50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Gott ist mein Zeuge, fuhr er fort, daß ich niemanden beneide und niemanden gering achte. Aber wenn wir siegen, werde ich diesen feinen Herren doch meine Meinung sagen, wer und was sie sind. Onkel Anton weiß davon schöne Dinge zu erzählen. Wenn wir zurückkehren, sollst du sehen … Wir werden frei und glücklich leben …

Miette zog ihn sachte weiter. Sie setzten ihren Spaziergang fort.

Du liebst deine Republik sehr, sagte das Kind mit einem Versuch zu scherzen. – Liebst du mich ebenso.

Sie lachte; aber in ihrem Lachen lag ein Zug von Bitterkeit. Vielleicht sagte sie sich, daß Silvère sie leichthin verlasse, um in die weite Welt zu laufen. Der Bursche erwiderte in ernstem Tone:

Du bist mein Weib; ich habe dir mein ganzes Herz geschenkt. Ich liebe die Republik, weil ich dich liebe. Wenn wir einmal verheiratet sind, werden wir viel Glück benötigen, und um einen Teil dieses Glückes zu erringen, ziehe ich morgen früh fort. Du wirst mir doch nicht raten wollen, zu Hause zu bleiben?

0 nein! rief das Mädchen lebhaft. Ein Mann muß stark sein. Der Mut ist eine schöne Sache! Du mußt mir verzeihen, daß ich eifersüchtig bin. Ich möchte ebenso stark sein wie du. Du würdest mich dann noch mehr lieben, nicht wahr?

Sie schwieg eine Weile, dann fügte sie lebhaft und mit lieblicher Treuherzigkeit hinzu:

Ach, wie gern werde ich dich küssen, wenn du wiederkehrst!

Dieser Aufschrei eines liebevollen und mutigen Herzens rührte Silvère tief. Er nahm Miette in seine Arme und drückte ihr mehrere Küsse auf die Wangen. Das Kind lachte und wehrte sich nur schwach. Sie war tief bewegt und ihre Augen standen voll Tränen.

Die Landschaft ringsumher lag in tiefem Schlafe, in der unermeßlichen Stille der winterlichen Kälte. Sie waren in der Mitte des Abhanges angekommen. Links stand ein ziemlich hoher Hügel, auf dessen Gipfel im Mondlichte die Ruine einer Windmühle zu sehen war. Der Turm allein war noch übrig geblieben, und auch dieser lag auf einer Seite in Trümmern. Dies war das Ziel, das die jungen Leute ihrem Spaziergang gesetzt hatten. Seitdem sie die Vorstadt hinter sich gelassen, gingen sie geradeaus, ohne einen Blick auf die Felder zu werfen, die sie umgaben. Nachdem Silvère das Mädchen geküßt hatte, blickte er auf und bemerkte die Mühle.

Wie schnell wir gegangen sind! rief er. Da ist die Mühle. Es muß bald halb zehn Uhr sein. Wir müssen umkehren.

Miette machte ein Mäulchen.

Laß uns noch ein kleines Stück gehen, bat sie. Nur einige Schritte, bis zum kleinen Übergang.

Silvère nahm sie lächelnd um den Leib, und sie setzten ihren Abstieg fort. Sie fürchteten die Blicke der Neugierigen nicht mehr; seit den letzten Häusern der Vorstadt waren sie niemandem mehr begegnet. Nichtsdestoweniger blieben sie in ihren Mantel eingehüllt. Dieses gemeinsame Kleid war wie ein natürliches Nest ihrer Liebe; so viele glückliche Abende hatte es sie geborgen! Wären sie getrennt nebeneinander einhergegangen, sie wären sich in der weiten Landschaft so klein, so vereinsamt vorgekommen; es beruhigte sie, es machte sie in den eigenen Augen größer, daß beide zusammen nur ein Wesen bildeten. Durch die Falten des Mantels hindurch betrachteten sie die Felder, die sich zu beiden Seiten der Straße ausbreiteten, ohne jene erdrückende Wirkung zu fühlen, welche der Anblick der weiten, eintönigen Fläche auf die zarten Empfindungen der Menschen ausübt. Es war ihnen, als hätten sie ihr Haus mitgenommen, und sie genossen den Anblick der Landschaft, wie man ihn durch ein Fenster genießt; sie liebten diese stille Einsamkeit, diese breiten Felder schlummernden Lichtes, dessen Enden und Winkel der Natur, die da verschwommen auftauchten, bedeckt mit dem Laken des Winters und der Nacht, dieses ganze Tal, das sie zwar entzückte, aber doch nicht stark genug war, um sich zwischen ihre aneinander geschmiegten Herzen einzudrängen.

