50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Kapitel Neun

Meine erste Aufgabe ist, unbeweglich, unerschütterlich und vor allem ungerührt in der Mitte des Platzes stehenzubleiben. Das Pferd windet sich wild. Es hat sich in die Zügel ohne meine Absicht, ohne System wie in Spannstricke eingeschnürt. Die feine Haut tritt in Wülsten hervor, die sich an den Rändern sofort unter der Haut mit umlaufendem Blute füllen, Striemen, die man noch nach Monaten sehen wird. Nicht zu vermeiden. Das Pferd kann sich nicht halten, es wankt, fällt, es öffnet erstaunt sein Maul. Es wiehert aber nicht, schnell will es sich wieder aufraffen. Der Boden des ovalen, hohen Raumes ist erschüttert durch den dumpfen Anprall des fallenden Pferdes. Die weißen Flecke an der Stirn blinken bei der starken Bewegung. Das Pferd beginnt sich zu wälzen, den Kopf unter der Lohe zu vergraben, aber es ist zuwenig davon da, immer wieder werden die Augen des Pferdes sichtbar, und die Augenwimpern, schon mit Schmutz bestreut, sind aus ihrer schön dichtgereihten Ordnung gebracht. Auf der Seite daliegend, wiehert es und klagt. Aber dann explodiert es förmlich, es feuert vom Boden auf, eine Wolke braunen Staubes um sich aufschüttelnd, es schlägt mit dem Kopfe um sich, gedankenlos, wütend, besinnungslos. Aber es macht sich nicht frei. Die gut geordneten und klug ausgedachten Binden spannen sich in ihren stählernen Ringen von neuem, und es ist, als wäre nichts gewesen.

In diesem Augenblicke sieht es so aus, als ob Cyrus sich fügte und nun in regelmäßigem, rechts gerichtetem Trab parieren wollte. Wenn er mich von der Seite ansieht, ist es nur, um mir meinen Willen von den Augen abzulesen. Oder habe ich mich getäuscht? Ist es nur Tücke? Hinterlist? Bei jedem zehnten Schritt erhebt sich Cyrus auf den hohen Hinterbeinen und kommt mir näher, drängt mich an die Höhlung der ovalen Wand, um dort auf mich niederzufallen. Ist es zu spät, habe ich mich schon von dem hämischen Geiste betrügen lassen? Habe ich einen teuer erkauften Augenblick lang geglaubt, ich stünde, strahlend in meinem Lebensübermute, im Mittelpunkt der Welt, herrschend, weil mein Pferd ein paar regelmäßige Touren rings um mich gemacht hat?

Jetzt ist es damit vorbei. Es springt, indem es sich mit allen vieren vom aufschäumenden, braun brodelnden Boden abstößt, in schiefen Sätzen nach links, dabei wirft es den Kopf mit einer solchen tierischen Wut zurück, daß die Stange, die es im Maule hat, gegen seine Zähne klirrt mit eisernem Getöse. Plötzlich, flach mit gebeugten Gelenken dem Erdboden angenähert, zuckt es wie ein Blitz mit scharfen Sprüngen durch die Manege hin. Es spielt mit der Doppellonge, die scheinbar alle Kraft verloren hat, wie ein Kind mit einem Bändchen am Hemd.

