50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Von Belo Horizonte nach Ouro Preto, von der neuen zur alten Hauptstadt, heißt aus der Zukunft in die Vergangenheit reisen, aus dem Morgen wieder zurück in das Gestern. Die Straße schon, kaum man den guten Asphalt der Hauptstadt verläßt, beginnt einen sehr eindringlich an das Gestern zu mahnen, denn die rote, lehmige Erde wird bei Hitze zu einem staubigen Qualm, nach einem Regenguß zu einem zähen Brei; wie einstens ist es noch immer nicht ganz bequem, in die Goldwelt zu gelangen. Von dem hellen freundlichen Hochplateau von Belo Horizonte das Land weit überschauend, hatte man gemeint, hinter der schroffen Bergkette erstrecke sich ein weites, flaches, tropisches Land. Aber die Straße führt in unermüdlichen Biegungen und Wendungen, steigend und fallend, immer wieder durch Bergland; an manchen Stellen klimmt sie tausend und sogar vierzehnhundert Meter hoch zu ragenden Gipfeln, und dann überblickt man ein Panorama, das in seiner Großartigkeit nur der Schweiz vergleichbar ist: Hügel an Hügel in erstarrten riesigen Wellen, ein anderer grüner, unendlicher Ozean aus Stein und Wald. Stark und duftend fährt der Wind über diese Höhen dahin, und sein stilles Sausen ist der einzige Ton in dieser Einsamkeit. Kein Wagen auf dem Wege, kaum eine Hütte auf stundenlanger Fahrt, kein bestelltes Feld, kein Glockenruf, kein Vogelsang – immer nur der Urton des Anfangs in dieser leeren, unbeseelten Welt, die den Menschen noch nicht zu kennen scheint. Aber dennoch liegt in dieser einsamen, wildschönen Landschaft etwas, was die Phantasie merkwürdig irritiert; man spürt, daß hier in Erde und Stein und Fluß ein besonderes Geheimnis sich verbirgt. Ein merkwürdiges Leuchten geht von den Bruchstellen der Berge aus, ein Funkeln von Erz und Metall. Selbst ohne daß man es von Buch und Bildung wüßte, ahnt man an dem schillernden Glanz, daß diese Berge Erz in sich schließen, einen noch ungehobenen und kaum errechenbaren Reichtum an Metall. Denn schon die Straße selbst verrät ihn mit ihrem pulvrigen Lehm, der von Eisen so dunkelrot gesättigt ist, daß bereits nach kurzer Fahrt das Automobil purpurn leuchtet wie der feurige Wagen Elias'. Und es verrät ihn der Fluß, der Rio das Velhas, der schwer und satt den glitzernden Sand mit sich hinschwemmt; funkelnde Unterwelt voll kostbarer Quarze ist hier verborgen, und Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte wird es dauern, ehe sie sich aufschließt der menschlichen Ungeduld. Aber noch stört kein Spatenschlag, kein Maschinenrattern die Einsamkeit; hinauf, hinab geht der Weg durch das steinerne Gewinde, hinauf, hinab, und schon ist man derart gewöhnt an diese großartige Unbeseeltheit, daß man menschliche Siedlung erst wieder im Talland erwartet: hier oben, so meint man, lebt niemand und hat niemals ein Mensch gewohnt.

