50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Kapitel Ein­und­neunzig

Nach dem Sturze Napoleons war Antoine Macquart nach Plassans zurückgekehrt. Er hatte das unglaubliche Glück gehabt, keinen einzigen der letzten mörderischen Feldzüge des Kaiserreiches mitzumachen. Er hatte sich von Depot zu Depot geschleppt, nichts hatte ihn seinem trägen Soldatenleben entfremdet. Dieses Leben entwickelte vollends seine natürlichen Laster. Seine Trägheit ward zur Methode, seine Trunksucht, die ihm eine zahllose Menge von Abstrafungen eingetragen hatte, wurde von da ab für ihn eine wahre Religion. Aber den schlimmsten Kerl machte aus ihm seine große Mißachtung für die armen Teufel, die durch ihre ehrliche Arbeit ihr Brot verdienten.

Ich habe Geld in meiner Heimat, sagte er oft zu seinen Kameraden; wenn meine Dienstzeit um ist, werde ich zu Hause ein Spießbürgerleben führen.

Diese Zuversicht und seine krasse Unwissenheit hinderten ihn, auch nur den Grad eines Korporals zu erreichen.

Seitdem er zum Kriegsdienst eingerückt war, hatte er keinen einzigen Tag in Plassans zugebracht, weil sein Bruder tausend Vorwände zu ersinnen wußte, um ihn von da fernzuhalten. Darum wußte er auch nichts von der pfiffigen Art und Weise, wie Peter sich das Vermögen ihrer Mutter angeeignet hatte. In der tiefen Gleichgültigkeit, in welcher Adelaide lebte, hatte sie ihrem Sohn Antoine kaum dreimal geschrieben und auch dann nur, um ihm einfach mitzuteilen, daß sie sich wohl befinde. Das Stillschweigen, mit dem seine häufigen Geldforderungen aufgenommen wurden, machte ihn nicht argwöhnisch, denn er kannte zur Genüge den Geiz Peters, um sich die Schwierigkeit zu erklären, mit welcher er von Zeit zu Zeit ein elendes Zwanzigfrankenstück zu erpressen vermochte. Dies steigerte übrigens nur noch seinen Groll gegen seinen Bruder, der ihn beim Militär verkommen ließ, obgleich er ihm in aller Form versprochen hatte, ihn loszukaufen. Als er heimkehrte, schwor er unterwegs, nimmer zu gehorchen, wie ein Knabe, sondern keck seinen Anteil zu fordern, um behaglich leben zu können. In dem Stellwagen, der ihn nach Hause brachte, träumte er ein köstliches Leben der Trägheit. Der Einsturz seiner Luftschlösser war schrecklich für ihn. Als er in der Vorstadt ankam und die Gartenwirtschaft der Foucque nicht wiedererkannte, stand er wie vom Donner gerührt da. Er mußte sich nach der neuen Wohnung seiner Mutter erkundigen. Hier gab es dann eine schreckliche Szene. Adelaide erzählte ihm ganz ruhig, daß das unbewegliche Gut verkauft worden sei. Darob erboste er sich in dem Maße, daß er die Hand gegen seine Mutter erhob.

Doch die arme Frau versicherte ihm ein um das andere Mal:

Dein Bruder hat alles genommen und wird für dich Sorge tragen, das ist ausbedungen worden.

Endlich ging er und eilte zu Peter, den er von seiner Heimkehr verständigt hatte und der sich darauf vorbereitete, ihn in einer Weise zu empfangen, daß er beim ersten groben Worte für immer mit ihm fertig werden solle.

Hören Sie, sagte ihm der Ölhändler, indem er tat, als wolle er ihn nicht mehr duzen, regen Sie mir nicht die Galle auf, sonst setze ich Sie vor die Türe. Im Grunde kenne ich Sie gar nicht, wir führen nicht den nämlichen Namen. Es ist schon schlimm genug für mich, daß meine Mutter sich schlecht aufgeführt hat; ihre Bastarde brauchen nicht noch hierher zu kommen, um mich zu beschimpfen. Ich hatte gute Absichten mit Ihnen; da Sie aber unverschämt sind, werde ich nichts, gar nichts für Sie tun.

Antoine glaubte vor Zorn ersticken zu müssen.

Und mein Geld! schrie er. Willst du es mir zurückgeben, oder muß ich dich vor die Gerichte zerren?

Peter zuckte mit den Achseln.