Durch die verglaste Öffnung im Dache dringt Licht, ein starker, mannsdicker, silbern gleißender Strahl. Ich bin für das spielende, rasende Tier nicht mehr da. Sowenig wie vor einer Stunde für meinen einzigen Freund. Mit dem Lichtstrahl spielt es, schnuppert nach ihm, taucht seine schweißesfeuchte, flatternde Mähne in den Lichtkegel. Dicht neben den schmalen weißen Vorderfesseln sprüht das versilberte Mähnenhaar, so sonderbar hat sich das Pferd gekrümmt. Aus dieser gekrümmten Haltung löst es sich unter lautem F… , reißt die Glieder an sich, springt auf, steigt aus Leibeskräften und läßt sich dann mit seinem seidenglänzenden, stark riechenden, schweißbedeckten Körper dröhnend in die Lohe niederfallen, als spiele es mit sich selber wie mit einem Ball. Ich stehe ganz still da, komme dem Pferd weder näher, noch entferne ich mich von ihm. Trotz des ohrenbetäubenden Lärmes, den der unaufhörlich wiehernde und stampfende Hengst vollführt, bin ich so ruhig wie vor einer Stunde am Bett meines kranken Freundes Titurel. Das Pferd hat sich jetzt zu einem ganz kurz gehaltenen Galopp entschlossen, wobei es mit seinem Hinterteil, das heißt mit beiden Hinterbeinen zugleich, nach der Holzwand aufsetzt, während es seinen Kopf tief zwischen die aufgestemmten Vorderbeine niedergebogen hat und bei jedem Angriff einen Teil der altersschwachen dunkelgelben Strohkränze fortreißt. Ich halte die Zügel lose. Der hohe Raum widerhallt von donnerndem Gedröhne.

Um so stiller werde ich. Ich stelle mich fest an einen noch etwas günstigeren Platz, mehr der Schmalseite zu. Ich presse meine Beine streng aneinander, um möglichst sicheren Halt zu gewinnen. Das Pferd beobachtet mich, ahmt es mir nach und hält jetzt aufatmend still. Das ist gefährlich. Steht das Pferd still, muß ich mich ihm nähern. Wenn es so klug ist, wie es scheint, kann es mir dann mit einem Schlage die Hirnschale zertrümmern. Oder es kann sich mit seinem ganzen schweren, von Schweiß triefenden, von innerer Wut und ungeheurer Gewalt erfüllten Körper auf mich werfen und mich erdrücken. Von diesem Tod habe ich einmal geträumt.

Wer sich zuerst rührt, ist verloren. Ich werde es nicht sein. Eine Viertelstunde bleiben wir unbeweglich. Nur leise scharrt das Pferd am Boden, als wolle es etwas hervorholen. Die schönen Wimpern in der oberen Reihe glänzen stark wie Seidenfäden in der Sonne, wie meine Mutter sie aus ihrer Nähschatulle oft verloren hat. – Das Pferd atmet durch die glitzernden vibrierenden Nüstern schnell und laut. Der nasse Körper trocknet rasch.

Da werfe ich plötzlich die Peitsche über den Rücken des Cyrus hin. Mit der Peitsche arbeite ich nicht. Eher mit der Überraschung. In seinem Erschrecken hat sich das Pferd hinreißen lassen, eine Bewegung zu machen. Es hat die Ruhe verloren. Und während ich freudig den Laut des Trabens höre, verkürze ich die Leine, wobei mir die Riemen trotz der guten, starken Handschuhe innen einschneiden. Aus seinem Trab ist das Pferd in seinen alten Hundegalopp linksherum verfallen; aber was hilft es ihm? Ich habe inzwischen alle vier Leinen, die von meinen Händen ausgehen, richtig geordnet. Ich spüre jede Bewegung des Tieres in meinen Händen. Ich weiß nun, daß das Pferd an der Doppellonge festhält. Nun erhebe ich beide Hände bis zur Kopfhöhe und noch höher, so weit ich nur kann.