Sie hatten übrigens aufgehört, ein zusammenhängendes Gespräch zu führen; sie sprachen nicht mehr von anderen, sie sprachen auch nicht von sich selbst; sie gehörten ganz dem Augenblick, tauschten von Zeit zu Zeit einen Händedruck, stießen bei dem Anblick eines Winkels der Landschaft einen Ruf der Bewunderung aus, sprachen nur wenig, fast ohne zu hören, was sie sagten, gleichsam eingeschlummert in der Wärme ihrer Körper. Silvère vergaß seine Begeisterung für die Republik; Miette dachte nicht mehr daran, daß ihr Geliebter sie binnen einer Stunde für lange Zeit, vielleicht für immer verlassen sollte. So kam es, daß sie wie an gewöhnlichen Tagen, wenn ihre Zusammenkunft von keinem Abschiede bedroht war, sich in das Glück ihrer Liebe versenkten.

Sie schritten noch immer weiter. Bald kamen sie zu dem kleinen »Übergang«, von welchem Miette gesprochen hatte. Es war dies ein schmaler Querweg, der sich in die Landschaft hineinzog und zu einem Dörfchen führte, das am Ufer der Viorne erbaut war. Allein sie hielten nicht an, sondern setzten ihren Weg fort und taten, als sähen sie den Pfad nicht, über den hinaus sie nicht hatten gehen wollen. Erst einige Minuten weiter sagte Silvère:

Es muß schon spät sein; du bist wohl sehr müde?

Nein, nein, ich bin nicht müde! Meilenweit könnte ich so fortgehen.

Dann fügte sie mit einschmeichelnder Stimme hinzu:

Wenn du willst, gehen wir bis zur Klara-Wiese. Dort wollen wir dann aber wirklich kehrtmachen.

Silvère, den der gleichmäßige Gang des Mädchens einlullte und der mit offenen Augen schlummerte, machte weiter keine Einwendung gegen den Vorschlag Miettens. Sie widmeten sich wieder ihrem Glücke und gingen langsamen Schrittes weiter, den Augenblick fürchtend, wo sie den Abhang wieder hinansteigen mußten; so lange sie vor sich hingingen, war es ihnen, als müsse ihre Umarmung ewig währen; die Umkehr war die Trennung, das grausame Lebewohl.

Allmählich ward der Abhang weniger steil. Im Talgrund ziehen sich Wiesen bis zur Viorne hinab, die am Fuße niedriger Hügel dahinfließt. Das ist die Klara-Wiese, durch lebende Hecken von der Heerstraße getrennt.

Ach was! wir gehen bis zur Brücke, sagte Silvère, als er die ersten Grasstreifen sah.

Miette lachte hell auf, nahm den jungen Mann beim Kopf und küßte ihn herzhaft.

An dem Platze, wo die Hecke beginnt, hat die Allee ein Ende; sie wird durch zwei alte, riesige Ulmen geschlossen. Die Felder dehnen sich knapp an der Heerstraße dahin, kahl, gleich einem breiten Bande grüner Leinwand, bis zu den Weiden und Birken am Flüßchen. Die Entfernung von den letzten Ulmen bis zur Brücke betrug übrigens kaum mehr als 300 Meter. Die Liebenden brauchten eine gute Viertelstunde, um diesen Raum zurückzulegen. Trotz aller absichtlichen Langsamkeit erreichten sie schließlich doch die Brücke. Hier blieben sie stehen.

Vor ihnen stieg die Straße gegen Nizza die jenseitige Anhöhe hinan; sie konnten nur ein kurzes Stück sehen; die Straße macht einen halben Kilometer von der Brücke eine plötzliche Biegung und verliert sich dann zwischen den waldbestandenen Hängen. Als sie sich umwandten, sahen sie den anderen Abschnitt der Straße, den sie soeben zurückgelegt hatten und der in gerader Linie von Plassans zur Viorne führt. In dem schönen, hellen Lichte des winterlichen Mondes glich die Straße einem langen Silberbande, an welchem die Ulmen einen dunklen Saum bildeten. Rechts und links bildeten die bebauten Äcker unbestimmte, grüne, weite Flächen, durchschnitten durch dieses Band, durch diese reifweiße Straße, die einen metallischen Schimmer hatte. Ganz hinten, wo die Straße mit dem Gesichtskreise zusammenfließt, glänzten noch, gleich hellen Funken, einige beleuchtete Fenster der Vorstadt. Schritt für Schritt hatten Silvère und Miette fast eine Meile zurückgelegt. Sie warfen einen Blick auf den durchmessenen Weg, in stiller Bewunderung gebannt angesichts dieses unermeßlichen Amphitheaters, das bis zum Himmelsrande hinaufstieg und auf das Streifen bläulichen Lichtes herabflossen, wie auf die Stufen eines riesigen Wasserfalles. Dieses eigenartige Theater lag da in der Stille und Unbeweglichkeit des Todes. Nichts konnte sich an überwältigender Größe damit vergleichen.