Ich habe kein Geld von Ihnen, erwiderte er immer ruhiger. Meine Mutter hat über ihr Vermögen verfügt, wie sie es für gut fand. Es steht mir nicht zu, mich in ihre Angelegenheiten zu mengen. Ich habe freiwillig auf alle Erbschaftshoffnungen verzichtet und habe Ihre schmutzigen Anklagen nicht zu fürchten.

Als der andere, durch die Kaltblütigkeit erbittert, unzusammenhängendes Zeug stammelte und nicht mehr wußte, was er glauben sollte, hielt er ihm den Empfangschein vor die Nase, den Adelaide unterschrieben hatte. Dieses Schriftstück schmetterte Antoine vollends nieder.

Es ist gut, sagte er fast ruhig, ich weiß jetzt, was ich zu tun habe.

In Wahrheit wußte er aber nicht, wozu er sich entschließen solle. Seine Ohnmacht, ein Mittel zu finden, wie er sich sogleich in den Besitz seines Anteils setzen und sich rächen sollte, stachelte seine Wut noch mehr an. Er kehrte zu seiner Mutter zurück und unterzog sie einem schmachvollen Verhör. Die unglückliche Frau konnte aber nichts tun, als ihn wieder zu Peter schicken.

Glaubt ihr, ihr würdet mich mit leeren Reden abfertigen können? schrie er. Ich will es schon herauskriegen, wer von euch beiden das Geld hat. Du hast vielleicht schon alles aufgefressen?

Indem er Anspielungen auf ihre frühere unordentliche Lebensführung machte, fragte er sie, ob sie nicht irgendeinen Schatz habe, dem sie ihre letzten Pfennige zustecke? Er schonte selbst seinen Vater nicht, diesen Trunkenbold Macquart, wie er ihn nannte, der sicherlich bis zu seinem Tode gesoffen und dann seine Kinder im Elend zurückgelassen habe. Das arme Weib hörte mit blöder Miene diese Reden an, und schwere Tränen rannen über ihre Wangen hinab. Sie verteidigte sich in kindischem Schrecken und antwortete auf die Fragen ihres Sohnes wie auf die eines Richters; sie schwor, daß sie sich ordentlich aufführe, und wiederholte immer wieder, daß sie keinen Sou besitze, daß Peter alles genommen habe. Schließlich schenkte ihr Antoine fast Glauben.

Ist das ein Gauner! brummte er, deswegen also hat er mich nicht losgekauft!

Er mußte in der Behausung seiner Mutter übernachten, auf einem Strohsack, den man ihm in einen Winkel geworfen hatte. Er war mit ganz leeren Taschen heimgekehrt; am meisten erbitterte ihn das Gefühl, ohne jede Hilfe und ohne Obdach zu sein, verlassen wie ein Hund auf der Gasse, während sein Bruder – wie er meinte – schöne Geschäfte machte und ein Schlemmerleben führte. Da er kein Geld hatte, um sich Kleider zu kaufen, ging er am nächsten Tage mit seiner Soldatenhose und seinem Käppi aus. Dazu trug er eine alte Jacke von gelbem Samt, die er in einem Schrank gefunden und die einst Macquart gehört hatte. In diesem seltsamen Anzug rannte er durch die Straßen der Stadt, erzählte jedermann sein Schicksal und forderte laut Gerechtigkeit.

Die Leute, die er zu Rate zog, empfingen ihn mit einer Geringschätzung, die ihm Tränen der Wut erpreßte. In der Provinz ist man unerbittlich gegen zugrunde gegangene Familien. Die öffentliche Meinung sagte, daß die Rougon-Macquart sich untereinander auffräßen; die Umgebung würde, anstatt sie zu trennen, sie weit eher angeeifert haben, einander zu zerfleischen. Nur Peter begann sich von dem Erbmakel zu reinigen. Man lachte über seinen Gaunerstreich. Einige gingen so weit zu behaupten, daß er recht getan, wenn er sich wirklich des Geldes bemächtigt hätte, und daß dies für die verlumpten Leute in der Stadt eine gute Lehre sei.

Antoine kehrte entmutigt heim. Ein Advokat hatte ihm voll Widerwillen geraten, die Familie möge ihre schmutzige Wäsche zu Hause besorgen. Der Rechtsanwalt hatte dieses Gutachten abgegeben, nachdem er sich erkundigt hatte, ob Antoine auch die Mittel zur Führung eines Prozesses besitze. Er meinte, die Angelegenheit sei sehr verworren, werde sehr viele Scherereien verursachen, und der Erfolg sei schließlich dennoch zweifelhaft, und im übrigen sei dazu Geld, viel Geld notwendig.

