehn Jahren, kecke, übermütige Mädchen, deren Mannbarkeit in herausfordernder Begehrlichkeit sich äußerte und die an manchen Abenden mit ihrem jugendlichen Gelächter und Geplauder die Stube erfüllten. Jedes Vergnügens beraubt, durch den Geldmangel zu Hause festgehalten, betrachtete der arme Jean diese Mädchen mit den gierig funkelnden Augen; allein zur Lebensführung eines Knaben verdammt, war er von einer unüberwindlichen Schüchternheit; er spielte mit den Genossinnen seiner Schwester und wagte kaum, sie mit den Fingerspitzen zu berühren. Macquart zuckte mitleidig mit den Achseln:

Ist das ein Einfaltspinsel! brummte er mit einer Miene spöttischer Überlegenheit.

Er selbst küßte die Mädchen auf den Nacken, wenn seine Frau den Rücken kehrte. Mit einer kleinen Wäscherin, die Jean eifriger verfolgte als die anderen, trieb er es noch schlimmer. Er holte sie sich eines Abends fast aus den Armen seines Sohnes. Der alte Halunke gönnte sich noch galante Abenteuer.

Es gibt Männer, die von einer Geliebten leben. So lebte Macquart von seiner Frau und seinen Kindern, mit ebensovieler Schmach und Unverschämtheit. Ohne das geringste Bedenken plünderte er das Haus und ging fort, um zu schwelgen, wenn im Hause nichts zu holen war. Und dabei bekundete er noch ein gewisses überlegenes Benehmen; er kam aus dem Kaffeehaus nur heim, um das Elend, das zu Hause seiner harrte, bitter zu verhöhnen. Er fand das Essen abscheulich; er erklärte, Gervaise sei eine dumme Gans und Jean werde niemals ein Mann sein. Im Besitze seiner selbstsüchtigen häuslichen Gewalt rieb er sich zufrieden die Hände, wenn er die besten Bissen verzehrt hatte; dann rauchte er seine Pfeife, mit kurzen Zügen den Rauch hervorstoßend, während die zwei armen Kinder, von der Müdigkeit übermannt, auf dem Tische einschliefen. So flossen in müßiger Zufriedenheit seine Tage dahin. Er fand es ganz natürlich, daß man ihn aushalte, wie eine Dirne, damit er auf den Sitzbänken der Kneipen herumlungern oder auf der Promenade Sauvaire lustwandeln könne. Er ging endlich so weit, seine galanten Streiche in Gegenwart seines Sohnes zu erzählen, der mit den verlangenden Augen eines Hungrigen ihn anschaute. Die Kinder sagten nichts, denn sie waren daran gewöhnt, ihre Mutter als die untertänige Magd ihres Gatten zu sehen. Fine, das Weib mit den derben Fäusten, das ihm über war, wenn beide betrunken waren, zitterte vor ihm, wenn sie bei Sinnen war und ließ ihn als unumschränkten Herrscher im Hause schalten und walten. Er stahl ihr zu nachtschlafender Zeit die paar Groschen, die sie tagsüber auf dem Markte erworben hatte, und sie wagte dagegen nur schüchterne Bemerkungen vorzubringen. Manchmal, wenn er im voraus den Wochenerwerb aufgezehrt hatte, beschuldigte er das unglückliche Weib, das sich mit der Arbeit schier aufrieb, daß sie ein Taugenichts, ein unbeholfenes Geschöpf sei. Sanft wie ein Lamm erwiderte Fine mit einer unterwürfigen Stimme, die, aus diesem großen Körper kommend, einen seltsamen Eindruck machte, daß sie nicht mehr zwanzig Jahre alt und das Geld gar zu schwer zu erwerben sei. Um sich zu trösten, kaufte sie einen Liter Kümmel und trank den Schnaps gläschenweise in Gesellschaft ihrer Tochter, während Antoine ins Kaffeehaus zurückkehrte. Das war ihr Vergnügen. Jean ging zu Bett; die beiden Frauen blieben bei Tische und tranken und spitzten die Ohren, um bei dem geringsten Geräusch Flaschen und Gläser verschwinden zu lassen. Wenn Macquart länger ausblieb, geschah es wohl, daß sie sich allmählich betranken, ohne es zu merken. Mit blödem Lächeln schauten sich dann Mutter und Tochter an; die Zungen wurden schwer und vermochten nur mehr zu lallen. Gervaisens Wangen färbten sich rot; ihr kleines, rotes Puppengesicht zerfloß in einer Miene blöden Behagens; man konnte sich keinen ergreifenderen Anblick denken als dieses schwächliche, bleiche, von Trunkenheit glühende Kind mit dem Säuferlächeln auf den feuchten Lippen. Fine saß schwer und träge auf ihrem Sessel. Zuweilen vergaßen sie aufzupassen, oder hatten nicht mehr die Kraft, die Flasche und die Gläser wegzuräumen, wenn sie die Schritte Antoines im Treppenhause hörten. An solchen Tagen gab es bei Macquarts Keile. Jean mußte aufstehen, um Vater und Mutter zu trennen und seine Schwester zu Bett zu bringen, die sonst auf den Fliesen des Fußbodens geschlafen hätte.