Da plötzlich an einer Kurve leuchtet etwas auf wie ein weißer Doppelblitz: die beiden hellen Türme einer schlanken schönen Kirche. Und man erschrickt fast vor diesem jähen Einbruch menschlicher Vollendung in diese harte strenge Einsamkeit. Aber da, am Nachbarhügel, ebenso leicht und schlank und weiß, eine zweite, eine dritte. Es sind die elf Kirchen, die die einstige mächtige Stadt Vila Rica beschirmten und nun das kleine schlafende Städtchen Ouro Preto. Sie bieten zuerst einen unwirklichen Eindruck, diese ragenden Kirchen, die frei und stolz ihre Schönheit in den Himmel heben, während unter ihnen etwas klein und ungewiß liegt wie ein vergessener oder weggeworfener Überrest – diese wie vom Vogel Greif des Märchens hierhergetragene Stadt, die plötzlich müde geworden war und, ausgeblutet von ihren Menschen, sich nicht mehr aus ihrer Erschöpfung aufrichten konnte. Nichts hat sich hier geändert, während in Rio de Janeiro, in São Paulo man jede Stunde ein neues Haus baut und sich sonst überall die Dimensionen mit tropischer Wachstumskraft ins Phantastische vermehren; auf dem Hauptplatz mit dem einstigen Palast des Gouverneurs, der über hunderttausend Menschen gebot, schatten ein paar Leute vorüber und verlieren sich in den engen holprigen Nebengassen, Maulesel traben genau wie zur Kolonialzeit in langen Zügen, einer hinter dem andern mit ihrer Last von Holz, in dunklen Stuben arbeitet der Schuster mit gleichem Pech und Draht und Werkzeug, wie sein Urahn als Sklave oder Sklavensohn es getan. Die Häuser scheinen so müde, daß man meint, sie lehnten sich nur so nah und nieder aneinander, um eines das andere zu stützen; ihr Verputz ist so alt und grau, so abgeblättert und zerfaltet wie ein Greisenantlitz. Man weiß, auf dem steinigen, stockigen Pflaster, in dem hier und in Mariana die Gäßchen auf und nieder steigen, sind die Schritte der Großväter und Ahnen derselben Menschen im gleichen Kleid zu gleichem Werk gegangen; spät am Abend scheint es einem gespenstischerweise, als wären es noch die Menschen von einst oder ihre Schatten. Manchmal wundert man sich, daß die Glocken an den Kirchen die Stunden zählen, denn wozu sie zählen, die Zeit, wenn sie stille steht und stockt? Hundert Jahre, zweihundert Jahre scheinen hier nicht mehr als ein Tag. Man kommt zum Beispiel vorbei an einer Reihe verbrannter Häuser; ohne Dach, ohne Holzsparren stehen rauchgeschwärzt die nackten und halb niedergefallenen Mauern. Ein Feuer, so glaubt man, hätte dort vor einer Woche, vor einem Monat gewütet, und man habe sich noch nicht die Mühe genommen, den Schutt wegzuräumen. Aber dann wird man belehrt, es seien dies doch die Häuser, die im Juli 1720 der Gouverneur Conde de Assumar niederbrennen ließ. Seit diesen 220 Jahren hat sich keine Hand gerührt, weder sie neu aufzubauen noch sie niederzureißen. Alles ist geblieben in Ouro Preto, in Mariana, in Sabará, wie es war zur Zeit der Sklaven und des Goldes. Mit unsichtbaren Flügeln, ohne sie zu berühren, ist die Zeit über die verlassenen Goldstädte dahingefahren.

Aber gerade dieses Stehenbleiben in der Zeit gibt heute diesen verlassenen Schwesterstädten von Ouro Preto, Mariana, Sabará, Congonhas do Campo und São João d'El-Rei ihren einzigartigen Reiz. Wie sonst in einem Museum hinter gläserner Vitrine ist hier inmitten einer vielfältigen Landschaft das Bildnis der kolonialen Zeit und Kultur derart unversehrt bewahrt wie an keiner anderen Stelle Amerikas und vielleicht noch eindrucksvoller als an jedem anderen Ort; diese alten Minenstädte sind heute das Toledo, das Venedig, das Salzburg, das Aigues-Mortes Brasiliens, bildhaft gewordene Geschichte und dazu noch Geschichte einer eigenartigen nationalen Kultur. Denn – so unwahrscheinlich es klingt – in diesen abgelegenen, damals durch keine Straße mit der Küste, mit der Welt verbundenen Städten, in denen nur wilde, ungebildete, einzig nach Gold und raschem Gewinn gierige Abenteurer sich zusammengerottet hatten, war in der kurzen Zeit der Blüte eine ganz persönliche Kunst entstanden; die Kirchen und Kapellen dieser fünf Städte, von einer einzigen Gilde ansässiger Künstler geschaffen, gehören zu den eigenartigsten Denkmälern der kolonialen Vergangenheit, die der neue Weltteil besitzt, und die gesehen zu haben, auch eine ziemlich umständliche Reise lohnt.

