50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Kapitel Vierzig

Besuch bei Zucker, Tabak und Kakao

Ich hatte in São Paulo dem Kaffee meinen Besuch abgestattet, dem einstigen Potentaten des Landes, so wollte ich auch seine Geschwister sehen, die diese Erde reich, fruchtbar und berühmt gemacht. Solche hohe Herren kommen einem nicht entgegen. Man muß sich die Mühe machen, stundenlang zu ihren Residenzen zu reisen. Aber diese Mühe wird in sich selbst belohnt. Denn der Weg nach Cachoeira, der mitten durch die herrlich fruchtbare Zone um Bahia führt, ist eine einzige Folge schöner Blicke. Da sind die Palmenwälder zuerst, so dicht und so dunkel, so weit und so mächtig, wie ich bisher keine gesehen; man kennt Palmen sonst meist als Einzelgänger, als einsame Wächter über einer alten Hütte, als Hüter in einem vornehmen Park, als Spalier auf südlichen Boulevards. Hier aber waren sie dicht aneinander, Grün in Grün, Schaft an Schaft wie eine römische Legion, Schild an Schild, und diese üppige Masse gab nur die erste Ahnung von der Sattheit und Fruchtbarkeit der Gegend von Bahia. Dann wieder vorbei an langen Flächen, wo Mandioca gepflanzt wird, die Hauptnahrung des Landes, dieses wohlschmeckende und nahrhafte Wurzelmehl, das der Urbevölkerung war, was den Chinesen der Reis, und noch heute mit den Bananen und der Brotfrucht das freigebigste Geschenk der Natur an jeden Armen ist.

Allmählich nehmen die Felder andere Formen an. Wie Bambus schießen aufrecht Schäfte im Grün empor, immer in gleicher Höhe und rechts und links die gleichen Sträucher. Masse macht immer monoton, und so ist ein Zuckerfeld ebenso langweilig zu sehen wie ein Kaffee- oder ein Teefeld in seinem einförmigen, von keinem Farbton unterbrochenen Grün. Nein, er scheint kein amüsanter Gastgeber, der Zucker, er hat nichts zu bieten und nichts zu zeigen. Aber da plötzlich an einer Wegwende begegnet man einem Gespann, und im ersten Augenblick frage ich mich: ist das einer jener alten Farbstiche aus dem Museum oder Wirklichkeit? Denn es ist absolut das Gespann von anno 1600, der Wagen plump und statt der durchbrochenen Räder – wie in Pompeji, wie vor zweitausend Jahren – noch die runde Radscheibe. Und die sechs Ochsen, die ihn ziehen, haben noch denselben Ring durch die Nase für den Zügel wie auf den ägyptischen Wandbildern, und der Neger, der ihn führt, trägt denselben bunten Kattunrock wie in der Sklavenzeit, und genau so werden die Stengel in die Mühle geführt wie in den Zeiten der Kolonisation; vielleicht ist es noch dieselbe, obwohl einige Schornsteine am Rand des Horizonts modernere Raffinierung anzudeuten scheinen. Aber wie fühlt man verwundert (und wohltätig belehrt), einen wie schmalen Streif des Landes erst in Brasilien das Maschinelle und Neuzeitliche erfaßt, wieviel noch hier alter Brauch ist, alte Formen, alte Methoden – mag sein, volkswirtschaftlich zum Nachteil. Aber welche Freude doch jedem Auge, das sich ermüdet an der Monotonisierung der Welt. Respektvoll grüße ich den alten Potentaten, den Zucker, darum im Vorüberfahren: er hütet noch das heilige Erbe der Erdfrucht vor den Verführungen der chemischen Künste und gibt dem Land und der Welt in dem süßen Saft etwas von der gekelterten Kraft dieser Sonne und der Unerschöpflichkeit seiner gesegneten Erde.