 

Jede Partei hat auch ihre schlechten und ungebildeten Anhänger. Von Neid und Haß verzehrt, Rache gegen die ganze Gesellschaft brütend, sah Antoine Macquart in der Republik eine neue, glückverheißende Zeit, in der es endlich gestattet sei, seine Taschen aus der Kasse des Nachbars zu füllen, ja selbst diesen zu erwürgen, wenn er darüber im mindesten mißvergnügt wäre. Sein Kaffeehausleben, die Zeitungen, die er las, ohne sie zu verstehen, hatten aus ihm einen schrecklichen Schwätzer gemacht, der in der Politik die seltsamsten Ansichten von der Welt bekundete. Man muß in der Provinz, in einer Kneipe, einen dieser neiderfüllten Gesellen, die das Gelesene halb verdaut haben, reden hören, um sich vorzustellen, bis zu welchem Grade boshafter Torheit Macquart gelangt war. Da er viel sprach, beim Militär gedient hatte und für einen energischen Mann galt, hatte er unter den Einfältigen eine große Zuhörerschaft. Ohne gerade ein Parteiführer zu sein, hatte er doch eine kleine Gruppe von Arbeitern um sich zu scharen gewußt, die seine neidvollen Wutausbrüche für rechtschaffene, überzeugungstreue Entrüstung nahmen.

Seit dem Monate Februar galt es als eine ausgemachte Sache, daß die Stadt Plassans ihm gehörte; die verschmitzte Art, in der er, wenn er durch die Straßen ging, die kleinen Krämer anblickte, die furchtsam auf der Schwelle ihres Ladens standen, besagte ganz deutlich: Unsere Zeit ist gekommen, meine Lämmlein; wir werden euch famos zum Tanze aufspielen! Er trug eine unglaubliche Frechheit zur Schau, spielte die Rolle eines Eroberers und Despoten in dem Maße, daß er aufhörte seine Erfrischungen im Kaffeehause zu bezahlen, und der Patron, ein Trottel, der vor dem Augenrollen Antoines erzitterte, wagte niemals, ihm die Rechnung vorzulegen. Er trank zu jener Zeit unzählige »Schwarze«; zuweilen lud er sich Freunde dazu ein, und man hörte ihn stundenlang schreien, daß das Volk Hungers sterbe und daß die Reichen mit den Armen teilen müßten. Er selbst aber gab den Armen niemals einen Heller.