Am Abend dieses Tages war Antoine noch härter gegen seine Mutter; da er nicht wußte, an wem er sich rächen solle, wiederholte er seine gestrigen Anklagen gegen sie. Er hielt die Unglückliche bis Mitternacht fest, daß sie vor Angst am ganzen Leibe zitterte. Da sie ihm erzählt hatte, daß Peter ihr eine Pension zahle, wurde es für ihn zur Gewißheit, daß sein Bruder die fünfzigtausend Franken eingesackt habe. Allein in seiner Erregtheit tat er, als zweifle er noch. Diese Steigerung der Bosheit bot ihm Erleichterung.

Er hörte nicht auf, sie mit argwöhnischer Miene zu befragen, indem er tat, als glaube er noch immer, daß sie sein Vermögen mit Liebhabern vergeudet habe.

Mein Vater war wohl nicht der einzige, sagte er endlich roh.

Bei diesem letzten Schlage sank sie auf eine alte Kiste hin, wo sie die ganze Nacht schluchzend liegen blieb.

Antoine begriff alsbald, daß er allein und ohne Hilfsmittel den Kampf mit seinem Bruder nicht aufnehmen könne. Er versuchte anfänglich, Adelaide für seine Sache zu gewinnen. Eine von ihr ausgehende Klage würde sicherlich ernste Folgen für Peter gehabt haben; allein das arme Weib in seiner Schwäche und seinem Stumpfsinn lehnte bei den ersten Worten Antoines energisch die Zumutung ab, ihren ältesten Sohn zu behelligen.

Ich bin eine Unglückliche, stammelte sie, du hast ganz recht, wenn du dich erzürnst. Allein es wäre zu viel für mein Gewissen, wenn ich eines meiner Kinder dem Gefängnisse überliefern müßte. Nein, da ist es mir lieber, daß du mich prügelst.

Er begriff, daß er ihr höchstens Tränen erpressen könne und begnügte sich daher hinzuzufügen, daß die gerechte Strafe sie ereilt habe und daß er kein Mitleid mit ihr fühle. Von dem fortwährenden Gezänk ihres Sohnes erschüttert, bekam Adelaide am Abend einen ihrer nervösen Anfälle, der sie steif, mit offenen Augen, wie eine Tote hinstreckte. Der junge Mensch warf sie auf ihr Lager, ohne ihr auch nur durch Lösung des Schnürleibes einige Erleichterung zu verschaffen; dann begann er im Hause zu suchen, ob die Unglückliche nicht irgendwo Ersparnisse verborgen habe. Er fand eine Summe von ungefähr vierzig Franken. Er bemächtigte sich dieses Geldes; während seine Mutter starr und bewußtlos liegen blieb, mietete er sich auf dem nach Marseille verkehrenden Stellwagen ein.

 

Er dachte sich, daß Mouret, jener Hutmacher, der seine Schwester Ursula geheiratet hatte, über den Gaunerstreich Peters entrüstet sein müsse und sicherlich bereit sein werde, die Interessen seiner Gattin zu verteidigen. Allein er fand in Mouret nicht den Mann, auf den er gezählt hatte. Der Hutmacher erklärte rund heraus, er habe sich an den Gedanken gewöhnt, Ursula als eine Waise zu betrachten, und daß er unter keinen Umständen mit seiner Familie zu schaffen haben wolle. Die Verhältnisse des Ehepaares gestalteten sich übrigens erfreulich. Als Antoine sah, daß er sehr kühl empfangen wurde, beeilte er sich, seinen Platz auf dem Stellwagen für die Rückfahrt sicherzustellen. Doch ehe er abfuhr, wollte er sich noch rächen für die stille Verachtung, die er in den Blicken des Hutmachers las. Da er seine Schwester bleich und beklommen gefunden, hatte er die Grausamkeit, ihrem Gatten zu sagen:

Haben Sie acht! Meine Schwester war stets schwach und ich habe sie sehr verändert gefunden; Sie könnten sie leicht verlieren.

Die Tränen, die Mouret in die Augen traten, bewiesen ihm, daß er den Finger in eine offene Wunde gelegt habe. Warum prahlte auch dieses Arbeitervolk dermaßen mit seinem Wohlstande!