Ich werfe meinen Körper zurück, durch den der Rhythmus des Tieres mit seiner ganzen Gewalt geht. Ich habe auf diese Art einen Hebel gebildet. Die Leine habe ich noch stärker verkürzt. So bin ich der Gefahr entgangen, mich bei dem immerhin möglichen Mißlingen meines wichtigsten und letzten Versuches in die Leinen wie in selbstgelegte Schlingen zu verwickeln. Das Tier hat mein Manöver genau gespürt. Noch rast es dahin, unter taktförmigem Wiehern und stampfendem Galoppieren den Raum durchmessend. Es zieht stets die verbotene Runde nach links. Es lebt in höchster Erregung. Die Augen funkeln hell, fast wie wolkenloser Mond. Weißer Schaum trieft zwischen seinen Zähnen, im Sonnenstrahl kräftig erglänzend. Cyrus streckt seinen Hals, wirft halb in Wut, halb in Lust seinen Kopf, als hänge dieser an einem Faden, von einer Seite zur andern. Nun mache ich eine rechtwinklige Drehung. Ich habe das Riemenwerk herabgenommen und um meine Taille geschlungen. Die Leine ist um die Hälfte verkürzt. Der Endkampf ist da.

Aber ich halte den Kampf. Ich halte das Pferd. Der innere Zügel ist lose, obwohl wir uns sehr genähert haben. Er wirkt nicht und kann nicht wirken, da das Pferd sich widersetzt. Aber dafür tritt der äußere, und zwar mit jedem Schritt des bereits langsamer galoppierenden, mit kürzeren Sprüngen hinsetzenden Pferdes, um so stärker, unwiderstehlicher in Wirksamkeit.

Es hebt sich in seinen Ketten aus Lederriemen, das kämpfende Tier. Daß es kämpft, macht es wehrlos.

Kann das sein? Doch es ist so.

Kapitel Zehn

Cyrus fühlt in mir die große Macht. Er ist verstummt. Dumpf klingt sein Huf schlag auf dem in weiten Kreisen aufgewühlten Boden der grünen Reitschule. Er blickt mit seinen hellen Augen nach dem inneren Zügel, der lose neben dem triefenden Maule herabhängt. Er schüttelt ihn wie zum Spiele, als habe er nichts von ihm zu fürchten.

Aber von der anderen Seite her, von der »gebrochnen Führung« her, wird er allmählich hereingezogen. Eine ungeheure Hebelkraft setzt mit jeder Sekunde stärker ein. Man hat eiserne Ketten in der Hand, mehr noch, man zwingt das Tier durch sich selbst. Das ist es. Denn das Pferd hat sich durch die planvolle Bindung der Riemen die Nüstern wie mit einer Stahlfeder nach rückwärts gezogen. Die Nüstern aber, von weichster Haut bedeckt, sind beim Pferd in höchstem Grade empfindlich. Jetzt hat es sich seine zarteste, seine verwundbarste Stelle durch die eigene widerwillige Kraft, durch sein Sichwehrenwollen bis ins Unerträgliche gepeinigt. Denn die Nüstern sind jetzt bis zum Kummetringe nach hinten herangerafft. Sieht man das ohne Zittern vor sich? Das arme, von sich selbst gehetzte Tier hat sich den fürchterlichsten Schmerz, hat sich die grauenvollste Verrenkung im Genick erzwungen. Heraus kann es nicht mehr, auch dann nicht, wenn es stillestehen wollte. Der geschmeidige mausgraue Nacken krümmt sich unter nie zu ahnenden und nachzufühlenden Schmerzen wie ein außerordentlich stark angespannter Bogen. Jetzt wird er und damit das ganze Tier einem zuckenden eisgrauen Hecht ähnlich, der sich, im Netze springend, aufbäumt und sich unter der Wassernot fürchterlich wehrt. Aber dies ist nur eine Erscheinung. Man sieht nur das Äußere. Das Innere des Cyrus kann man nicht sehen. Aber hören kann man ihn. Hören kann man, wie er seufzt. Unselig, herzbewegend.