Was aus ihm einen wütenden Republikaner machte, war ganz besonders die Hoffnung, sich endlich an den Rougons zu rächen, die sich offen als Anhänger der Reaktion bekannten. Ach, welcher Triumph, wenn er eines Tages Peter und Felicité in seiner Gewalt hat! Obgleich die letzteren ziemlich schlechte Geschäfte machten, waren sie doch Bürgersleute geworden, während er, Macquart, ein Arbeiter geblieben war. Dies erbitterte ihn. Noch verdrießlicher war, daß von ihren Söhnen einer Advokat, der zweite Arzt, der dritte Beamter war, während sein Jean bei einem Tischler und seine Gervaise bei einer Wäscherin arbeitete. Wenn er vollends die Macquart mit den Rougon verglich, empfand er eine tiefe Schmach darob, daß sein Weib in der Markthalle gebratene Kastanien feilbot und des Abends die alten, schmierigen Strohsessel des Stadtviertels einflocht. Und doch war Peter sein Bruder und hatte nicht mehr Recht als er, von seinen Renten fein zu leben. Überdies hatte er ihm das Geld gestohlen, mit dem er heute den Herrn spielte. Wenn er diesen Gegenstand berührte, geriet sein ganzes Wesen in Aufruhr; stundenlang schimpfte er, brachte immer wieder seine bis zum Überdruß gehörten Beschuldigungen vor, ward nie müde zu sagen:

Wenn mein Bruder dort wäre, wo er zu sein verdient, dann wäre ich heute ein Rentenbesitzer.

Wenn man ihn fragte, wo denn sein Bruder sein müßte, schrie er mit furchtbarer Stimme:

Auf der Galeere!

Sein Haß steigerte sich noch, als die Rougon die Konservativen um sich scharten und einen gewissen Einfluß in Plassans gewannen. In diesem unsinnigen Kaffeehausgeschwätz ward der gelbe Salon eine Räuberhöhle, eine Vereinigung von Missetätern, die allabendlich auf ihre Dolche schworen, das Volk zu erwürgen. Um die Hungrigen gegen Peter aufzuhetzen, ging er so weit, das Gerücht zu verbreiten, daß der alte Ölhändler nicht so arm sei, wie er glauben machen möchte, und daß er aus Geiz und aus Furcht vor Dieben seine Schätze verberge. Seine Taktik ging dahin, die armen Leute durch ungeheuerliche Geschichten aufzustacheln, an die schließlich er selbst glaubte. Seine persönlichen Rachegelüste verbarg er ziemlich schlecht unter einer Hülle des lautersten Patriotismus; aber er vervielfältigte sich dermaßen, er hatte eine so volltönende Stimme, daß niemand gewagt hätte, an seinen Überzeugungen zu zweifeln.

Im Grunde hatten alle Mitglieder dieser Familie dieselben brutalen Begierden. Felicité, die begriff, daß die überschwenglichen politischen Meinungen Macquarts nichts weiter seien, als verhaltener Groll und alter Neid, hätte ihn erkaufen mögen, um ihn still zu machen. Unglücklicherweise fehlte es ihr an Geld und sie wagte nicht, ihn für das gefährliche Spiel zu interessieren, das ihr Mann spielte. Bei den Rentiers der Neustadt schadete ihnen Antoine sehr. Daß er ihr Verwandter war, genügte an sich schon. Granoux und Roudier warfen ihnen unter fortwährender Geringschätzung vor, einen solchen Menschen in der Familie zu haben. Und darum fragte sich auch Felicité besorgt, wie sie es anfangen müßten, um sich dieses Makels zu entledigen.

Es schien ihr ungeheuerlich und unanständig, daß Rougon – später– einen Bruder haben sollte, dessen Weib Kastanien feilbot und der selbst in lotterhaftem Müßiggange dahin lebte. Schließlich begann ihr um den Erfolg ihrer geheimen Machenschaften bange zu werden, den Antoine gleichsam zu seinem Vergnügen verscherzte; wenn man ihr die Brandreden hinterbrachte, die dieser Mensch an öffentlichen Orten gegen den gelben Salon führte, erbebte sie bei dem Gedanken, daß er imstande war, ihre Hoffnungen durch das Ärgernis zunichte zu machen.