Die jungen Leute hatten sich an das Brückengeländer gelehnt und schauten hinab. Unter ihnen floß die Viorne, durch die letzten Regengüsse angeschwollen, mit dumpfem, ununterbrochenem Geräusch dahin. Flußauf und flußab unterschieden sie in dem Dunkel der Höhlungen die dunklen Linien der Bäume an den beiden Flußufern; da und dort flimmerte ein Mondstrahl; es war wie ein Strich geschmolzenen Zinns, das leuchtete und sich bewegte wie ein Widerschein des Tageslichtes auf den Schuppen eines lebenden Fisches. Diese Lichter glitten mit einem geheimnisvollen Reiz den grau schimmernden Lauf des Flusses entlang, zwischen den unbestimmten Schatten des Laubwerks hindurch. Es war wie ein verzaubertes Tal, ein wunderbarer Zufluchtsort, wo ein ganzes Volk von Schatten und Lichtern ein seltsames Leben führte.

Die Verliebten kannten dieses Plätzchen am Flusse sehr genau; in den heißen Julinächten waren sie oft hierher gekommen, um Kühlung zu suchen. Stunden und Stunden hatten sie hier zugebracht, unter dem Weidendickicht verborgen, am rechten Ufer der Viorne, an dem Platze, wo die Klara-Wiese ihren Rasenteppich bis knapp ans Ufer ausdehnt. Sie erinnerten sich der kleinsten Erdfalten des Ufers, der Steine, auf welche man hüpfen mußte, um über die Viorne zu setzen, die damals ganz schmal war; sie erinnerten sich gewisser rasenbelegter Vertiefungen, in denen sie ihren Liebestraum geträumt. Darum blickte Miette von der Brücke aus mit einem gewissen Neide nach dem rechten Ufer hinüber.

Wenn es wärmer wäre, seufzte sie, könnten wir hinabsteigen und ein wenig ausruhen, ehe wir zurückkehren.

Die Augen noch immer auf die Ufer der Viorne geheftet, fuhr sie nach einer Weile fort:

Schau, Silvère, jene schwarze Masse dort unten vor der Schleuse … Erinnerst du dich? Dort ist das Buschwerk, wo wir uns am letzten Fronleichnamstage niederließen …

 

Ja, das ist das Gesträuch, erwiderte Silvère leise.

Hier war's, wo sie zum erstenmal gewagt hatten, sich auf die Wangen zu küssen. Diese Erinnerung, welche das Kind wachgerufen hatte, verursachte beiden ein köstliches Gefühl, eine Erregung, in welcher die Freuden von gestern und die Hoffnungen von morgen zusammenflossen. Wie im Flackerschein eines Blitzes tauchten die schönen Abende vor ihnen auf, die sie zusammen verlebt hatten, besonders jenen am Fronleichnamstage, dessen geringster Einzelheiten sie gedachten, des unermeßlichen lauen Himmels, der von den Weiden am Ufer ausgehenden Kühle, der lieben Worte, die sie sich gesagt. Und während diese Dinge der Vergangenheit mit süßer Lieblichkeit in ihren Herzen wiedererwachten, glaubten sie zugleich in das Unbekannte der Zukunft einzudringen, sich Arm in Arm und ihren Traum verwirklicht zu sehen, Seite an Seite durch das Leben dahinzuschreiten wie vorhin auf der großen Heerstraße, warm eingehüllt in ihren Mantel. Und Aug' im Aug', sich selig zulächelnd, wie verloren in der Stille der klaren Winternacht, versanken sie von neuem in wonnevolles Entzücken.

Plötzlich erhob Silvère das Haupt. Er machte sich aus den Falten des Mantels los und horchte. Miette war überrascht und tat dasselbe, ohne zu begreifen, weshalb er mit einer so hastigen Bewegung sich von ihr getrennt hatte.