Unter dem Klange des Seufzens, das dem Klange einer ziehenden Säge in frischem Holze gleicht und das keine Ähnlichkeit mit dem oft belanglosen Seufzen der Menschen hat, unter diesem unbeschreiblichen, unvergeßbaren Seufzen wendet sich der Kopf des Cyrus in die befohlene Richtung. Schüchtern und dennoch immer noch voll Kraft wendet sich der Körper, es strecken und beugen sich die Beine im mäßig schnellen Trab rechtsherum, und damit löst sich die Gewalt. Der schrecklichste Schmerz muß schwinden. Das Tier gehorcht. So vollkommen ist es in meiner Gewalt, daß ich mich des Kampfes schäme. Ich bin noch nicht ganz frei, kann aber durch eine Linkswendung meines Körpers wieder in meine frühere Position zurück, ich darf mich sogar sorglos im kleinen Kreise bewegen. Nun fängt der »banale«, der bürgerliche Zügel, möchte ich sagen, nämlich der innere, wieder an zu wirken. Ich mache meine Hände nun vollends los. Ich atme auf. Ich sehe aber Cyrus nicht an und weiß, daß er mich nicht ansieht. Unter der schweren Portiere ist der Stallpage durchgeschlichen. Er empfängt jetzt das Pferd aus meiner Hand. Es ist auf ewige Zeiten willig. Nur noch einem Herrn wird es sich nach meiner Herrschaft fügen müssen, dem T.

 

Habe ich die Probe bestanden? War es eine Probe auf den T.? Habe ich sie bestanden? Ist es vorbei?

Noch in der kühlen Dämmerung der Reitschule reibt der Stallbursche den Gaul mit einem Frottierlaken trocken. Dabei steckt das Pferd seine lachsfarbene, an der Spitze noch mit weißem Schaum bedeckte Zunge heraus und leckt dem Knaben, der sich an der Brust des Pferdes zu schaffen macht, die Hand.

Ich schlage mit der Reitgerte, die ich eben aufgehoben und von Staub gereinigt habe, leicht nach den beiden, treffe eben noch die Spitze der rasch zurückschnellenden Zunge des Pferdes und die Achsel des erschrocken zusammenzuckenden Knaben. Kaum ist der leichte Schlag gefallen, den man kaum richtig gehört hat, als ich schon die tiefste Scham empfinde. Aus der Oberstenloge am Kopfende der Reitschule, wo bei feierlichen Gelegenheiten, Sprungturnieren und so weiter der Direktor an der Spitze des Lehrkörpers unseren Leistungen zusieht, kommt ein leichtes Beifallsklatschen, das einem sehr verspäteten Echo meines Peitschenhiebes gleicht. Ist denn die Schule nicht leer gewesen? Habe ich in der Loge Zeugen gehabt? Aber alles ist so schnell aufeinandergefolgt, daß ich nicht weiß, ob das Beifallsklatschen der Bändigung des Cyrus gilt, über die ich jetzt am liebsten weinen möchte, oder dem unbesonnensten Schlag, den je ein von Lebensmut berauschter achtzehnjähriger Schüler und stellvertretender Rittmeister einem unschuldigen, nur durch mechanische Mittel und barbarische grobe Hilfen besiegten Tiere und einem wenn auch ungeschickten, so doch anstelligen und willigen Jungen erteilt hat. Ich blicke mich nicht nach dem Meister um. Er hat applaudiert. Es kann nichts Unrechtes hier im Hause und draußen im Gute geschehen, ohne daß er beifällig dabeisteht und mithilft nach Kräften. Viele lasterhafte Gewohnheiten der Schüler scheint er zu billigen, verschiedene, nicht ganz durchsichtige Manöver des Rendanten fördert er. Ich schäme mich seines Lobes, ich hasse seine ungewollte widerliche Zuneigung zu mir, obgleich ich ihr den kostenlosen Aufenthalt hier verdanke ich und meine armen Eltern mit mir müßten ihm auf den Knien danken.