Antoine war sich dessen bewußt, wie sehr sein Betragen den Rougon mißliebig sein mußte und nur um sie zur Verzweiflung zu treiben, bekundete er von Tag zu Tag wildere Gesinnungen. Im Kaffeehause nannte er Peter »mein Bruder« mit einer Stimme, daß alle Gäste sich umwandten; wenn er in der Straße einem der reaktionären Anhänger des gelben Salons begegnete, brummte er halblaute Beschuldigungen vor sich hin, die der würdige Spießbürger, durch so viel Kühnheit verwirrt, des Abends den Rougon wiederholte, die er für diese unangenehme Begegnung gleichsam verantwortlich machte.

Eines Tages traf Granoux wütend im gelben Salon ein.

Es ist wirklich unerträglich! rief er schon auf der Schwelle; man wird auf Schritt und Tritt beschimpft.

Und zu Peter gewandt, fügte er hinzu:

Mein Herr, wenn man einen Bruder hat wie den Ihrigen, dann befreit man die Gesellschaft von ihm. Ich ging ganz friedlich über den Platz vor der Unterpräfektur, als dieser Elende, an mir vorbeigehend, einige Worte brummte, worunter ich ganz deutlich die Beschimpfung »alter Schuft!« vernahm.

Felicité erbleichte und glaubte Granoux hierfür um Entschuldigung bitten zu müssen; allein der gute Mann wollte nichts hören und erklärte, er werde nach Hause gehen. Der Marquis beeilte sich, die Sache beizulegen.

Es ist sehr erstaunlich, sagte er, daß dieser Unglücksmensch Sie einen »alten Schuft!« genannt hat. Sind Sie auch sicher, daß dieser Schimpf Ihnen galt?

Granoux wurde ganz perplex; er gab zu, daß Antoine vielleicht gesagt hatte: »Du gehst noch immer zu diesem alten Schuft?«

Herr von Carnavant streichelte sich das Kinn, um das Lächeln zu maskieren, das sich ihm unwillkürlich auf die Lippen drängte.

Da sagte Rougon mit dem ruhigsten, schönsten Gleichmute:

Ich vermutete sogleich, daß ich dieser alte Schuft sei. Es freut mich, daß das Mißverständnis aufgeklärt wurde, und bitte Sie, meine Herren, gehen Sie diesem Menschen aus dem Wege, den ich hiermit in aller Form verleugne.

Allein Felicité nahm die Dinge nicht so kühl; bei jedem Skandal des Macquart ward sie krank; ganze Nächte hindurch quälte sie sich mit der Frage, was die Herren wohl denken mögen.

Einige Monate vor dem Staatsstreiche erhielten die Rougon einen anonymen Brief, drei Seiten voll unflätiger Schmähungen. Unter anderem drohte man ihnen für den Fall, daß ihre Partei triumphieren sollte, in einer Zeitung die skandalöse Geschichte der ehemaligen Liebschaften Adelaides zu erzählen, und den Diebstahl, durch den Peter seiner Mutter fünfzigtausend Franken abgenommen hatte, indem er das durch die Ausschweifungen halb irrsinnig gewordene Weib einen Empfangschein unterzeichnen ließ. Dieser Brief wirkte auf Rougon selbst wie ein Keulenschlag. Felicité konnte sich nicht enthalten, ihrem Manne seine schmutzige und schmähliche Familie vorzuwerfen; denn die Ehegatten zweifelten keinen Augenblick daran, daß dieser Brief das Werk Antoines sei.

Wir müssen uns dieses Halunken um jeden Preis entledigen, sagte Peter ernst; er ist uns gar zu lästig.