Auch sein dunklerer Landesbruder, der Tabak, erweist sich konservativer als ich vermeint. In Cachoeira, dieser alten historischen Stadt, wo Häuser noch Schießscharten gegen die Indios tragen, haben sich die großen und berühmten Zigarrenfabriken des Landes zusammengefunden. Als alter Diener Sankt Nicotins hatte ich hier Dankbarkeit für manche duftige Zigarre zu sagen und wollte im stillen mir schuldbewußt nachzählen, wieviel solcher grüner Felder mit Tausenden und aber Tausenden Blättern ich in all den Jahren meines Lasters in Rauch verwandelt. Wählen ist immer schwer, und so sah ich alle drei Fabriken. Aber »Fabriken« ist hier ein übertriebenes Wort, denn ich hatte schon gefürchtet, ich würde nur mächtigen stählernen Maschinen gegenüberstehen, die an einem Ende den geschichteten Tabak einschlucken und am andern Ende die Zigarre gerollt, gehüllt, etikettiert und womöglich schon in die Schachteln gepreßt herausreichen, wodurch man ja in solchen Fabriken immer den Eindruck hat, eigentlich nur großen Automaten zuzusehen und nicht einem realen Umwandlungsprozeß. Aber nichts von alldem. Hier in Brasilien ist auch dieser Prozeß nicht maschinisiert. Jede Zigarre wird hier mit der Hand gemacht oder vielmehr: an jeder einzelnen arbeiten zwanzig bis vierzig geschickte Händepaare. Und man kann – für jeden Raucher eine Überraschung – der allmählichen Verwandlung zublickend, erstaunend wahrnehmen, wieviel Mühe sich unter seinem dünnen Deckblatt verbirgt. Hunderte dunkelfarbige Mädchen sitzen in diesen Sälen nebeneinander, jede Gruppe anders tätig, und im Durchschreiten macht man den ganzen Werdegang einer Zigarre gleichsam optisch mit. Im ersten Raum der Tabak, wie er vom Felde kommt, die großen, schon getrockneten Blätter, die einen merkwürdig bitteren und scharfen Duft ausatmen. Nach der ersten Sortierung – Frauen besorgen sie, die inmitten eines solchen Tabakbergs sitzen wie Bäuerinnen auf einem Strohschober – werden die Rippen losgelöst. Dann erst beginnt das Walzen des Tabaks zur Form der Zigarre, eine andere Gruppe gibt mit einem Messer vor einem Meßstab ihnen das gleiche Maß. Aber noch sind sie nur nackter Tabak, negerhaft und unbekleidet. Das Deckblatt muß ihnen erst Form und auch Geschmack geben. Jedoch – sonderbare Böswilligkeit der Natur – Brasilien, seit Jahrhunderten das reichste Tabakland, hat alle Formen des Tabaks, nur dieses eine Tabakblatt, aus dem das Deckblatt geformt wird, will hier nicht gedeihen. So muß dieses Deckblatt – Milliarden und Milliarden solcher Blätter – aus Sumatra hergeschafft werden, und an jeder Zigarre, die man achtlos schmaucht, haben zwei Erdteile Anteil, Asien und Amerika, und wir rauchen sie meist noch in dem dritten. Ist das Deckblattendlich umgeschlagen, so muß eine andere handfertige Künstlerin die Spitze drehen, wieder andere schwarze Finger kleben die Etikette um, wieder andere die Steuerzettel (die hier in Brasilien allem anhaften außer dem neugeborenen Kinde). Dann erst kommt die Cellophanhülle, die Packung, das Zuschneiden, das Füllen der Kisten und der Brandstempel darauf – fast schäme ich mich, eine Zigarre in den Mund zu stecken, seit ich weiß, wieviel Mühe daran hängt. Und als ich die Hunderte gebeugten Rücken all dieser braunen Mädchen sah, fühlte ich schuldbewußt, wie viele Rücken ich so gebeugt. Aber derlei Bedenken dauern nicht lang. Und da diese Potentaten gastfreundlich mich mit Kistchen ihres trefflichen Fabrikats beschenkten, gingen, noch ehe wir nach Bahia zurückkehrten, einige dieser Skrupeln in blauem, kühlem Rauch auf.

Den dritten der drei Potentaten Nordbrasiliens, den Kakao, konnte ich nicht in seiner eigenen Residenz besuchen. Denn der Kakao hat seinen Lieblingsort in feuchten und schwülen Zonen unter einem Schirmdach von Urwaldbäumen, die ihm die erwünschte – und uns höchst unerwünschte – Treibhauswärme geben, in der er, umschwirrt von Myriaden Moskitos, am besten gedeiht. Aber glücklicherweise besitzt er außerdem ein elegantes Stadthaus in Bahia, das Instituto do Cacau, wo man in plastischem Bilde die blühenden Bäume mit ihren Früchten bequemer betrachten kann. Denn das ist das Sonderbare dieses Baumes, daß er gleichzeitig blüht und Frucht trägt; während die Früchte als kleine Kürbisse in einer Pflanzung abgeerntet werden, sind die andern schon nachgereift, und die Ernte kann also gewissermaßen in continuo erfolgen. Die Kerne, welche den süßen, schmackhaften Saft geben, sind – auch dies mußte ich erst lernen – bitter, und es erfordert sehr umständliche Prozeduren der Reinigung, Entbutterung, Sterilisierung, ehe hier die prallen Säcke mit elektrischen Rollen bis ins Schiff befördert werden; hier allein haben schon ganz moderne Methoden eingesetzt, und dieses Institut ist somit Kaufhaus, Warenhaus, Museum, Universität des Kakaos, und man lernt hier mehr in einer Stunde als daheim aus hundert Büchern.