Nach Plassans zurückgekehrt, nahm Antoine, der jetzt die Gewißheit hatte, daß ihm die Hände gebunden seien, eine noch drohendere Haltung an. Einen Monat hindurch sah man ihn ständig in der Stadt. Er lief durch alle Straßen und erzählte seine Geschichte jedem, der sie hören wollte. Wenn er seiner Mutter ein Zwanzig-Sous-Stück abgepreßt hatte, lief er in eine Schenke, um das Geld zu vertrinken und schrie laut, daß sein Bruder ein Halunke sei, der in Bälde von ihm zu hören bekommen solle. Die weinselige Freundschaft, die unter Trunkenbolden herrscht, verschaffte ihm an solchen Orten eine willfährige Zuhörerschaft; der ganze Pöbel der Stadt eignete sich seine Streitsache an und es wurden Schmähungen ohne Ende gegen diesen Lumpen Rougon laut, der einen tapferen Soldaten hungern lasse und solches Gerede endigte gewöhnlich mit einer allgemeinen Verdammung aller Reichen. Um seine Rache zu verschärfen, fuhr Antoine fort, sein Käppi, seine Soldatenhose und dazu die alte, gelbe Jacke zu tragen, obgleich seine Mutter sich anheischig gemacht hatte, ihm anständigere Kleider zu kaufen. Er trug in auffälliger Weise seine Fetzen zur Schau und machte am Sonntag auf der Promenade Sauvaire, wo alle Welt spazieren ging, damit Staat.

Eine seiner liebsten Freuden war, täglich zehnmal an dem Laden Peters vorüberzugehen. Er vergrößerte mit seinen Fingern die Löcher in seiner Jacke, verlangsamte seine Schritte und blieb manchmal laut plaudernd vor der Türe stehen, um länger in der Straße zu bleiben. An solchen Tagen brachte er irgendeinen Saufbruder mit, um jemanden zu haben, mit dem er sich ausreden konnte; er erzählte ihm dann den Diebstahl der fünfzigtausend Franken und begleitete seine Erzählung mit Beschimpfungen und lauten Drohungen, so daß die ganze Straße ihn hörte und seine Scheltworte an die rechte Adresse bis in das Hinterstübchen des Ladens gelangten.

Er wird endlich noch an unserer Türe betteln, sagte Felicité verzweifelt.

Die eitle kleine Frau litt schrecklich unter diesem Ärgernis. Zu jener Zeit geschah es wohl nicht selten, daß sie es bereute, Rougon geheiratet zu haben; die Familie ihres Gatten war gar zu schrecklich. Sie hätte alles in der Welt dafür gegeben, daß Antoine aufhöre, seine Lumpen spazieren zu führen. Allein Peter, den die Aufführung seines Bruders zum Äußersten ergrimmte, litt nicht, daß man auch nur seinen Namen vor ihm ausspreche. Wenn seine Frau ihm zu verstehen gab, daß es vielleicht besser sei, sich seiner zu entledigen, indem man ihm einiges Geld gebe, schrie er wütend:

Nein! Nicht einen Heller! Er mag krepieren!

Indes gab er schließlich selber zu, daß das Verhalten Antoines unerträglich werde. Eines Tages wollte Felicité der Sache ein Ende machen und rief »den Menschen«, wie sie ihn gewöhnlich mit geringschätziger Miene nannte. Dieser Mensch hatte sie soeben, mitten in der Straße stehend, eine Gaunerin genannt; einer seiner Saufbrüder, noch zerlumpter als er, war in seiner Gesellschaft, und beide waren volltrunken.

Komm mal, man ruft uns da hinein, sprach Antoine vergnügt zu seinem Genossen.

Felicité wich zurück und flüsterte:

Mit Ihnen allein wünschen wir zu sprechen.

Bah, erwiderte der junge Mensch, mein Kamerad ist ein guter Kerl, der darf alles hören, er ist mein Zeuge.

Der Zeuge ließ sich schwerfällig auf einem Sessel nieder, behielt die Mütze auf und begann umherzublicken mit dem milden Lächeln der Trunkenbolde und der rohen Menschen, die sich ihrer Frechheit bewußt sind. Felicité schämte sich und stellte sich in die Türe des Ladens, damit man nicht von außen sehen könne, welche seltsame Gesellschaft sie empfange. Glücklicherweise kam ihr Gatte ihr zu Hilfe. Ein heftiger Streit entbrannte zwischen ihm und seinem Bruder. Der letztere, dessen weinschwere Zunge sich in Beschimpfungen verwickelte, wiederholte wohl an die zwanzig Male die nämlichen Beschwerden. Schließlich begann er gar zu flennen, und es fehlte nicht viel, daß auch seinen Kameraden die Rührung übermannt hätte. Peter hatte sich in sehr würdiger Weise verteidigt.