Nichts derart. Ich bücke mich und streife mit der Rückenfläche meiner Handschuhe den Staub und die Reste von Lohe an meinen Knien ab. Cyrus hat mich vorhin, ich schämte mich, es zu sagen, bei unserm ungleichen Kampfe hingeschleudert. Er hat mich, mit meinen Zügeln um den Leib, gezwungen, auf den Knien wie auf Schlittenkufen rutschend, einen Teil seiner blitzschnellen Kreuz- und Querfahrten mitzumachen. Jetzt endlich verklingen die Schritte des müden Pferdes und des auf seinen genagelten Schuhen bäurisch einherschreitenden Stalljungen. Nun ist der ovale, überall bis in die Ecken aufgewühlte Reitplatz leer. Die Sonne bricht von oben ein in unvermindertem Glänze, ja sie scheint jetzt in diesem Augenblick, als ich, die Schultern hebend, aus der grünen Reitschule hinaustrete, an Glanz und Feuer, Größe und Blendung noch gewonnen zu haben.

Ich habe noch Lebenskraft in mir, obwohl ich fühle, daß ich diese Probe nicht bestanden habe. Ich bin jetzt entschlossen, nie mehr Pferde in solcher Weise zu bändigen. Ich will niemals Rennreiter, nicht Hindernisreiter oder Trainer werden, eher, wenn es sein muß, Knecht in einem Stalle, wo die edlen, dem Menschen an Adel vielfach überlegenen Tiere gepflegt werden. Muß ich Proben im Kampfe mit dem T. bestehen, sollen es andere sein.

Meine Kameraden haben sich, da es inzwischen Mittag geworden ist, zur Erholungspause in den großen Hof begeben. In kleinen Gruppen stehen sie umher. Von weitem sehen sie einander in ihren weiten sommerlichen staubfarbenen Uniformen alle ähnlich wie Brüder aus einem Hause oder Schafe aus einer Hürde. Mich erkennen sie von weitem, rufen mir Scherzworte zu, nicht immer der anständigsten Art. Ein kleiner Junge bittet mich (aber es ist eher Ironie) zu Hilfe, da er im Kampfe mit dem dicken Fürsten X. steht, demselben, den man bei uns Piggy (amerikanisches Schwein) nennt. Aber davon ist nicht die Rede. Ich hasse zwar Piggy, denn aus seinem Munde kam im Schlafsaale der »Fürsten« die gemeine Erzählung, die mir die Unschuld dem T. gegenüber genommen hat. Aber es wäre nicht recht, sich parteiisch in einen Kampf dieser Jungen einzulassen. Ich begebe mich mit einem stillen, verschlossenen Lächeln an ihnen vorbei in mein Zimmer, um mich zu waschen und die von Staub und Schweiß unansehnlich gewordene Uniform zu wechseln.

Kapitel Elf

Da die Hitze fast unerträglich geworden ist, haben die Lehrer beschlossen, den Unterricht in den Nachmittagsstunden ausfallen zu lassen. Dafür sollen körperliche Übungen treten. Und zwar soll ein Teil, der die jüngsten Schüler umfaßt, eine Art Handball, ein zweiter Teil soll Tennis spielen (beides sehr unsinnig wegen der schattenlosen Spielplätze), dem dritten Teil, von der »Fünften« angefangen, also den ältesten Schülern, wird erlaubt, mit einigen Pferden in die Schwemme zu reiten.

Die Pferde werden ohne Sattel und Bügel, bloß mit dem Handzügel aufgezäumt, um vier Uhr vorgeführt werden. Wir haben unser Badekostüm anzulegen und darüber, solange wir uns im Bereich der Gehöfte befinden, die grauen Turnanzüge.

Auf ungesattelten Pferden zu reiten ist selbst für einen passionierten Reiter nicht immer ein Vergnügen, auch muß das Pferd beim Verlassen des Wassers trockengeritten werden. Das ist eine schwierige Arbeit, denn die Pferde sind gegen Erkältung und Nässe in gleicher Weise empfindlich, und bei der herrschenden Schwüle stellt dies keine leichte Aufgabe dar. Dafür lockt die Freude eines Bades im See und das Vergnügen, ohne Aufsicht der Lehrer ein paar Stunden zu verbringen. Denn statt des Rittmeisters bin ich zum Leiter der Kolonne ausersehen, und mich dürfen die Schüler ruhig als ihresgleichen betrachten.