Kapitel Ein­und­vierzig

Recife

Ungern – Bahia ist zu schön, zu verlockend! – besteigt man das Flugzeug, das einen weiter nordwärts trägt nach – wie soll man es nennen: Pernambuco oder Recife oder Olinda? Die Stadt hat eigentlich drei Namen; wenn Kaufleute Waren verschicken, konsignieren sie sie nach Pernambuo. Aber ich liebe die alten Namen der zwei Schwesterstädte, Recife und Olinda, die eigentlich schon in eine verschmolzen sind; seit Jahren klingt mir die Melodie der musikalischen drei Silben Olinda nach und erinnert an alte Bücher und Legenden aus jener verschollenen Zeit, da die Stadt ihren vierten Namen noch hatte: Maurietsstaad. Denn so sollte sie heißen nach Moritz von Nassau, der sie erobert und hier ein kleines Amsterdam begründen wollte mit blanken sauberen Straßen und einem schön geziegelten Palast; sein gelehrter Lobpreiser Barleus hat uns die Pläne und Abbildungen in dem mächtigen Foliobande übermittelt, der das einzige Denkmal des holländischen Dominiums geblieben ist. Vergebens suchte ich hier den Palast, den hoch berühmten, die mächtigen Zitadellen, die Häuser mit ihren holländischen Hügeln und die Windmühlen, die er zur Erinnerung an die Heimat mit herüberbrachte – entschwunden und verschwunden alles bis zum letzten Stein! Nichts ist vom Vergangenen geblieben als die alten portugiesischen Kirchen von Olinda und ein paar der stillen Kolonialstraßen, freilich dies alles durch eine friedliche und liebliche Landschaft verschönt. Olinda hat nichts von der Großartigkeit Bahias, nicht jene mächtige Vista der hoch erhobenen Stadt; es ist ein romantischer Winkel, ganz in Stille und Natur gehüllt, ein träumerischer Ort, seit Jahrhunderten mit sich selbst allein und kaum hinüberblickend zur lebendigeren, jüngeren Schwesterstadt. Denn Recife ist ganz Fortschritt und Regsamkeit: ein Hotel, das jedem Ort Amerikas Ehre machen würde, ein schöner Flugplatz, moderne Straßen, und in den modernen Einrichtungen steht es unter den ersten der brasilianischen Städte. Radikal fegt hier der Gouverneur die mocambos weg, die Negerhütten, die wir als so romantisch empfinden, und baut – ein sehr bemerkenswerter Versuch – jeder Erwerbsgruppe eigene Häusergruppen. Die Wäscherinnen, die Schneiderinnen, die kleinen Beamten erhalten gegen langsame und leichte Abzahlung helle freundliche Häuschen mit elektrischem Licht und allen neuzeitlich-technischen Errungenschaften statt ihrer ungesunden Quartiere; in ein paar Jahren oder Jahrzehnten wird sich hier eine Musterstadt entfalten. Und so reist man hier von Kontrast zu Kontrast, von der alten Stadt zur neuen, von dem Urwald in die Neuzeit ist es hier oft nur ein Schritt, nichts ist hier gleichgültig und schablonenhaft und jeder Tag einer Reise eine andere Entdeckung.