Hören Sie mal, sagte er schließlich, Sie sind im Unglück und ich habe Mitleid mit Ihnen. Obgleich Sie mich schwer beschimpft haben, will ich doch nicht vergessen, daß wir dieselbe Mutter haben. Aber wenn ich Ihnen etwas gebe, so sollen Sie wissen, daß ich es aus Mildherzigkeit tue und nicht aus Furcht. Wollen Sie hundert Franken annehmen, um sich aus der Not zu helfen?

Dieses plötzliche Anerbieten von hundert Franken blendete den Kameraden Antoines. Er schaute den letzteren mit verklärter Miene an, als wollte er sagen: Ja, wenn der Spießbürger hundert Franken hergeben will, hast du weiter keine Dummheiten zu machen. Allein Antoine gedachte die Nachgiebigkeit seines Bruders besser auszunützen. Er fragte, ob jener sich über ihn lustig machen wolle und forderte seinen Anteil: zehntausend Franken.

Du tust nicht recht, du tust nicht recht, stammelte sein Genosse.

Als Peter die Geduld verlor und davon sprach, alle beide auf die Gasse setzen zu wollen, ging Antoine mit seinen Forderungen herab und verlangte mit einem Schlage nur tausend Franken. Über diese Summe stritten sie dann noch eine gute Weile hin und her, bis Felicité sich ins Mittel legte, weil allmählich Leute sich vor dem Laden ansammelten.

Hören Sie, sagte sie lebhaft, mein Mann wird Ihnen zweihundert Franken geben, und ich mache mich überdies anheischig, Ihnen einen neuen Anzug zu kaufen und auf ein ganzes Jahr eine Wohnung zu mieten.

Darüber geriet Rougon in Zorn; doch der Genosse Antoines schrie entzückt:

Abgemacht, mein Freund nimmt es an.

Antoine erklärte in der Tat mit süßsaurer Miene, daß er das Anerbieten annehme. Er mochte wohl fühlen, daß er nicht mehr herauskriege. Es wurde vereinbart, daß man ihm am folgenden Tage das Geld und die Kleider sende und daß er einige Tage später, sobald Felicité für ihn eine geeignete Wohnung gefunden habe, sein eigenes Heim beziehen werde.

Während sie sich zurückzogen, benahm sich der Trunkenbold, der Antoine begleitete, ebenso respektvoll, wie er bei seinem Eintritte frech gewesen. Mehr als zehnmal lüftete er die Mütze vor den Herrschaften in untertäniger und linkischer Haltung und stammelte unverständliche Dankesworte, als ob die Geschenke des Rougonschen Ehepaares für ihn bestimmt seien.

Eine Woche später bezog Antoine eine große Stube im alten Quartier. Da der junge Mensch sich in aller Form verpflichtet hatte, sie künftig in Ruhe zu lassen, war Felicité über ihre Versprechungen hinausgegangen und hatte ein Bett, einen Tisch und mehrere Stühle in seine Stube schaffen lassen.

Adelaide sah ohne Kummer ihren Sohn scheiden; durch den kurzen Aufenthalt, den er bei ihr genommen, war sie für länger als drei Monate zu Wasser und Brot verurteilt gewesen.

Antoine hatte die zweihundert Franken bald aufgezehrt und vertrunken. Keinen Augenblick hatte er daran gedacht, sie in irgendeinem kleinen Handel anzulegen, der ihn ernährt hätte. Als er von neuem ohne Pfennig dastand und da er keinerlei Gewerbe hatte, überdies auch jede Arbeit scheute, wollte er noch einmal aus Rougons Börse schöpfen. Allein die Umstände waren nicht mehr die nämlichen; es gelang ihm nicht, das Ehepaar ins Bockshorn zu jagen. Peter benützte sogar diese Gelegenheit, ihn an die Luft zu setzen, und verbot ihm, sich jemals wieder bei ihm sehen zu lassen. Vergebens kramte Antoine seine Beschwerden weiter aus; in der Stadt kannte man jetzt die Großmut Rougons, für deren Verbreitung Felicité gesorgt hatte; darum gab man Antoine unrecht und behandelte ihn als Taugenichts. Allein ihn bedrängte der Hunger. Er drohte Schmuggler zu werden, wie sein Vater gewesen und irgendeinen schlimmen Streich zu begehen, der die ganze Familie entehren würde. Die Rougons zuckten mit den Achseln; sie wußten, daß er zu feig sei, um seine Haut zu wagen. In dumpfer Wut gegen seine Anverwandten und gegen die ganze Gesellschaft entschloß sich Antoine endlich, Arbeit zu suchen.