So kann uns das immer düsterer sich sammelnde Gewölk, das niedriger drohende Gewitter keine Angst einflößen, wir dürfen auch im ärgsten Regen heraus und draußen bleiben. Nicht alle sind freilich im selben Maße wie ich von diesem Plane entzückt. Der junge Prinz Piggy, ein kleiner, dicker, junger Herr mit mattbraunem Gesicht (er ist in den Tropen geboren), mit schwarzen, wie Kirschenmarmelade funkelnden Augen und einem sehr blassen, breiten, wenn auch außerordentlich festen Munde, ist nicht recht bei der Sache. Sonst schreit er gern umher oder gibt sein bellendes Lachen bei der blödesten Gelegenheit von sich, jetzt flüstert und zischelt er und scheint die Kameraden von etwas überzeugen zu wollen, was sie aber nicht ernst nehmen, denn sie hören gar nicht auf sein Gelispel hin. Daß es Mangel an Courage bei ihm ist, kann ich nicht glauben, da ich mir Feigheit vor Dingen des Lebens (und das sind doch Wasser, Gewitter, Pferd, Donner und Blitz) weder bei mir selbst noch bei andern je vorstellen konnte.

Wir stehen jetzt alle in unsern weiten, ungebügelten, um die Knöchel schlotternden Turnanzügen vor dem Stalltore, um die Pferde zu erwarten, die drinnen schon stampfen, scharren, an den Karabinern und Stallketten klirrend zerren und leise aufwiehern. Es ist auch zu hören, wie sie mit den Schwänzen an die Stallraufen schlagen, was ein eigenartiges zischendes Geräusch gibt, und wie sie mit den Nasen die salzhaltigen Wände »ausradieren«.

Plötzlich erscheint zum Erstaunen aller vom Lazarette her über den jetzt schattendunklen Hof mein Freund Titurel. Er ist noch etwas blaß; aber wüßte man es nicht, könnte man ihm Fieber und Krankheit nicht ansehen. Er mischt sich unter die anderen, ist ebenso wie wir in einen grauweißen Turnanzug gekleidet und hat das Handtuch, das zum Baden mitgenommen wird, in den Gürtel eingefaltet. Da die Anzahl der Pferde beschränkt ist, muß einer der anderen Schüler auf die Partie verzichten, wenn Titurel mitkommen soll. Eben schlägt die Uhr im Schulgebäude vier. Die Tiere drängen sich schon nebeneinander durch die weit geöffnete Tür vor. Jetzt erscheinen die ungesattelten Pferde mit ihren weichen, aneinanderknirschenden Leibern, nackt, mager und nicht so ebenmäßig gebaut, wie es sonst unter den schmalen, kleidsamen englischen Sätteln aus Schweinsleder und den breiten, sanft umfassenden Gurten der Fall ist. Wer soll nun zurückbleiben? Denkt Piggy wirklich an sich selbst? Er sieht auf mich, dem die Entscheidung zusteht. Dabei versucht er meinen Blick zu fangen. Wie er das macht, ist mir nicht erklärlich, denn er fixiert mich nicht eigentlich, er hat die richtig kameradschaftliche, weder übertrieben selbstbewußte noch ausgesprochen familiäre Haltung. Er hat sein Pferd bereits in Empfang genommen und streicht mit seinem auffallend weibischen Daumen über den schmalen Zügel hin. Schon habe ich seinen Namen auf der Zunge und will ihn bitten zu verzichten, als ich bemerke, daß er dies wahrgenommen hat und daß seine Finger den Zügel wieder fortlassen wollen. Er ist also wirklich feige, er hat Angst davor, ein ungesatteltes Pferd zu reiten (dabei ist kein zweiter ungebändigter Cyrus unter diesen Tieren), er will nicht auf einem ungesattelten Pferd sitzend ins Wasser gehen und sich einem schwimmenden Gaul anvertrauen. Gerade weil ich seine Feigheit erkenne, gehe ich nicht darauf ein und bitte den jüngsten unter uns, einen besonders hochbegabten Jungen, der wegen seiner vorgeschrittenen Kenntnisse unter die viel älteren aufgenommen ist, daheim zu bleiben und sich seinen Altersgenossen beim Spiel anzuschließen. Er ist ein reizender Bursche, bescheiden, lebhaft, mit einem runden Gesicht, weiß und rot, wie aus Porzellan gebildet. Er heißt unter uns Assissus, nach dem berühmten Heiligen; wieso er zu diesem Namen gekommen ist, weiß ich nicht. Man hat ihm diesen in meiner Abwesenheit nachts im Schlafsaale nach einer sehr scharfen, aber ohne Wimperzucken ertragenen »Probe« gegeben.