 

Kapitel Zwei­und­vierzig

Flug zum Amazonas

Und weiter nach Norden. Von Recife nach Belém an der Mündung des Amazonenstroms muß man sich – sonst dauerte es ebensoviele Tage als jetzt Stunden – des Flugzeugs bedienen; es sind kleine, nicht sehr bequeme Hydroplane, die einen fast jede Stunde an einer anderen Stadt der Küste absetzen, in Cabedelo, in Natal, in Fortaleza, Camocin, Amarração, São Luiz, ehe man endlich in Belém landet. Aber welche kleine, unbekannte Städte sonderlichster Art lernt man dadurch kennen und wieviel Landschaft! Es ist der einzige Weg, den man wählen soll, denn mit dem Schiff sieht man nur Schale ohne den Kern, nur die Küste und nicht das Land; eine Bahn wiederum und Autostraßen sind hier nur selten zur Stelle. Einzig diese Vogelschau gewährt eine erste Ahnung von der Vielfalt und Größe dieses Landes. Die eigentliche Überraschung in diesem unablässig abwechslungsreichen Bilde sind die Ströme. Wie viele Flüsse durchschneiden das Land und wie mächtig sind sie an ihren Mündungen, jeder einzelne, obwohl wir ihren Namen nie gehört, so gewaltig wie die größten unserer europäischen Ströme. Aber gleichzeitig erkennt man auch – und dies hat Brasilien sehr gehemmt in seiner Entwicklung – wie unwillig, fast möchte man sagen: wie boshaft, wie tückisch sie sich dem Verkehr verweigern. Statt sich zu verbinden oder mit starkem Gefälle dem Meer entgegenzuströmen, winden und krümmen sie sich unablässig und zögern in seichten Lagunen. So liegt das Land eigentlich noch verlassen; selten zeigt sich ein Weg oder ein Dorf, weit dehnen sich die Wälder, die in Wochen und Monaten kaum jemand betritt, selten leuchtet ein Segel am Strande oder auf den unzähligen Flüssen und Teichen. Wieviel Land wartet hier noch auf den Menschen und ein wie schönes Land, gekühlt vom Atem der Brise, leuchtend im Licht, überall – außer in der kurzen Fläche, wo eine kleine Salzwüste weiß funkelt wie frisch gefallener Schnee – fruchtbar und wahrscheinlich noch lange nicht nach all seinen Möglichkeiten durchforscht! Hier wird erst die Zukunft Antwort geben.

Und dann Belém! Seit Kindheitstagen hat man geträumt, den Amazonas, den mächtigsten Fluß zu sehen – seit Kindheitstagen, seit man zum erstenmal von Orellana gelesen, der ihn auf einem kleinen Kanu von Peru als erster hinabgefahren in der denkwürdigsten aller Reisen – seit Kindheitstagen, da man in dem Tiergarten die Papageien sah, die dort im Glast ihrer Farben prunkten, und die geschwinden Äffchen, und an dem Schilde stand: Amazonas! Nun ist man an seiner Mündung oder vielmehr: einer seiner Mündungen, deren jede mächtiger ist als alle unserer Flüsse.

Belém selbst ist zuerst nicht so eindrucksvoll wie man erwartet, weil es sich nicht unmittelbar an den Strom lehnt und ihn nicht frei überblickt. Aber es ist eine schöne, belebte Stadt, weit in ihren Proportionen, und überall sieht man Zeugnisse ihrer kühnen, stolzen Zeit. Denn zwanzig Jahre lang hat Belém geträumt, über Nacht eine moderne Luxusstadt zu werden; das war, als der große Boom des Gummis begann und der Norden Brasiliens noch das Monopol der Hevea Brasiliensis einzig in Händen hatte. Damals wurden die runden schwarzen Kautschukkugeln, die mit den Schiffen und Barken den Amazonas herabkamen, mit irrer Geschwindigkeit zu Gold, und die Stadt strömte über davon. Damals baute sich Belém ebenso wie Manaus ein großes prächtiges Opernhaus, das heute ziemlich nutzlos auf dem großen Platze steht, um die erträumten Carusos würdig zu empfangen, stattliche Villen reihten sich auf, und es schien, als wollte dank des »flüssigen Goldes« sich das Schwergewicht der Wirtschaft wieder wie einst nach dem Norden neigen. Dann ebbte die Konjunktur scharf und schärfer ab, die internationalen Compagnien, die Handelshäuser schrumpften ein oder verschwanden. Seitdem wurde Belém wieder, was es vordem gewesen, eine stattliche aber stille Stadt. Durch das Flugzeug ein Abstoßpunkt nach Nordamerika und Südamerika und Europa, hat es anderseits eine neue Zukunft vor sich; wenn einst die unermeßlichen und noch nicht ermessenen Gebiete des Amazonas sich erschließen, wird sein vorschneller Traum der Macht sich vielleicht noch großartiger erfüllen, als er geträumt war.