Indes nahm Macquart seine alte Handlungsweise wieder auf und suchte in der eigenen Familie Genossen gegen die Rougon. Anfänglich hatte er auf Aristides gezählt, als er dessen Brandartikel im »Unabhängigen« las. Allein, wenn gleich geblendet durch seinen grimmigen Neid, war der junge Mensch doch nicht so töricht, mit einem Menschen vom Schlage seines Oheims gemeinsame Sache zu machen. Er nahm sich nicht einmal die Mühe, ihn zu schonen, und hielt sich ihn vom Leibe, weshalb Antoine ihn als einen Verdächtigen behandelte. In den Kneipen, wo Macquart das große Wort führte, ging man so weit, zu behaupten, daß der Journalist ein Lockspitzel sei. Von dieser Seite abgewiesen, blieb Macquart nichts anderes übrig, als bei den Kindern seiner Schwester Ursula auf den Busch zu klopfen.

Ursula war im Jahre 1839 gestorben und hatte so die traurige Prophezeiung ihres Bruders zur Wahrheit gemacht. Das Nervenleiden ihrer Mutter war bei ihr zu einer schleichenden Lungenkrankheit geworden, die sie allmählich aufzehrte. Sie ließ drei Kinder zurück: eine Tochter von achtzehn Jahren, namens Helene, die mit einem Beamten verheiratet war, und zwei Söhne, den Ältesten, namens Franz, einen jungen Mann von dreiundzwanzig Jahren, und Silvère, den Jüngsten, ein Bürschchen von kaum sechs Jahren. Für Mouret war der Tod seiner Frau, die er sehr liebte, ein Donnerschlag. Er schleppte sich untätig ein Jahr dahin, vernachlässigte sein Geschäft und zehrte seine Ersparnisse auf. Eines Morgens aber fand man ihn erhenkt in einer Kammer, wo Ursulas Kleider hingen. Sein ältester Sohn, dem er eine gute kaufmännische Erziehung hatte geben lassen, trat als Kommis in das Geschäft seines Onkels Rougon ein, wo er Aristides ersetzte, der eben das Haus verlassen hatte.

Trotz seines tiefen Hasses für die Macquart nahm Rougon seinen Neffen gut auf, weil er wußte, daß er arbeitsam und nüchtern sei. Er fühlte das Bedürfnis nach einem ergebenen Gehilfen, der ihm beistehe, seine Geschäfte wieder in Schwung zu bringen. Überdies hatte er, weil es den Mouret gut gegangen war, eine hohe Wertschätzung für dieses Ehepaar gefaßt, das Geld zu erwerben verstand, und sich mit seiner Schwester sehr schnell ausgesöhnt. Vielleicht auch wollte er, indem er Franz ins Haus nahm, diesem eine Entschädigung bieten; er hatte die Mutter beraubt, er ersparte sich Gewissensbisse, indem er dem Sohne Arbeit gab. Die Gauner legen sich manchmal die Rechtschaffenheit in dieser Weise zurecht. In Wirklichkeit war es für ihn ein gutes Geschäft. Er fand in seinem Neffen den Gehilfen, den er gesucht hatte. Wenn zu jener Zeit das Haus Rougon nicht reich ward, so war es wahrlich nicht die Schuld dieses stillen und ängstlichen Jünglings, der dazu geschaffen schien, sein Leben hinter dem Ladenpulte eines Gewürzkrämers zu verbringen, zwischen einem Ölfaß und einem Stoß geräucherter Schellfische. Leiblich seiner Mutter gleichend, hatte er von seinem Vater den schlichten, beschränkten Sinn; er liebte unwillkürlich das geregelte Leben, die sichere Berechnung des Kleinhandels. Seinem Entschädigungssystem getreu gab ihm Peter drei Monate nach seinem Entritt ins Geschäft seine jüngere Tochter Martha zur Frau, die er nicht anders loszuwerden wußte. Die beiden jungen Leute hatten einander gleich in den ersten Tagen liebgewonnen. Ein seltsamer Umstand war für ihre Liebe entscheidend: sie sahen einander zum Erstaunen ähnlich; man glaubte Bruder und Schwester zu sehen. Durch Ursula hatte Franz das Gesicht der Großmutter. Seltsamer war die Ähnlichkeit bei Martha; auch sie war das vollkommene Ebenbild Adelaidens, obgleich Peter keinen bestimmten Zug von seiner Mutter hatte. Die leibliche Ähnlichkeit hatte hier Peter übersprungen, um bei seiner Tochter nur um so kräftiger zum Vorschein zu kommen. Die Verwandtschaft der jungen Ehegatten prägte sich übrigens nur im Gesichte aus; fand man in Franz den würdigen Sohn des Hutmachers Mouret wieder, einen ordnungsliebenden, etwas schwerfälligen Burschen, so hatte Martha ganz die Scheu und innere Haltlosigkeit ihrer Großmutter, deren genaues und seltsames Ebenbild sie war. Vielleicht war es ihre physische Ähnlichkeit und ihre moralische Verschiedenheit, was sie einander in die Arme trieb. In den Jahren 1840-44 hatten sie drei Kinder. Franz blieb bei seinem Oheim bis zu dem Tage, wo dieser sich zurückzog. Peter wollte ihm sein Geschäft überlassen; allein der junge Mann wußte, was er von den Aussichten des Handels in Plassans zu halten habe; er lehnte das Anerbieten ab und ging mit seinen Ersparnissen nach Marseille, um sich da niederzulassen.