Ich warte weiter nichts ab, nehme aus der Hand des Stallburschen mein Pferd, eine ziemlich hohe, betagte Schimmelstute, entgegen, fasse mit der linken Hand den Zügel, stütze mich mit dieser Hand auf den gekanteten Bug, mit der rechten auf die weiche und doch unter meinem Griff unnachgiebige Kruppe des Pferdes und werfe mich mittels eines mühelos aussehenden, aber immer schwierigen Sprunges über das Tier, dem ich gar nicht Zeit gegeben habe zu überlegen. Ich sitze oben, die Zügel in der linken, meine Gürtelschnalle in der rechten Hand, mit den Beinen den nackten Leib der Stute fest umklammernd, während die andern sich noch mit den unruhig gewordenen, durcheinandergedrängten Pferden abplagen.

Es ist ziemlich düster unter den Lindenbäumen der Allee, denn die Wolken haben sich seit dem Vormittag noch mehr zusammengezogen. Der schwere, fast greifbare Duft der mit honigfarbenen Blüten überhäuften, still rauschenden Lindenbäume mischt sich mit dem von unten nach oben steigenden Dunst der vielen Pferde. Schwärme von Spatzen rauschen schilpernd von den Bäumen herab zu den Füßen der Pferde, denn sie erwarten da etwas. Sie sind besonders unruhig. Man sieht immer wieder ihre mattbraunen Flügelchen aufgeplustert, die helleren Schnäbel haben sie weit geöffnet, und so wirbeln sie kleine Wölkchen Staubes in der Straßenmitte auf, sie baden im Staube, bis sie vor den Pferden aufflattern, kreischend vor Unruhe und Lust. Das Gewitter liegt in der Luft.

Unter den Schülern ist es zuerst meinem Freunde Titurel gelungen, in den richtigen Sitz zu kommen. Er hält sich oben stumm, sehr gerade aufgerichtet. Die sommersprossigen Hände und die mit blondem Flaum bedeckten Unterarme hat er weit vor sich hingestreckt. So bleibt er neben mir und wartet, bis unter lautem Gelächter, das allerdings die Pferde noch unruhiger macht, auch alle andern hinaufgeklettert sind. Das dauert lange, denn einer will dem andern helfen, schließlich gibt es nur einen Haufen von ungeduldigen, schwitzenden und stallenden Pferden, von grauen, unter der Achsel schon vom Schweiß angedunkelten Turnanzügen, von Knabenhänden, an denen die Pferdemäuler ziehen, und von Knabengesichtern, die teils vom Lachen, teils von der Anstrengung stark gerötet sind. Nur einer ist blaß, ruhig, hält sich abseits und lächelt spöttisch, wenn auch kaum erkennbar, mit seinen wulstigen Lippen und seinen hübschen falschen Marmeladeaugen: Piggy.