In einer Vorstadtschenke hatte er die Bekanntschaft eines Korbflechters gemacht, der zu Hause arbeitete. Diesem bot er seine Hilfe an. In kurzer Zeit hatte er erlernt, Trag- und Handkörbe zu flechten, grobe Arbeiten, die zu wohlfeilen Preisen leicht Absatz fanden. Bald arbeitete er für eigene Rechnung. Diese wenig ermüdende Arbeit gefiel ihm. Er konnte faulenzen, wann es ihm beliebte und das wollte er hauptsächlich. Er arbeitete, wenn er nicht mehr anders konnte, flocht in der Eile ein Dutzend Körbe und brachte sie auf den Markt. Solange das Geld vorhielt, ging er müßig, lungerte er in den Straßen und Wirtshäusern herum; wenn er einen Tag gehungert hatte, griff er wieder zu seinen Weidenruten, nicht ohne über die Reichen zu schimpfen, die ohne Arbeit leben. In dieser Weise betrieben, ist die Korbflechterei ein sehr undankbares Gewerbe; der Ertrag seiner Arbeit würde nicht hingereicht haben, die Kosten seiner Sauferei zu decken; allein er wußte es so einzurichten, daß er sich die Weidenruten sehr billig verschaffte. Da er sie niemals in Plassans kaufte, gab er vor, daß er sich allmonatlich einmal in einer benachbarten Stadt damit versorge, wo sie billiger zu haben seien. Die Wahrheit war, daß er sich in finsteren Nächten in den Weidengebüschen an der Viorne damit versorgte. Einmal ertappte ihn der Feldheger dabei, und damals ward er mit einigen Tagen Gefängnis bestraft. Seit jenem Augenblicke gebärdete er sich in der Stadt als wütender Republikaner. Er behauptete, er habe am Ufer des Flusses ruhig seine Pfeife geraucht, als der Feldheger ihn festnahm. Und er fügte hinzu:

Sie möchten sich meiner entledigen, weil sie meine Gesinnung kennen; aber ich fürchte nicht die schurkigen Reichen.

Allein nach zehn Jahren solchen Müßiggangs fand Antonie, daß er zuviel arbeite. Sein ewiger Traum war, wie er gut leben könne, ohne etwas zu tun. Seine Trägheit würde sich mit Brot und Wasser nicht begnügen wie bei gewissen Nichtstuern, die sich mit dem Hungerleiden befreunden, wenn sie nur nicht arbeiten müssen. Er wollte seine Tage müßig verleben und feine Mahlzeiten halten. Einen Augenblick sprach er davon, bei irgendeinem Edelmann im Sankt-Markus-Viertel als Diener einzutreten. Allein ein ihm befreundeter Reitknecht verleidete ihm diese Absicht, indem er ihm von den maßlosen Forderungen seiner Gebieter erzählte. Da er seiner Körbe überdrüssig geworden war und den Tag kommen sah, an dem er genötigt sein würde, die Weidenruten zu kaufen, war Macquart entschlossen, sich als Stellvertreter zu verkaufen und seinSoldatenleben wieder aufzunehmen, das ihm tausendmal lieber war als das Arbeiterleben, als er die Bekanntschaft einer Frauensperson machte und infolge dieser Begegnung seine Pläne änderte.

Josefine Gavandau, die man in der Stadt nur mit dem vertraulichen Namen »Fine« nannte, war ein großes, starkes Weib von etwa dreißig Jahren. Ihr breites, männliches Gesicht war am Kinn mit einigen wenigen, aber schrecklich langen Haaren geziert. Man kannte sie als ein Weib, das im Notfalle mit den Fäusten dreinschlug. Ihre breiten Schultern und starken Arme jagten denn auch den Burschen einen heillosen Respekt ein, so daß diese es kaum wagten, sich über ihren Geißbart lustig zu machen. Dabei hatte »Fine« eine dünne Kinderstimme, hell und klar. Ihre Bekannten behaupteten, daß sie trotz ihres fürchterlichen Aussehens sanftmütig sei wie ein Lamm. Da sie bei der Arbeit sehr tüchtig war, hätte sie einiges Geld erübrigen können, wenn sie nicht eine tief wurzelnde Neigung für geistige Getränke gehabt hätte; den Kümmel liebte sie ganz besonders. Am Sonntag pflegte sie sich dermaßen zu betrinken, daß man genötigt war, sie nach ihrer Wohnung zu schaffen. Die ganze Woche arbeitete sie mit tierischer Unverdrossenheit. Sie übte drei oder vier Gewerbe aus, verkaufte in der Halle Obst oder gesottene Kastanien je nach der Jahreszeit, besorgte bei einigen Rentiers die Hauswirtschaft, ging an Festtagen in die Bürgerhäuser, um das Eßgeschirr zu reinigen; in ihrer freien Zeit flocht sie alte Sessel ein. Besonders als Sesselflechterin war sie in der ganzen Stadt bekannt. In Südfrankreich sind Strohsessel allgemein in Gebrauch; und daher ist der Bedarf an solchen sehr groß.