An und für sich haben diese hellen, schön proportionierten Kirchen, die sich von den Hügeln von Ouro Preto, von Sabará, von Congonhas, von Mariana brüderlich grüßen, keine neuen Linien, keine bodenständige, keine typisch brasilianische Architektur. Sie sind alle in dem sogenannten jesuitischen Barock erbaut und die Pläne wohl aus Portugal herübergekommen; auch an Reichtum der Ausstattung werden sie von den Kirchen São Bento und São Francisco in Rio de Janeiro, an Alter und Ehrwürdigkeit wiederum von jenen in Bahia übertroffen. Was sie sehenswert und unvergeßlich macht, ist die harmonische Art, in der sie sich in eine völlig leere Landschaft hineinkomponieren, und ihre Einzigartigkeit besteht in dem Wunder, daß solche großzügige, kunstvolle Bauten in dieser damals völlig von der zivilisierten Welt abgelegenen Zone überhaupt entstehen konnten – in dem noch heute nicht ganz erklärlichen Wunder, daß innerhalb dieser eilig herangeschwemmten Rotte von Goldgräbern, Abenteurern und Sklavenhorden sich eine kleine Gilde einheimischer Künstler und Werkleute fand, die fähig waren in vollkommener und persönlicher Weise diesen Kirchen diese reiche plastische und malerische Ausschmückung zu geben. Woher sie gekommen und wie sie sich zum Werke gefunden, diese wandernde Gilde, die viele Meilen weit von einer Goldstadt zur andern zog, um dort in organischer Gemeinschaft diese weithin leuchtenden Denkmäler der Frömmigkeit über die gierige Fron des Goldes zu erheben, wird vielleicht für immer ein Geheimnis bleiben; nur eine Gestalt tritt plastisch aus dieser Gruppe hervor, der Plastiker dieses schaffenden Kreises – Antonio Francisco Lisboa, genannt o Aleijadinho, der Verstümmelte.

Dieser Aleijadinho ist der erste wirklich brasilianische Künstler und schon deshalb typisch brasilianisch, weil ein Mischling, der Sohn eines portugiesischen Zimmermeisters und einer Negersklavin. In Ouro Preto 1730 geboren, zu einer Zeit, da die Stadt noch nichts war als ein Gewirr hastig herangefluteter Menschen, ohne richtige Häuser, ohne steinerne Kirchen und Paläste, wächst er auf ohne Lehrer, ohne Meister und ohne die flüchtigsten Elemente der Bildung. Was den andern an diesem kleinen wilden Mulatten zunächst auffällt, ist seine dämonische Häßlichkeit, die ihm eine Art Bastardbruderschaft zu Michelangelo gibt, dessen Namen er wahrscheinlich nie vernommen, und von dem er niemals ein Werk gesehen. Mit seinen dicken hängenden Negerlippen, seinen großen Schlappohren, seinen entzündeten und immer zornig blickenden Augen, seinem völlig zahnlosen und schiefen Mund, seinem verkrümmten Körper muß er schon in seiner Jugend einen so widrigen Anblick geboten haben, daß – wie die Chroniken schildern – jeder erschrak, der ihm unvermuteterweise begegnete. Dazu kommt noch von seinem sechsundvierzigsten Jahre jene grauenhafte Krankheit, die ihn verstümmelt und ihm erst die Zehen von den Füßen und dann die Fingerglieder wegfrißt. Aber keine Verstümmlung kann den so grausam von der Natur Gezeichneten an der Arbeit hindern. Jeden Morgen läßt sich dieser schwarze Lazarus von seinen beiden Negersklaven in die Werkstatt oder in die Kirchen tragen, und sie stützen ihm den unsicheren Stand seiner verstümmelten Füße, sie binden ihm an die fingerlosen Hände den Meißel, den Pinsel, damit er arbeiten kann, und erst wenn die Dunkelheit niedergesunken ist, führen sie ihn in der Sänfte wieder in sein Haus zurück. Denn der »Aleijadinho« weiß um das Grauen, das von ihm ausgeht. Er will keinen Menschen sehen und von keinen Menschen gesehen werden. Er will nur seine Arbeit, die ihn vergessen läßt an sein dunkles, sein unerträgliches Schicksal, er lebt nur für seine Arbeit und lebt nur für sie und durch sie bis zu seinem vierundachtzigsten Jahr.