 

Macquart mußte bald darauf verzichten, in seinen Kampf gegen die Rougon diesen fleißigen Burschen hineinzuziehen, den er in seinem Müßiggängerunmute einen Geizigen und Duckmäuser nannte. Doch glaubte er den gesuchten Mitschuldigen in dem zweiten Mouret, dem fünfzehnjährigen Knaben Silvère, entdeckt zu haben. Als man den Hutmacher Mouret zwischen den Röcken seiner Frau erhenkt fand, ging der kleine Silvère noch nicht zur Schule. Sein älterer Bruder wußte nichts mit ihm anzufangen und nahm ihn zu seinem Oheim mit. Dieser verzog das Gesicht, als er das Kind ankommen sah; er wollte die Entschädigung keineswegs so weit treiben, einen unnützen Mund zu nähren. Silvère, den auch Felicité als eine Last ansah, wuchs so unter Jammer und Tränen auf wie ein unglücklicher Verlassener, bis seine Großmutter, gelegentlich eines ihrer seltenen Besuche bei den Rougon, sich des Kindes erbarmte und es mitnahm. Peter war darob entzückt; er ließ das Kind ziehen, ohne daran zu denken, die geringe Summe zu erhöhen, die er der Witwe zahlte und die fürder für zwei ausreichen sollte.