Die große Sehenswürdigkeit von Belém sind seine zwei Gärten, der zoologische und der botanische, die die ganze Fauna und Flora der Amazonenwelt in sich zusammenfassen. Wer nicht das Glück, die Zeit und den Mut hat, tagelang den Strom emporzufahren – die »grüne Wüste«, wie man es nennt, weil in ununterbrochener aber grandioser Monotonie rechts und links des Wassers die Wälder sich türmen – der kann hier auf gekiesten und bequemen Pfaden Urwald ahnen, atmen und schauen. Da ist die berühmte Hevea Brasiliensis, der Gummibaum, der dieser Zone Reichtum versprach und dann ihn der ganzen Welt, statt bloß seinem Heimatlande gegeben; ich durfte ihn ritzen, und nach einer Minute quoll durch den winzigen Einschnitt schon der weiße, klebrige Saft. Da ist ein anderes Wunder, der Baum, den die Eingeborenen als heilig verehrten, weil er der einzige ist, der nicht an seiner Stelle und in seinen Wurzeln verharrt, sondern wandert – wahrhaftig wandert. Denn er streckt sein Gezweig so weit vor, bis es müde wird und sich zur Erde neigt. Dort senkt es sich ein, gewinnt neue Kraft aus dem Boden, wird Zweig und Stamm und rankt sich empor, indes der alte Stamm eintrocknet und verfällt. So ist er ein paar Schritte weitergegangen, ein anderer Stamm und doch derselbe Baum, und so wandert er weiter, bestaunt von den Wilden als ein wissendes, beseeltes Wesen. Und dann andere Wunder, Riesenstämme, längst nicht mehr zu umspannen, die wirren Lianen, die tausendförmigen Sträucher und dazwischen das Getier, die farbigen Vögel, die dünnen und gläsernen Fische, deren manche wie ein Automobil vorne und hinten ein Warnungslicht tragen – Wunder einer verschwenderischen und kapriziösen Natur ohne Ende. Und all dies nicht museal und nüchtern-katalogisch aneinandergereiht, nicht künstlich aufgezüchtet, sondern dieser Erde entwachsen, zu ihr gehörig, mit ihr verbunden; zu kurz wird einem die Zeit, und unzulänglich erscheint einem das eigene Wissen. Ob man nicht die Reiseroute noch ändern sollte? Nicht doch den riesigen Strom empor in diese Zonen des Geheimnisses, wo die Natur sich in ihrer ganzen Übermacht dem Menschen zeigt? Aber wo könnte man im Endlosen enden? Wird es nicht immer noch verlockender, verführerischer werden, je weiter man ins Unbetretene vordringt, und dabei weiß man: nie wird es einem gelingen, auch nur eine Handbreit Brasiliens auszumessen! Ist es nicht Anmaßung, gleich auf den ersten Griff, mit nur einer mehrmonatlichen Reise ein Land, eine Welt kennen zu wollen, die sich selbst noch nicht einmal im Ausmaß kennt? Alles Reisen in Brasilien heißt Entdecken und doch gleichzeitig Verzichten: Jeder sieht nur einen Teil, keiner kennt das Ganze. Aber wer klug ist, der ist auch dankbar und sagt in der rechten Stunde: genug für diesmal!

So wieder zurück auf den Flugplatz. Neben unserem Airliner liegt der andere, der den Amazonas empor sich nach Manáus wendet, indes unserer zum Äquator steuert und dann den Vereinigten Staaten zu. Unwillkürlich blickt man sehnsüchtig zurück, wie er jetzt die Flügel hebt und hinschwingt in die unbekannten Zonen. Aber dann besinnt man, da der Motor anhebt zu rattern, um uns fortzutragen, wieviel Dank man schon schuldet für Glück und Gewinn dieser Wochen und Monate. Wer Brasilien wirklich zu erleben weiß, der hat Schönheit genug für ein halbes Leben gesehen.