 

Erschütternde Tragödie eines Künstlers, in dessen düsterer Seele vielleicht ein wahrhaftes Genie verschlossen war, und dem ein böswilliges Schicksal versagte, seine letzten, seine eigentlichen Möglichkeiten zu entfalten. Vielleicht war in diesem verstümmelten Mulatten tatsächlich ein Bildhauer trächtig, dessen Werke der ganzen Welt gegolten hätten. Aber in ein abgelegenes Bergdorf mitten in tropische Einsamkeit verschlagen, ohne Lehrer, ohne Meister, ohne mithelfende Kameraden, ohne Kenntnis, ja ohne Ahnung der großen Vorbilder kann dieser arme Bastard nur mühsam und auf unsicheren Wegen sich wirklich gültiger Leistung annähern. Einsam wie Robinson auf seinem Eiland in der kulturellen Wildnis seines Goldgräberdorfs hat Lisboa nie eine griechische Statue gesehen, nie selbst eine Nachbildung Donatellos oder eines seiner Zeitgenossen. Er hat nie die weiße Fläche des Marmors gefühlt, er kennt nicht die fördernde Hilfe des Erzgießers; nie steht ein Mitbruder ihm zur Seite, ihn die Gesetze der Kunst zu lehren und die von Generation zu Generation überlieferten Geheimnisse der Werktechnik. Wo die andern sich fördern durch Zuspruch, sich steigern durch ehrgeizigen Wettbewerb, steht er allein in einer seelenmörderischen Einsamkeit und muß suchen, erarbeiten, erfinden, was die anderen seit Jahrhunderten längst fertig und vollendet vorgefunden. Aber der Haß gegen die Menschen, der Abscheu vor seiner eigenen widrigen Gestalt treibt ihn tiefer und tiefer in die Arbeit hinein und auf qualvoll langsamem Wege sich selber entgegen. Während seine ornamentalen Plastiken nur geschmackvoll, nur handwerklich kunstvoll sind, aber in den Figuren im leeren Schema des Barock beharren, erreicht er im siebzigsten, im achtzigsten Jahr eigenes persönliches Format. Die zwölf großen Statuen in pedra de sabão, in jenem merkwürdigen weichen, aber der Zeit standhaltenden Seifenstein, welche den Stiegenaufgang der Kirche von Congonhas krönen, haben trotz all ihrer technischen Fehler und Unbeholfenheiten volle Wucht und Gewalt. Genial in die Szenerie hineinkomponiert, atmen sie hier im Freien (während sie in der Gipsrepoduktion in Rio de Janeiro starr wirken) in starker Bewegung; eine wilde Seele offenbart sich in ihren herrischen und ekstatischen Gesten. Mühe und Qual eines dunklen und verstümmelten Lebens ist in ihnen zum Kunstwerk oder zumindest zu Kunstwirkung erlöst.