Hinter den Hügeln, zwischen denen die Straße nach Nizza sich verliert, war seit einigen Minuten ein verworrenes Geräusch zu vernehmen. Es war wie das ferne Gepolter eines Karrenzuges. Die Viorne übertönte mit ihrem dumpfen Gemurmel das noch unbestimmte Geräusch. Doch allmählich ward der Lärm deutlicher; er glich jetzt dem Getrappel einer marschierenden Truppe. Dann konnte man aus dem fortgesetzten, immer mehr anwachsenden Rollen das Getöse einer Menge heraushören, die rhythmischen und taktmäßigen Windstöße eines Orkans; es war wie die Donnerschläge eines rasch heraufziehenden Gewitters, das die schlummernde Luft durch sein Herannahen aufscheucht. Silvère horchte; er vermochte diese Wetterstimmen nicht zu fassen, welche die Hügel nicht deutlich bis zu ihm gelangen ließen. Plötzlich aber bei einer Krümmung der Straße brach eine dunkle Masse hervor und die Marseillaise, mit der Wut der Rache gesungen, rauschte mit furchtbarer Gewalt in die Lüfte.

Das sind sie! rief Silvère in einem Ausbruch freudiger Begeisterung. Er begann zu laufen, klomm den Abhang hinan und zog Miette mit sich.

Links von der Straße befand sich eine mit Eichen bestandene Böschung; hierher flüchtete er mit dem Mädchen, um von der heulenden Menge nicht fortgerissen zu werden.

Als sie die Böschung erreicht hatten und im Schatten des Gesträuches geborgen waren, betrachtete das Kind, das bleich geworden war, traurig diese Männer, deren ferner Gesang genügt hatte, um Silvère aus ihren Armen zu reißen. Ihr war, als habe diese ganze Rotte sich zwischen ihn und sie gedrängt. Noch wenige Minuten vorher waren sie so glücklich, so eng vereint, so allein, so verloren in dem stillen, heimlichen Mondlichte des Abends. Und jetzt hatte Silvère den Kopf abgewendet und schien nicht zu wissen, daß sie da sei; er hatte nur Blicke für diese Unbekannten, die er seine Brüder nannte.

Mit unwiderstehlicher Gewalt stieg die Rotte den Abhang herab. Man konnte sich nichts Furchtbareres und zugleichGroßartigeres denken als den Einbruch dieser etlichen tausend Männer in den stillen, eisigen Frieden der Nacht. Die Straße war zum reißenden Strom geworden und wälzte die lebenden Wogen vor sich her, die sich gar nicht erschöpfen zu wollen schienen; an der Straßenbiegung brachen immer neue dunkle Massen hervor, deren Gesang den Donner dieses menschlichen Unwetters immer stärker und stärker werden ließ. Als die letzten Scharen auftauchten, steigerte sich das Getöse zu betäubender Gewalt. Die Marseillaise erfüllte den Himmel, wie von Riesenmäulern durch ungeheure Trompeten geblasen, die sie mit der herben Schärfe von Blechinstrumenten in alle Ecken und Enden dieses Tales hinausstießen. Und die stille, friedliche Landschaft fuhr urplötzlich aus ihrem Schlafe auf und erbebte wie eine Trommel unter dem Streich der Schlägel; sie widerhallte bis in ihre innersten Tiefen und wiederholte mit dem von allen Seiten kommenden Echo die flammenden Klänge des Nationalgesanges. Und da sang nicht mehr die Rotte allein; von den Enden des Gesichtskreises her, von den fernen Felsen, von den aufgepflügten Äckern, von den Wiesen, Baumgruppen, ja von den geringsten Sträuchern schienen menschliche Stimmen hervorzudringen; das weite Amphitheater, das von dem Flusse bis Plassans emporsteigt; das riesige Auf und Nieder von Hügeln, über die das bläuliche Licht des Mondes sich ergoß, war gleichsam von einer unsichtbaren und unzählbaren Bevölkerung bedeckt, die den Aufständischen zujubelte; und in den Niederungen der Viorne, am Lauf des Wassers, auf dem geheimnisvolle Reflexe, geschmolzenem Zinn gleichend, spielten, war nicht ein dunkler Winkel, wo nicht Menschen verborgen zu sein schienen, die jeden Kehrreim mit wilder Begeisterung aufnahmen. In der Erschütterung der Luft und des Bodens schrie die ganze Landschaft nach Freiheit und Rache. Während des ganzen Abstieges dieses kleinen Heeres wälzte sich so das Volksgebrüll in schmetternden Klangwogen dahin, durchbrochen von Zeit zu Zeit durch plötzliche Aufschreie, daß die Steine davon erzitterten.