Adelaide war damals nahezu fünfundsiebzig Jahre alt. In klösterlicher Einsamkeit alt geworden, war sie längst nicht mehr das magere, feurige Frauenzimmer, das sich einst dem Wilderer Macquart an den Hals geworfen hatte. Sie war steif und starr geworden in ihrer Hütte im Saint-Mittre-Gäßchen, in diesem stillen, düsteren Loche, wo sie völlig einsam lebte, um es kaum einmal im Monat zu verlassen, und wo sie mit Kartoffeln und trockenem Gemüse sich nährte. Wenn man sie vorübergehen sah, glaubte man eine alte Nonne mit ihrer wächsernen Weiße und ihrem gleichmäßigen Gange zu sehen, die in ihrem Klosterleben alles Interesse für die Welt verloren hat. Ihr blasses Antlitz, stets kunstgerecht eingerahmt von einer weißen Haube, war wie das Gesicht einer Sterbenden, eine friedliche, unbestimmte Maske von äußerstem Gleichmute. Die lange Gewohnheit des Stillschweigens hatte sie stumm gemacht; das Dunkel ihrer Behausung, das fortwährende Betrachten der nämlichen Gegenstände hatten ihre Blicke getrübt und ihren Augen die Klarheit einer Quelle verliehen. Es war ein vollständiger Verzicht, ein langsames geistiges und leibliches Absterben, das aus dem haltlosen, liebegierigen Weibe allmählich eine ernste Matrone machte. Wenn diese Augen starr ins Leere schauten, konnte man durch diese hellen, tiefen Löcher die große, innere Leere sehen. Nichts war übrig geblieben von der ehemaligen sinnlichen Glut als eine Verweichlichung des Fleisches, ein greisenhaftes Zittern der Hände. Sie hatte mit der Wildheit einer Wölfin geliebt und von ihrem armen, abgenützten, in Auflösung begriffenen Wesen, das reif war für die Bahre, strömte der widerliche Geruch dürren Laubes aus. Es war eine seltsame Arbeit der Nerven, der unbändigen Gelüste, die in einer gebieterischen und widerwilligen Keuschheit sich selbst aufzehrten. Ihre Liebesbegierden hatten nach dem Tode Macquarts, dieses für ihr Leben so notwendigen Mannes, in ihr fortgelodert und sie verzehrt wie eine Nonne, die in ihrem Kloster dahinlebt, ohne einen Augenblick daran zu denken, diese Begierden zu befriedigen. Ein Leben der Schmach würde sie vielleicht weniger erschöpft, weniger verblödet haben als dieses Lechzen, das sich schließlich durch die langsame, stete Zerstörung ihres Organismus rächte.

Diese Tote, diese blasse Greisin, die keinen Tropfen Blut mehr zu haben schien, hatte zuweilen Nervenanfälle gleich elektrischen Strömen, die sie durchfuhren und ihr auf eine Stunde ein Leben schrecklicher Aufrüttelung brachten.

Sie blieb dann starr, mit offenen Augen auf dem Bette liegen; ein Schluchzen und Aufstoßen erfaßte und erschütterte sie; sie hatte die furchtbare Kraft der hysterischen Irren, die man anbinden muß, damit sie sich nicht an der Wand den Kopf einrennen. Dieser Rückfall in die ehemaligen Begierden, diese plötzlichen Anfälle schüttelten ihren armen, siechen Leib zum Erbarmen. Es war, als ob ihre ganze von heißer Leidenschaft durchglühte Jugend durch die Kälte dieser Sechzigjährigen durchbrechen würde. Wenn sie sich dann ganz betäubt von ihrem Lager wieder erhob, schwankte sie und schien so scheu und verstört, daß die Nachbarinnen sagten: Die alte Närrin hat wieder getrunken.

Das kindliche Lächeln des kleinen Silvère war für sie ein letzter blasser Strahl, der ihre erstarrten Glieder ein wenig erwärmte. Sie hatte das Kind verlangt, weil sie ihrer Einsamkeit überdrüssig war und der Gedanke sie entsetzte, daß sie einsam in einem ihrer Anfälle sterben könne. Dieser Knabe in ihrer Nähe schien ihr ein Schutz gegen den Tod. Ohne aus ihrem Stumpfsinn zu erwachen, ohne in ihren automatischen Bewegungen geschmeidiger zu werden, faßte sie eine unaussprechliche Zuneigung für das Kind. Stumm und steif sah sie stundenlang seinen Spielen zu, mit Entzücken den Lärm hörend, mit dem er die alte Hütte erfüllte, seitdem er auf einem Besenstiel kreuz und quer herumritt, sich an den Türen stoßend, bald weinend, bald lachend. Er führte Adelaide wieder auf die Erde zurück; sie beschäftigte sich mit ihm in drolliger Unbeholfenheit; sie, die in ihrer Jugend vergessen hatte, Mutter zu sein, um nur Geliebte zu sein, fühlte jetzt die himmlischen Freuden einer jungen Mutter, wenn sie ihn wusch, ankleidete, wenn sie über seine schwächliche Gesundheit wachte. Es war ein letztes Wiedererwachen der Liebe, eine letzte, gemilderte Leidenschaft, die der Himmel diesem vom Bedürfnis zur Liebe verheerten Weibe schenkte. Es war das ergreifende Absterben eines Herzens, das in den überschäumendsten Begierden gelebt hatte und in der Liebe zu einem Kinde endete.