Auch die andern – zum Teil namenlosen – Künstler jener Kirchen hatten unermeßliche Schwierigkeiten zu überwinden. Es waren nicht die Quadern zur Stelle, um den Gebäuden die volle Wucht zu verleihen, nicht der Marmor, nicht die Werkzeuge, um ihn zu behauen; aber sie hatten das Gold, und sie hatten es im Überfluß. Sie konnten die hölzernen Balustraden, die Rahmen, das Schnitzwerk aufleuchten lassen in dem kostbaren Erz, und so strahlen diese Altäre in schimmerndem Glanz. Man kann es sich denken, wie die ersten Ansiedler, die in kümmerlichen Hausungen wohnten, die kaum ein Bett hatten und nichts außer ihrem Kleid, ihrem Dolch und ihrem Spaten, stolz waren, daß plötzlich diese weißen Kirchen mit aller Pracht der Bilder und Werke ihnen eine Ahnung von überirdischer Schönheit in ihr wildes und zügelloses Leben brachten. Bald wollten auch die schwarzen Negersklaven nicht zurückstehen. Auch sie wollten ihre Kirchen, in denen die Heiligen dunkelfarben sein sollten wie sie selbst, und sie brachten ihre geringen Ersparnisse, sich gleichfalls eine solche Herrlichkeit zu erbauen. So entstand auf dem anderen Flügel von Ouro Preto die Kirche Santa Ifigenia, gestiftet von »Chico Rei«, einem Negersklaven, der in Afrika Fürst seines Stammes gewesen und durch besonders glückliche Goldfunde sich und die Sklaven seines Stammes freigekauft. Dieser Kranz von Kirchen leuchtet heute mitten im einsamen Bergland und über den verschollenen Städten ein einziger Anblick und ein wahrhafter Augentrost. Denn was der Fluß in ewiger Mühe herangeschwemmt, was die dunklen Berge von ihren Schätzen, den längst noch nicht ganz gehobenen, gegeben, hat sich in den edelsten und dauerhaftesten Wert dieser Erde verwandelt: in Schönheit. Längst sind die Städte, die Siedler verschwunden aus diesen wieder vereinsamten Tälern, aber die Kirchen sind geblieben als Wächter und Zeugen vergangener Größe. Ouro Preto, in seiner düsteren Verfallenheit das Toledo Brasiliens, und Congonhas, lieblicher gelegen und von milden Palmen gekrönt, sein Orvieto oder Assisi, haben der Zeit Trotz geboten, indem sie die Vergangenheit treu bewahrten. Mit Recht hat sich Brasilien entschlossen, dies kostbare Vermächtnis unversehrt als »nationales Denkmal« zu erhalten, um so mehr als Ouro Preto auch in seiner nationalen Geschichte durch die Verschwörung der Inconfidência Mineira ein Ort der Pilgerschaft geworden ist. Diese Städte gesehen zu haben, ist ein Erlebnis besonderer Art und nicht bloß eine Augen- und Seelenfreude. Denn geheimnisvoll fühlt man an ihrer eigentlich unverständlichen Existenz die vielfältige Magie dieses gelben Metalls, das Städte in die Wildnis stellt, in den wüstesten Freibeutern Sehnsucht nach Kunst erregt, das hier wie immer die guten Instinkte anreizt wie die schlimmen, und, selber kalt und schwer, in dem Blut und den Sinnen der Menschen die heißesten und heiligsten Träume erregt – dieses geheimnisvollen und unzerstörbaren Wahns, der aber- und abermals die Welt verwirrt.

Mit einem letzten Blick auf diese romantisch düsteren Hügel mit ihren wie Engelsschwingen sie überschwebenden Kirchen hat man diese eigenartige Welt verlassen, die der trügerische Glanz des Goldes vor Jahrhunderten wie eine Fata Morgana in den leeren Raum gezaubert hat. Aber man will nicht aus diesen Tälern des Goldes, ohne mit eigenen Augen wenigstens einen Schimmer oder eine Spur des geheimnisvollen Elements gesehen zu haben, das die Menschen hierhergetrieben, man will nicht aus der Goldwelt, ohne Gold berührt, betastet zu haben. Die Gelegenheit scheint leicht gegeben. Denn ab und zu im Vorüberfahren sieht man noch einen Mann mit beiden Füßen tief im Rio das Velhas stehen und nach alter Weise den Sand im Siebe schütteln; auch dies