Bleich vor Aufregung schaute und horchte Silvère noch immer. Die an der Spitze marschierenden Aufständischen, die diese wimmelnde und heulende Flut hinter sich einherschleppten, die im Dunkel sich verlierend ein ungeheuerliches Aussehen hatte, näherten sich mit raschen Schritten der Brücke.

Ich dachte, ihr würdet nicht durch Plassans ziehen, flüsterte Miette.

Es scheint, daß der Feldzugsplan geändert wurde, erwiderte Silvère. Wir sollten in der Tat auf der Touloner Straße nach dem Hauptorte des Departements marschieren und dabei Plassans und Orchères links liegen lassen. Sie müssen heute nachmittag von Alboise aufgebrochen sein und abends Tulettes passiert haben.

Die Spitze des Zuges war jetzt bei den jungen Leuten angelangt. In dem kleinen Heere herrschte mehr Ordnung, als man von einer solch undisziplinierten Rotte erwartet haben würde. Die Kontingente jeder Stadt, jeden Dorfes bildeten besondere Abteilungen, die einige Schritte voneinander entfernt einhermarschierten. Diese Abteilungen schienen einzelnen Anführern zu gehorchen. Die Eile, mit der sie jetzt den Abhang hinabstürmten, hatte sie übrigens zu einer festen Masse von unüberwindlicher Stärke vereinigt. Es mochten an 3000 Mann beisammen sein, die ein Windstoß der Raserei in einerMasse dahinfegte. In dem Schatten, den die hohen Böschungen die Straße entlang warfen, unterschied man nur undeutlich die seltsamen Einzelheiten dieses Bildes. Allein in einer Entfernung von fünf bis sechs Schritten von dem Gebüsch, unter dem Silvère und Miette sich geborgen hatten, fiel die Böschung links flach ab, um für einen Fußpfad längs der Viorne Raum zu schaffen, und der Mond warf, durch diese Vertiefung hereingleitend, einen breiten Lichtstreifen auf die Straße. Als die ersten Aufständischen diese Stelle erreichten, wurden sie plötzlich von einer Helle beleuchtet, deren grelle Weiße die geringsten Kanten der Gesichter und Trachten mit einer seltsamen Deutlichkeit abzeichneten. In dem Maße, wie die Kontingente vorbeizogen, sahen die ihnen gegenüber stehenden jungen Leute sie in immer neuen Abteilungen aus dem Dunkel auftauchen.

Als die ersten Männer in die Helle eintraten, schmiegte sich Miette unwillkürlich an Silvère, obgleich sie sich in Sicherheit, selbst vor Blicken geschützt wußte. Sie legte dem jungen Manne den Arm um den Hals und lehnte das Haupt an seine Schulter. Das blasse Gesicht von der Kapuze des Mantels eingerahmt, stand sie da, die Augen starr auf das Lichtviereck gerichtet, das diese seltsamen Gestalten rasch durcheilten, durch die Begeisterung bis zur Verzückung umgewandelt, den Mund weit offen und erfüllt von dem Racheschrei der Marseillaise.

Silvère, den sie an ihrer Seite beben fühlte, neigte sich jetzt zu ihrem Ohr und nannte ihr die einzelnen Kontingente, wie sie an ihnen vorbeikamen.

Die Kolonne marschierte in Reihen zu acht Mann. Voran schritten große Burschen mit breiten Köpfen; sie schienen eine herkulische Kraft und den kindlichen Glauben von Riesen zu haben. Die Republik mußte an diesen Leuten unerschrockene und blind gehorchende Verteidiger haben. Sie trugen große Hacken geschultert, deren frisch geschliffene Schneiden im Mondlichte schimmerten.

Das sind die Holzschläger aus den Wäldern des Seillegebirges, sprach Silvère. Man hat aus ihnen eine Sappeurabteilung gebildet. Auf einen Wink ihrer Anführer marschieren diese Leute bis Paris und schlagen auf ihrem Wege die Tore der Städte ein, wie sie die alten Eichen der Gebirgsforste fällen.