 

In der Halle machte Antoine Macquart die Bekanntschaft der Fine. Wenn er im Winter seine Körbe dahin zu Markte brachte, wählte er, um nicht zu frieren, seinen Platz neben dem Ofen, auf dem sie ihre Kastanien briet. Er, den die geringste Arbeit entsetzte, war von Bewunderung erfüllt für ihren Eifer und ihre Arbeitslust. Unter der scheinbaren Rauheit dieses Mannweibes entdeckte er allmählich so manchen Zug von Schüchternheit und Gutmütigkeit. Oft sah er, wie sie ein paar Händevoll Kastanien an die armen Kinder verteilte, die gierig vor ihrem rauchenden Ofen standen. Ein andermal wieder, wenn der Marktinspektor sie herumstieß, weinte sie beinahe und vergaß, daß sie zwei derbe Fäuste habe. Schließlich sagte sich Antoine, dies sei das Weib, dessen er bedürfe. Sie werde für zwei arbeiten und er der Herr im Hause sein. Sie werde sein unermüdliches und gehorsames Lasttier sein. Ihren Geschmack für geistige Getränke fand er sehr natürlich. Nachdem er die Vorteile einer solchen ehelichen Verbindung erwogen hatte, erklärte er seine Absicht. Fine war entzückt. Niemals hatte ein Mann sich an sie herangewagt. Vergebens sagte man ihr, daß Antoine der böseste Halunke sei; sie hatte nicht den Mut, diese Ehe abzuschlagen, nach der ihre robuste Natur sich schon lange sehnte. Am Hochzeitstage bezog er die Wohnung seines Weibes in der Civadière-Straße in der Nähe der Markthalle; sie bestand aus drei Gelassen und war viel bequemer eingerichtet als die seinige. Mit einem Seufzer der Befriedigung streckte sich Antoine auf den zwei weichen Matratzen aus, die sich im Bette befanden.

In den ersten Tagen dieser Ehe ging alles gut. Fine ging wie bisher ihren vielfachen Beschäftigungen nach und Antoine, von einer Art hausväterlicher Eitelkeit erfaßt, die ihn selbst in Staunen versetzte, flocht in einer Woche mehr Körbe, als er früher in einem Monate fertig gebracht hatte. Aber am Sonntag brach der Krieg aus. Es war ein hübsches Stück Geld im Hause, und beide Eheleute taten einen tüchtigen Griff in den Säckel. Des Nachts waren beide volltrunken und prügelten sich, was sie konnten; am folgenden Tage wußten sie nicht mehr, wie der Streit entstanden war. Bis zehn Uhr abends waren sie sehr freundschaftlich miteinander gewesen, dann habe Antoine auf Fine loszuschlagen begonnen, worauf diese ihre sonstige Sanftmut vergaß und seine Maulschellen mit ausgiebigen Püffen vergalt. Am andern Morgen ging sie wieder wacker an die Arbeit, als ob nichts vorgefallen sei. Der Gatte aber hatte einen dumpfen Groll bewahrt, war um zehn Uhr aufgestanden und hatte müßig rauchend den Tag vertrödelt.

Von diesem Augenblicke an befreundete sich das Macquartsche Ehepaar mit dieser Lebensweise. Es war eine stillschweigend ausgemachte Sache, daß das Weib sich rackere, um den Mann zu erhalten. Fine, die aus Instinkt die Arbeit liebte, fand sich darein. Sie war von einer engelhaften Geduld, solange sie nicht trank, fand es ganz natürlich, daß ihr Mann träge sei, und bemühte sich, ihm selbst die kleinsten Verrichtungen zu ersparen. Ihr kleines Laster, der Kümmel, machte sie nicht boshaft, nur gerecht; wenn an einem Abende, wo sie sich bei ihrer Schnapsflasche vergaß, Antoine Streit mit ihr suchte, setzte sie sich tapfer zur Wehr und warf ihm seinen Müßiggang und seine Undankbarkeit vor. Die Nachbarn waren schon daran gewöhnt, in dem Zimmer der Macquartschen Ehegatten von Zeit zu Zeit den Krieg ausbrechen zu sehen. Sie hieben sehr gewissenhaft aufeinander los; das Weib prügelte nach Art einer Mutter, die ihren Rangen züchtigt. Der Gatte aber, falsch und gehässig wie er war, berechnete seine Hiebe und es geschah öfter, daß er die Unglückliche schier zum Krüppel schlug.