Kapitel Drei­und­vierzig

Daten zur Geschichte Brasiliens

7. Juli 1497 Erste Fahrt nach Indien (Vasco da Gama).

9. März 1500 Zweite Fahrt nach Indien (Pedro Álvares Cabral).

22. April 1500 Cabral landet auf dem Wege in Brasilien.

1501 Fernando de Noronha beginnt den Handel mit Brasilholz.

1503 Vespucci besucht Brasilien auf der Flotte Gonçalo Coelhos.

1507 Der Name Amerika zum erstenmal auf einer Karte (Waldseemüller).

1519 Fernão de Magalhães landet in Brasilien bei der ersten Weltumseglung.

1534 Brasilien wird in capitanias eingeteilt und verteilt.

1549 Der erste Gouverneur Portugals, Tomé de Sousa, landet in Bahia.

1549 Mit ihm die ersten Jesuiten, Manuel da Nóbrega als Provinzial.

1551 Der erste Bischof in Brasilien.

1554 Begründung São Paulos durch Nóbrega.

1555 Die Franzosen unter Nicolas Durand de Villegaignon landen in Rio de Janeiro.

1557 Das Buch Hans Stadens über Brasilien. Viagem ao Brasil.

1558 Das Buch André Thévet, Les Singularités de la France Antarctique.

1560 Kampf Mem de Sás gegen die Franzosen in Rio de Janeiro.

1565-1567 Austreibung der Franzosen, Begründung Rios als Stadt.

1580 Portugal fällt an die spanische Krone.

1584 Eroberung Paraíbas.

1598 Eroberung von Rio Grande do Norte.

1602 Gründung der Companhia das Índias Ocidentais.

1610 Eroberung Cearás.

1615 Eroberung Maranhãos, Gründung Beléms.

1624 Bahia fällt vorübergehend an die Holländer.

1627 Olinda (Recife) von den Holländern besetzt und Mauritsstaad benannt.

1640 Portugal wieder von Spanien unabhängig.

1645 Aufstand in Pernambuco gegen die Holländer.

1654 Endgültiges Ende der holländischen Okkupation.

1661 Friede zwischen Holland und Portugal.

1694 Erste Entdeckung des Goldes in Taubaté.

1720 Minas Gerais, das Goldgebiet, eine eigene Provinz.

1720 Niederschlagung des Aufstandes in Vila Rica anläßlich der Gründung der casa de fundição.

1723 Der Kaffee kommt nach Brasilien.

1729 Auffindung von Diamanten.

1737 Gründung von Rio Grande do Sul.

1739 Der erste brasilianische Dramatiker, António José, von der Inquisition in Lissabon verbrannt.

1740 Provinz Goiaz.

1748 Provinz Mato Grosso.

13. Jan. 1750 Vertrag von Madrid, der die Grenzen zwischen dem spanischen Amerika und dem portugiesischen (Brasilien) festsetzt.

1756 Erdbeben in Lissabon.

1759 Austreibung der Jesuiten.

1763 Rio de Janeiro zur Hauptstadt erhoben.

1789 Verschwörung zur Unabhängigkeit Brasiliens (Conjuração dos Inconfidentes) in Minas Gerais.

1792 Hinrichtung Tiradentes', des Führers.

1807 Flucht der königlichen Familie vor Napoleon aus Lissabon.

1807 Ankunft der königlichen Familie in Rio.

1808 Öffnung der Häfen für den Welthandel.

1808 Brasiliens Bevölkerung auf dreieinhalb Millionen geschätzt, darunter fast zwei Millionen Sklaven.

1810 Die » History of Brazil« von Robert Southey.

1815 Brasilien zum Königreich erhoben.

26. April 1821 König João VI. kehrt nach Portugal zurück.

1822 Dom Pedro, sein Stellvertreter, erklärt sich als unabhängig und zum Kaiser von Brasilien, wird als Pedro I. gekrönt.

 

1823 » Voyage dans l'intérieur du Brésil« de Saint-Hilaire.

1828 Verlust Uruguays, der »cisalpinischen Republik«.

1831 Abdankung und Abreise Kaiser Pedro I.

1840 Kaiser Pedro II. mündig erklärt.

1850 Verbot des Sklavenimports.

1855 Erste Eisenbahn.

1864-1870 Krieg gegen Paraguay.

1874 Telegraph zwischen Brasilien und Europa.

1875 Die Bevölkerungszahl hat zehn Millionen überschritten.

13. Mai 1888 Aufhebung der Sklaverei in Brasilien.

1889 Abdankung Pedro II. Proklamierung Brasiliens als föderalistischer Republik.

1891 Tod des Kaisers im Exil.

1899 Santos Dumont umfliegt den Eiffelturm.

1902 Euclides da Cunha veröffentlicht die » Sertões«.

1902 Brasiliens Einwohnerzahl überschreitet 30 Millionen.

1930 Brasiliens Einwohnerzahl überschreitet 40 Millionen.

1930 Getúlio Vargas übernimmt die Präsidentschaft.