Mit Stolz sprach der junge Mensch von den derben Fäusten seiner Brüder. Als er nach den Holzschlägern eine Rotte Arbeiter und sonngebräunter, bärtiger Männer kommen sah, fuhr er fort:

Das sind die Leute von La Palud. Es ist das erste Dorf, das sich erhoben hat. Die Männer in der Bluse sind Arbeiter, die die Korkeichen bearbeiten; die anderen, die in den roten Jacken, sind Jäger und Köhler aus den Schluchten des Seillegebirges … Die Jäger kannten deinen Vater, Miette. Sie haben gute Gewehre, die sie geschickt zu handhaben verstehen. Wenn alle so bewaffnet wären! … Leider fehlt es an Flinten. Sieh, die Arbeiter haben nur Stöcke! …

Miette schaute und horchte stumm. Als Silvère von ihrem Vater sprach, stieg ihr plötzlich das Blut in die Wangen. Flammenden Gesichtes betrachtete sie die Jäger mit einem Grollen und einer seltsamen Teilnahme in der Miene. Von diesem Augenblicke an schien das fieberhafte Frösteln sie zu beleben, das die Gesänge der Aufständischen verbreiteten.

Die Kolonne, die jetzt die Marseillaise wieder anstimmte, setzte ihren Abstieg fort, wie gepeitscht durch die scharfen Stöße des Mistral-Windes. Nach den Leuten aus La Palud kam eine andere Rotte von Arbeitern, unter denen man zahlreiche Bürger in Röcken sehen konnte.

Das sind die Männer aus Saint-Martin-de-Vaulx, sagte Silvère. Dieses Dorf hat sich fast gleichzeitig mit La Palud erhoben. Die Arbeitgeber haben sich da den Arbeitern angeschlossen. Es sind reiche Leute unter ihnen, die ruhig zu Hause leben könnten und die ihr Leben in der Verteidigung der Freiheit auf das Spiel setzen. Solche Reiche muß man lieben … Auch da fehlt es an Waffen, man sieht kaum einige Jagdflinten. Siehst du die Männer mit roten Armbinden? Das sind die Anführer.

Doch Silvère konnte mit seinen Erklärungen nicht nachkommen. Die Kontingente stiegen rascher den Abhang herab, als er mit seinen Worten ihnen folgen konnte. Er sprach noch von den Leuten aus Saint-Martin-de-Vaulx, als schon zwei Abteilungen das Lichtviereck durchschritten hatten.

Hast du diese gesehen? fragte er. Die Aufständischen von Alboise und von Tulettes sind jetzt vorbeigekommen. Ich habe den Schmied Burget erkannt. Sie müssen sich heute erst der Truppe angeschlossen haben. Wie sie laufen! …

Miette neigte sich jetzt vor, um den kleinen Rotten, die der junge Mensch ihr zeigte, länger mit den Blicken folgen zu können. Das Frösteln, das sie ergriffen hatte, stieg ihr bis in die Brust und faßte sie an der Kehle. In diesem Augenblicke erschien eine Abteilung, die zahlreicher und besser geschult schien, als die anderen. Die Aufständischen dieser Abteilung trugen fast sämtlich blaue Kittel, die durch rote Gürtel festgehalten wurden; sie sahen fast uniformiert aus. Mitten unter ihnen kam ein Mann zu Pferde, mit einem Säbel bewaffnet. Der größte Teil dieser improvisierten Soldaten hatte Gewehre, Karabiner oder alte Musketen der Nationalgarde.

Diese kenne ich nicht, sagte Silvère. Der Mann zu Pferde muß der Befehlshaber sein, von dem man mir erzählt hat. Er führt die Kontingente aus Faverolles und den benachbarten Dörfern. Die ganze Kolonne sollte so ausgerüstet sein.

Er fand kaum Zeit, Atem zu holen.

Ah, da sind die Bauern! rief er.

Hinter den Leuten aus Faverolles kamen kleine Gruppen von zehn bis zwanzig Mann. Alle trugen die kurze Jacke derBauern aus dem Süden. Laut singend schwangen sie ihre Sensen und Heugabeln; einige hatten nur breite Schaufeln. Jeder Weiler hatte die streitbaren Mannen entsendet.

Silvère, der die einzelnen Gruppen an ihren Anführern erkannte, zählte sie mit fieberhaft hastiger Stimme her.

Da ist das Kontingent von Chavanoz, sagte er. Acht Mann im ganzen, aber handfeste Leute; mein Onkel Anton kennt sie. Da ist Nazères, da Poujols. Alle sind da, kein einziger ist weggeblieben. Da ist Balqueyras! Schau, der Herr Pfarrer tut mit; man hat mir schon von ihm erzählt; er ist ein guter Republikaner.