hat sich nicht geändert in zweihundert Jahren: noch immer versuchen hier arme und keineswegs mehr romantische Goldgräber ihr Glück, denn es ist jedem verstattet, nach alter Weise dem Schwemmgold nachzuspüren. Gerne hätte ich einem dieser armen Glückssucher bei dieser mühseligen Arbeit zugesehen; aber man warnte mich, nicht meine Zeit zu vergeuden. Denn Stunden und Stunden, ja oft Tage und Tage schütteln diese Ärmsten der Armen vergeblich das Sieb und schöpfen sinnlos den leeren Sand. Und es bedeutet schon eine besondere Glücksstunde, wenn einer endlich ein einziges gelbes winziges Körnchen in seinem Siebe findet. Davon kann er wieder notdürftig ein paar Tage leben, um so Woche für Woche weiter zu schütteln und zu suchen; es ist ein tragisches, ein verzweifeltes Bemühen geworden, hier noch im angeschwemmten Sande nach Gold zu suchen. Während die garimpeiros, die Diamantensucher ein guter Fund manchmal für Jahre entschädigt, sind diese Franktireurs der Goldjagd schlimmer daran als der ärmste Arbeiter. Goldgewinn ist längst nurmehr in organisierter und kollektiver Weise möglich wie in den modernen Minen von Morro Velho und Espirito Santo, die von englischen Ingenieuren geleitet und von amerikanischen Maschinen bedient werden. Es ist ein ungemein komplizierter, aber aufregend sehenswerter Betrieb, der einen vom Tageslicht tief in die Unterwelt führt; das Gold von Minas hat sich, seit es sie in ihrer Wildheitkennenlernte, vor den Menschen längst in die Felsen verkrochen. Es will sich nicht mehr leicht greifen und fassen lassen, aber in den Hunderten Jahren der Jagd ist der Mensch auch hundertfach geschickter und raffinierter geworden als seine Ahnen. Er hat sich mit der Technik eine wirksame Waffe erfunden, und in tiefen und immer tieferen Stollen arbeiten sich nun stählerne Hände an das boshafte Metall heran; über zweitausend Meter sind die Schächte schon hinuntergewühlt in den Berg, und nicht Minuten, sondern Stunden dauert es, ehe man im Aufzug den untersten Stollen erreicht. Dort geschieht die große Arbeit. Mit elektrischen Bohrern wird das dunkle Gestein abgesprengt und auf Schienenwegen in Karren von Eseln zum Aufzug geschleppt – von armen grauen Eseln, die dort als lebenslänglich Gefangene in den elektrisch erhellten Schächten zu arbeiten und zu schlafen für immer verurteilt sind, auch sie wie die Menschen Sklaven und Opfer des Golds. Nur dreimal im Jahr, zu Ostern, zu Pfingsten, zu Weihnachten dürfen sie, wenn der Betrieb ruht, für einen einzigen Tag in die obere Welt empor, und kaum sie das Sonnenlicht sehen, beginnen die rührenden Tiere jubelnd zu schreien, zu springen und wälzen sich vor Wollust auf dem Rücken aus Freude an dem wirklichen, an dem so lang entbehrten Licht. Aber was in diesen Karren emporgeschafft wird, ist durchaus noch nicht reines Gold. Es ist nur ein grobes Gestein, grau, schmutzig, hart, ein Konglomerat, in dem auch das schärfste Auge nicht einen gelben Schimmer von Gold wahrzunehmen vermöchte. Aber nun fassen die Maschinen mit ihren riesigen Kräften die Klötze, das Gestein wird mit haushohen Hämmern zertrümmert, zerschlagen und so lange zerrieben, bis es eine weiche, vom Wasser ständig durchströmte Masse bildet, die dann durch Siebe geleitet und über vibrierende Tische geführt wird. Immer mehr soll das Metallische von der übrigen wertlosen Masse gesondert werden. Der schon geläuterte, bereits ganz feine Sand wird dann noch- und nochmals durch elektrische und chemische Prozeduren immer genauer gesiebt, bis schließlich nach unzähligen – kaum einzeln zu beschreibenden raffinierten Phasen – das letzte minimalste Stäubchen Gold aus dem Gestein gerettet ist. Nun kann das reine Element in glühenden Schmelztiegeln herausgekocht werden.