Sie war schon zu siech, um die gesprächige Zärtlichkeit der guten, behäbigen Großmütter zu besitzen; sie liebte das verwaiste Kind heimlich mit der Schamhaftigkeit eines jungen Mädchens, ohne Liebkosungen für Silvère zu finden. Zuweilen setzte sie ihn auf ihre Knie und betrachtete ihn lange mit ihren blassen Augen. Wenn der Kleine, erschreckt durch dieses bleiche, stumme Gesicht, zu schluchzen begann, schien sie ganz verwirrt über das, was sie getan hatte und setzte ihn schnell zu Boden, ohne ihn zu küssen. Vielleicht fand sie bei ihm eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Wilderer Macquart.

Silvère wuchs in einem ewigen Alleinsein mit Adelaide heran. In kindlicher Verzärtelung nannte er sie Tante Dide und dieser Name blieb der Alten; der Name Tante in dieser Anwendung bedeutet in der Provence eine Schmeichelei. Das Kind empfand für seine Großmutter eine seltsame Zärtlichkeit, gemengt mit einer respektvollen Furcht. Wenn sie, als er noch klein war, einen ihrer Nervenanfälle bekam, lief er weinend davon, entsetzt durch die Verzerrung ihres Gesichtes; wenn der Anfall vorüber war, kam er scheu wieder zurück, jeden Augenblick bereit, wieder zu entfliehen, als ob die Alte imstande gewesen wäre, ihn zu prügeln. Als er zwölf Jahre zählte, blieb er mutig da und wachte, daß sie nicht vom Bette falle und sich beschädige. Stundenlang hielt er sie fest in seinen Armen, um die Zuckungen zu mildern, in denen ihre Glieder sich krümmten. Während der ruhigen Pausen betrachtete er mitleidsvoll ihr verstörtes Gesicht, ihren mageren Körper, an dem die Röcke gleich einem Leichentuche klebten. Diese allmonatlich wiederkehrenden Anfälle, diese leichenstarre Greisin und dieses Kind, das sich über sie neigte, still lauschend, ob das Leben wiederkehrt: sie nahmen im Dunkel dieser Hütte einen seltsamen Charakter düsteren Schreckens und tief bewegter Güte an. Wenn Tante Dide das Bewußtsein wiedererlangte, erhob sie sich mühselig, band ihre Röcke fest und begann wieder durch das Haus zu schwanken, ohne eine Frage an das Kind zu richten. Sie erinnerte sich an nichts, und das Kind vermied in instinktiver Klugheit selbst die geringste Anspielung auf die soeben stattgehabte Szene. Besonders diese immer wiederkehrenden Anfälle ließen in dem Enkelkinde eine tiefe Anhänglichkeit für die Großmutter entstehen. Allein gleichwie sie ihn ohne geschwätzige Zutunlichkeit liebte, empfand er für sie eine geheime, schier verschämte Zärtlichkeit. Obgleich er Dankbarkeit für sie hegte, weil sie ihn aufgenommen und erzogen hatte, fuhr er dennoch fort, in ihr ein ungewöhnliches Wesen zu sehen, eine Beute unbekannter Übel, die man beklagen und ehren mußte. Es war gewiß in Adelaide nicht mehr genug des Menschlichen, sie war zu weiß und zu steif, als daß Silvère es gewagt hätte, sich ihr an den Hals zu hängen. So lebten sie in einer düsteren Stille dahin, in der sie gleichsam das Beben einer ewigen Liebe vernahmen.