 

Silvère berauschte sich allgemach. Jetzt, da die einzelnen Rotten kaum eine Handvoll Leute zählten, mußte er sich sputen, sie aufzuzählen, und diese Eile machte ihn warm.

Ah, Miette, fuhr er fort, welch schöne Mannschaft! Rozan! Vernoux! Corbière! Und es kommen noch mehr, du sollst sehen. Diese haben nur Sensen, aber sie werden den Feind niedermähen, wie das Gras ihrer Wiesen. Da Saint-Eutrope! Mazet! Gardes! Marsanne! die ganze Nordseite des Seillegebirges. Wir werden siegen! Das ganze Land ist mit uns. Betrachte nur einmal die Arme dieser Männer: hart und schwarz wie Eisen! Es nimmt kein Ende: da ist Pruinas! Roches-Noires! die letzteren sind Schmuggler, sie haben Karabiner. Jetzt wieder Sensen und Heugabeln, neue Bauernabteilungen. Castel-le-vieux! Sainte-Anne! Graille! Estournel! Murdaran!

Die Stimme drohte ihm schon zu versagen, als er endlich aufhörte, diese Männer aufzuzählen, die ein Wirbelwind zu erfassen und zu entführen schien in dem Maße, wie er sie nannte. Mit erregtem Gesicht, gleichsam größer geworden an Wuchs, zeigte er mit nervöser Gebärde die einzelnen Abteilungen. Und Miette folgte dieser Gebärde. Sie fühlte sich von der in der Niederung sich fortschlängelnden Straße angezogen wie von den Tiefen eines Abgrundes. Sie mußte sich an den Hals des jungen Menschen klammern, um nicht die Böschung hinabzugleiten. Eine Art Taumel stieg von der durch Lärm, Mut und Glauben berauschten Menge auf. Diese im Mondlicht gesehenen Gestalten, diese Jünglinge, diese reifen Männer, diese Greise, die die verschiedenartigsten Waffen schwangen, mit den verschiedenartigsten Gewändern bekleidet waren, angefangen von dem Bauernkittel bis zu dem städtischen Rock des Bürgers; dieser schier endlose Zug von Köpfen, die die Umstände und die ungewohnte Zeit zu unvergeßlichen Bildern der Tatkraft und der fanatischen Begeisterung gestalteten, nahmen schließlich vor den Augen des jungen Mädchens das Schwindel erregende Ungestüm eines reißenden Stromes an. In manchen Augenblicken schien es ihr, als würden sie nicht mehr gehen, sondern durch die Marseillaise getragen werden, diesen rauhen Gesang mit den fürchterlichen Klängen. Sie konnte die gesungenen Worte nicht unterscheiden; sie hörte nichts als ein fortdauerndes Grollen, das von dumpfen Tönen zu hellen anschwoll, scharf wie Spitzen, die man ihr stoßweise in das Fleisch treiben würde. Dieses Geheul der Empörung, dieser Ruf zu Kampf und Tod mit seinem zornigen Rütteln, seiner glühenden Sehnsucht nach Freiheit, seiner wunderbaren Mischung von Gemetzel und hehrer Begeisterung traf sie unaufhörlich und bei jedem gewaltigen Aufschrei des Rhythmus immer tiefer ins Herz und verursachte ihr die wollüstige Pein einer jungfräulichen Märtyrerin, die unter den Geißelhieben sich lächelnd aufrichtet. Von der rauschenden Flut fortgetragen, wälzte noch immer die Menge sich dahin. Der Zug, der kaum einige Minuten dauerte, schien den jungen Leuten kein Ende nehmen zu wollen.

Miette war allerdings nur ein Kind. Bei der Annäherung der Bande war sie erblaßt und hatte sie ihr entschwundenesJugendglück beweint; aber sie war ein mutvolles Kind, eine feurige Natur, die die Begeisterung leicht hinriß. Die Erregung, die sie allmählich erfaßt hatte, schüttelte sie jetzt am ganzen Körper. Sie ward zum Jüngling. Gerne würde sie eine Waffe ergriffen haben und den Aufständischen gefolgt sein. In dem Maße, wie sie die Flinten und Sensen vorbeiziehen sah, wurden ihre weißen Zähne länger und schärfer zwischen ihren roten Lippen gleich den Zähnen eines jungen Wolfes, der Lust hat zu beißen. Und als sie hörte, wie Silvère in immer hastigerem Tone ihr die Dörfer und Weiler aufzählte, schien es ihr, als werde der Schritt der Kolonne bei jedem Worte des jungen Mannes sich noch beschleunigen. Bald war es ein Wirbelwind, eine Menschenwolke, von einem Orkan dahin gefegt. Alles drehte sich um sie. Sie schloß die Augen. Dicke, heiße Tränen flossen über ihr Gesicht.