Eine Stunde, zwei Stunden hat man all diese mit dem kollektiven Genie zahlloser Erfahrungen ersonnenen Prozeduren angespannt und erregt beobachtet. Man hat Hunderte und sogar Tausende Menschen in dieser riesigen Fabrik gesehen, die Arbeiter im Stollen, im Aufzug, an den Maschinen, die Verlader, die Träger, die Schmelzer, die Heizer, die Ingenieure, die Verwalter. Es dröhnen einem noch die Ohren von dem Donner der niederschmetternden Hämmer, es schmerzen einem die Augen, die zuviel gesehen haben, von dem unablässigen Wechsel von Dunkel, von künstlichem und dann wieder natürlichem Licht. Alles hat man gesehen, nur das Eigentliche noch nicht, das reine Gold, das sichtbare Resultat all dieser phantastischen Mühe. Und man ist ungeduldig zu wissen, wieviel diese Arbeit von den achttausend Menschen, die hier tagtäglich im Werke beschäftigt sind, fördert. Wieviel, welche gewaltigen Massen Goldes die komplizierte Prozedur dieser unübersehbaren Maschinerie und die Leistung all der eingesetzten geistigen, manuellen, chemischen, elektrischen Kräfte als Tageserträgnis an Gold produziert haben. Schließlich bekommt man die Tagesleistung zu sehen, und man erschrickt beinahe, denn es scheint so unsagbar widersinnig. Es ist nicht, wie ich gemeint hatte, ein riesiger Haufen, ganze Klötze wie in den Kammern Montezumas – es ist nicht mehr als ein kleiner Block Gold, nicht größer als ein Ziegelstein. Es ist also nicht mehr als ein einziges gelbes Stück Metall, das diese achttausend Menschen mit Hilfe der kompliziertesten Maschinen in kunstvollster organisierter Arbeit der Erde abgerungen, und dieser eine winzige Ziegelstein gelben Metalls bezahlt diese achttausend Menschen und verzinst die Investitionen und speist noch irgendwo die unbekannten Aktionäre. Und wieder einmal wurde ich des teuflischen Zaubers gewahr, den dieses gelbe Erz seit Jahrtausenden über die Menschen übt. Zum erstenmal hatte ich sinnlich und optisch den ganzen Widersinn dieser Hörigkeit empfunden, als ich in Paris in den unterirdischen Kellern der Banque de France sah, wie dort in einer Art Festung unzählige Meter tief unter der Erde der angebliche Reichtum Frankreichs in Barren aufgestapelt lag, tot und kalt, eigentlich imaginäre Millionen und Milliarden – als ich sah, wieviel Mühe, wieviel Kunst und geistige Kraft verschwendet wurden, in einer künstlich in Paris angelegten Mine dieses in Afrika, Amerika, Australien mühsam ausgegrabene Gold wieder in die Erde zu verstecken. Und hier, an einem anderen Ende der Welt sah ich dieselbe Mühe, dieselbe Kunst, dieselbe geistige Kraft, gesammelt in der Arbeit von achttausend Menschen, um dasselbe tote Metall listvoll der Erde zu entreißen, nur damit es irgendwo wieder in sie hineingesenkt werden könne in einen künstlichen Schacht einer Bank, eines Kellers. Und ich verbot mir, über den Irrwitz der Goldgräber von Vila Rica zu spotten, die dort in Prunkgewändern stolzierten, denn der alte Wahn ist noch heute derselbe, er ändert nur seine Formen. Noch treibt dieses kalte Metall mächtiger als alle Dynamos und geistigen Wellen die Menschheit an und bestimmt in unberechenbaren Auswirkungen die Geschehnisse unserer Welt; und gerade als ich kalt und völlig ungöttlich den gelben Ziegelstein Gold vor mir liegen sah, wurde das Paradoxe mir bewußt.

 

So erging es mir sonderbar in diesen Tälern des Goldes. Ich war gekommen, um seine Macht, seine Wirkung besser zu verstehen an dem Ort seines Ursprungs, im Anblick seiner wirklichen, seiner sinnlichen Formen. Aber nie wurde ich des Widersinns dieses Wahns tiefer gewahr als in der Minute, als ich völlig ehrfurchtslos den gelben Ziegelstein Gold anrührte, an dem noch die frische, unsichtbare Arbeit von Tausenden von Händen klebte; es war nichts als kaltes, hartes Metall. Keine Schwingung, keine Wärme strömte über in meine Hände, keine Heizung ging über in meine Sinne, keine Ehrfurcht in meine Seele. Und ich konnte nicht verstehen, daß dieselbe Menschheit diesem Wahne dient, die doch fähig wäre, solche hohe, strahlende Schöpfungen wie jene leuchtenden Kirchen zu erschaffen und in ihnen das irdische Vermächtnis der Ewigkeit ehrfürchtig zu hüten: die Kunst und den Glauben.