Du wirst weit kommen, wenn du mir ein Bein oder eine Hand zerschlägst, pflegte sie ihm zu sagen. Wer wird dich dann ernähren, Taugenichts?

Von diesen stürmischen Szenen abgesehen begann Antonie seine neue Lebensweise erträglich zu finden. Er war gut gekleidet, aß, wenn er Hunger hatte und trank, wenn er Durst hatte. Die Korbflechterei hatte er vollständig aufgegeben; manchmal, wenn er sich allzu sehr langweilte, nahm er sich vor, für den nächsten Markt ein Dutzend Körbe zu flechten, oft aber brachte er den ersten nicht fertig. Er bewahrte unter einem Kanapee ein Bündel Weidenruten, das er in zwanzig Jahren nicht aufbrauchte.

Das Ehepaar Macquart bekam drei Kinder: zwei Töchter und einen Sohn.

Lisa, die Erstgeborene, im Jahre 1827, ein Jahr nach der Heirat zur Welt gekommen, blieb wenig im Hause. Es war ein starkes, schönes Mädchen, gesund, vollblütig, sehr der Mutter gleichend. Aber sie sollte von dieser die Hingebung des Lasttieres nicht erben. Von ihrem Vater hatte sie einen ausgesprochenen Hang nach Wohlleben geerbt. Noch als Kind war sie bereit, einen ganzen Tag zu arbeiten, um einen Kuchen zu bekommen. Sie war noch nicht sieben Jahre alt, als die benachbarte Postverwalterin sie liebgewann. Diese machte aus Lisa eine kleine Hausmagd, und als sie im Jahre 1839 ihren Gatten verlor und nach Paris übersiedelte, nahm sie das Mädchen mit. Die Eltern hatten sie ihr gleichsam für immer überlassen.

Die zweite Tochter, Gervaise, die im nächsten Jahre kam, war von Geburt lahm. Im Rausche empfangen, ohne Zweifel in einer jener schmählichen Nächte, wenn die Ehegatten einander halb tot prügelten, hatte sie den rechten Schenkel verrenkt und verkümmert, eine seltsame Vererbung der Brutalitäten, die ihre Mutter in einer Stunde des wütenden Kampfes und der Trunkenheit zu erdulden hatte. Gervaise blieb schwächlich, und Fine, als sie das Kind so bleich und so mager sah, zog es bei Kümmel auf, unter dem Vorwande, daß das Kind Kräfte sammeln müsse. Dabei verkümmerte das arme Wesen noch mehr. Es ward ein hoch aufgeschossenes, schmächtiges Mädchen aus ihr, dem alle Kleider zu weit waren. Auf dem ausgetrockneten, schiefen Rumpfe saß ein reizender Puppenkopf, mit einem runden, blassen Gesichtchen von köstlicher Zartheit. Ihre Gebrechlichkeit gereichte ihr fast zum Vorteil; ihre Taille wiegte sich bei jedem Schritt in einer Art abgemessenen Schaukelns.

Der Sohn der Macquart, Jean mit Namen, ward drei Jahre später geboren. Es war ein starker Bursche, der in nichts an die Magerkeiten seiner Schwester Gervaise erinnerte. Er ähnelte seiner Mutter wie die ältere Tochter, ohne aber ihre leibliche Ähnlichkeit zu haben. Er war in der Familie der Rougon-Macquart der erste, der ein Gesicht mit regelmäßigen Zügen zur Welt brachte und die behäbige Kälte einer ernsten Natur von beschränkter Vernunft hatte. Dieser Bursche wuchs mit dem festen Willen auf, sich eines Tages eine unabhängige Stellung zu schaffen. Er ging fleißig in die Schule und zerbrach sich da den harten Kopf, um etwas Orthographie und Arithmetik hineinzubringen. Dann ging er in die Lehre und erneuerte hier seine Anstrengungen, die um so mehr am Platze waren, als er einen Tag brauchte, um etwas zu erlernen, was andere in einer Stunde sich aneigneten.