Auch Silvère war dem Weinen nahe.

Ich sehe die Männer nicht, die heute nachmittag Plassans verlassen haben, sagte er.

Er suchte das Ende der Kolonne zu erkennen, das sich noch im Dunkel verlor. Dann rief er plötzlich siegesfreudig aus:

Ha, da sind sie! … Sie tragen die Fahne; man hat ihnen die Fahne anvertraut!

Er wollte die Böschung hinabspringen, um seine Genossen einzuholen; allein in diesem Augenblicke machten die Aufständischen halt. Kommandoworte flogen die Kolonne entlang. Die Marseillaise erstarb in einem letzten Grollen, und man hörte nichts weiter als das unbestimmte Gemurmel der noch nicht zur Ruhe gekommenen Menge. Silvère horchte und konnte die Befehle verstehen, die von Abteilung zu Abteilung gingen und die Leute von Plassans an die Spitze der Kolonne beriefen. Da jede Abteilung sich am Rande der Straße aufstellte, um die Fahne vorbeikommen zu lassen, stieg der junge Mann, Miette mit sich ziehend, die Böschung wieder hinan.

Komm, sagte er; wir werden früher als sie jenseits der Brücke sein.

Als sie sich oben zwischen den bebauten Äckern befanden, liefen sie bis zu einer Mühle, deren Schleuse das Flüßchen absperrt. Hier setzten sie über die Viorne auf einem Steg, den die Müller über den Bach gelegt hatten. Dann eilten sie quer durch die Klara-Wiese, immer laufend, immer Hand in Hand, ohne ein Wort zu wechseln. Die Kolonne bildete auf der Straße eine dunkle Linie, der sie die Hecken entlang folgten. In dem Fliedergesträuch gab es mehrere Lücken; durch eine solche Lücke sprangen Silvère und Miette auf die Straße hinab.

Trotz des Umweges, den sie gemacht hatten, kamen sie fast gleichzeitig mit den Aufständischen vor Plassans an. Silvère tauschte mit einigen Leuten Händedrücke; man hätte glauben mögen, daß er von dem Anmarsche der Aufständischen erfahren habe und ihnen entgegen gekommen sei. Miette, deren Angesicht durch die Kapuze halb verborgen war, wurde neugierig betrachtet.

Ei, das ist ja die Chantegreil, sagte ein Mann aus der Vorstadt; die Nichte Rébufats, des Gärtners vom Jas-Meiffren.

Woher kommst du denn, Landstreicherin? schrie ein anderer.

In seinem Taumel hatte Silvère nicht daran gedacht, was für eine Figur seine Geliebte angesichts mancher Späße machen werde. Miette schaute ihn verwirrt an, wie um bei ihm Schutz und Hilfe zu suchen. Allein noch ehe er den Mund hatte auftun können, erhob sich eine neue Stimme in der Gruppe, die roh rief:

Ihr Vater ist auf den Galeeren; wir wollen die Tochter eines Diebes und Mörders nicht unter uns haben.

Miette war furchtbar bleich geworden.

Ihr lügt, murmelte sie; mein Vater mag getötet haben, aber er hat nicht gestohlen.

Da Silvère, noch bleicher und noch mehr zitternd als sie, die Fäuste ballte, sagte sie:

Laß nur; das geht mich an! …

Dann wandte sie sich zu der Gruppe und wiederholte laut:

Ihr lügt, ihr lügt! Niemals hat er jemandem auch nur einen Sou genommen. Ihr wißt es wohl. Warum beschimpft ihr ihn, da er nicht hier sein kann, um sich zur Wehr zu setzen?

Sie hatte sich in stolzem Zorne aufgerichtet. Ihre feurige, halbwilde Natur schien die Beschuldigung wegen Mordes ziemlich gleichmütig aufzunehmen; die Beschuldigung wegen Diebstahles aber brachte sie zum äußersten. Man wußte dies, und eben deshalb schleuderte die Menge in ihrer blöden Bosheit dem Kinde immer wieder diese Beschuldigung an den Kopf.