50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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»Sie haben ganz recht!« rief er schließlich.

Schwieriger war es, die Nachricht dem alten Bourras beizubringen. Allein Denise mußte ihm doch das Zimmer kündigen. Sie zitterte davor, denn sie fühlte sich ihm tief verpflichtet.

Der Alte kam neuerdings ohnehin aus dem Zorn nicht mehr heraus. Waren doch diese Gauner auf den Gedanken verfallen, zur Verbindung der schon bestehenden Abteilungen des Warenhauses mit den neu einzurichtenden Räumen im ehemaligen Haus Duvillard unter seinem Laden einen Stollen durchtreiben zu lassen! Da das Haus Mouret gehörte und der Vertrag dahin lautete, daß der Mieter alle Reparaturen gestatten müsse, erschienen eines Morgens die Arbeiter bei Bourras. Er jagte sie fort und erklärte, er werde klagen. Das ganze Viertel wartete gespannt auf den Prozeß, der endlos zu werden versprach.

An dem Tag, als Denise sich endlich entschlossen hatte, Bourras zu kündigen, kam dieser eben von seinem Anwalt.

»Wollen Sie es glauben: jetzt behaupten sie, das Haus sei nicht fest genug, sie müßten das Fundament ausbessern. Es wäre wirklich kein Wunder, wenn das Haus wackelte. Sie haben es ja lange genug mit ihren Maschinen durchgerüttelt.«

Als das junge Mädchen ihm dann erzählte, es wolle mit tausend Franken Gehalt wieder ins »Paradies der Damen« eintreten, war er dermaßen betroffen, daß er auf einen Stuhl niedersank und rief:

»Bleibt denn keiner mehr übrig außer mir?«

Nach einer Weile fragte er:

»Und der Kleine?«

»Er soll zu Frau Gras zurück«, sagte Denise, »sie hat das Kind sehr gern.«

Wieder schwieg er. Sie hätte es lieber gesehen, wenn er wütend gewesen wäre, wenn er geflucht, mit der Faust auf den Tisch geschlagen hätte; seine wortlose Bestürzung tat ihr weh. Nach und nach aber faßte er sich und begann wieder zu schreien.

»Tausend Franken, das lehnt man freilich nicht ab … Und wenn ich zehnmal alleinbleibe – ich werde mich nicht beugen! Sagen Sie ihnen, daß ich meinen Prozeß gewinnen werde, und wenn ich mein letztes Hemd dafür opfern müßte!«

Denise sollte Robineau erst Ende des Monats verlassen. Sie hatte Mouret wiedergesehen, und alles war geregelt worden. Als sie eines Abends eben in ihr Zimmer hinaufsteigen wollte, wurde sie von Deloche angehalten, der sie unter einem Hauseingang erwartet hatte. Er war sehr glücklich; soeben hatte er die große Neuigkeit erfahren. Das ganze Geschäft spreche davon, versicherte er. Sehr aufgeräumt erzählte er ihr den neuesten Klatsch aus der Konfektionsabteilung.

»Sie können mir glauben: die Damen schneiden schöne Gesichter! … Übrigens, erinnern Sie sich an Claire? Es scheint, daß der Chef sie zu seiner Geliebten gemacht hat … «

Er war sehr rot geworden; ihr dagegen wich alle Farbe aus dem Gesicht.

»Wie, Herr Mouret?« rief sie aus.

»Sonderbarer Geschmack, nicht wahr?« fuhr Deloche fort. »Ein Frauenzimmer wie ein Pferd … Die Kleine aus der Wäscheabteilung, die er im vorigen Jahr zweimal hatte, war wenigstens ein hübsches Ding. Aber das ist ja seine Sache … «

Als Denise in ihrem Zimmer ankam, fühlte sie sich sehr elend. Sie glaubte, es komme davon, daß sie zu rasch hinaufgegangen sei. Sie stand ans Fenster gelehnt, und in ihrer Erinnerung tauchte plötzlich Valognes auf mit seinen einsamen Gassen und den moosbedeckten Pflastersteinen. Sie sehnte sich danach, wieder dort zu leben, sich in die Vergessenheit und den Frieden der Provinz zu flüchten. Sie empfand einen Widerwillen gegen Paris, sie haßte das »Paradies der Damen« und wußte nicht mehr, weshalb sie eingewilligt hatte, dahin zurückzukehren. Sicherlich würden damit alle Qualen von vorn anfangen. Sie litt ja schon jetzt durch die Erzählungen Deloches, ohne sich die Ursache erklären zu können. Ganz plötzlich brach sie in Schluchzen aus und weinte lange vor sich hin.

Am folgenden Vormittag wurde sie von Robineau mit verschiedenen Gängen beauftragt. Als sie am »Vieil Elbeuf« vorbeikam, trat sie einen Augenblick ein, weil sie Colomban allein im Laden gesehen hatte. Die Baudus waren beim Essen; man hörte das Geklapper ihrer Bestecke aus dem kleinen Speisezimmer.

»Sie können ruhig hineingehen«, sagte der Angestellte.

Aber sie gebot ihm Schweigen, zog ihn in einen Winkel und sagte leise:

»Mit Ihnen habe ich zu reden. Haben Sie denn kein Herz? Sehen Sie nicht, daß Geneviève Sie liebt und darüber zugrunde geht?« Sie bebte am ganzen Körper, die fieberhafte Erregung vom Abend vorher hatte sie wieder ergriffen. Er stand betroffen da, völlig überrascht von diesem Angriff; er schaute sie an, ohne ein Wort herauszubringen.

»Hören Sie«, fuhr sie fort, »Geneviève weiß, daß Sie eine andere lieben. Sie hat es mir gesagt und dabei herzzerbrechend geweint, die Ärmste … Sie können sie doch nicht so umkommen lassen!«

Endlich sagte er ganz verstört:

»Aber sie ist ja gar nicht krank; Sie übertreiben … Außerdem verschiebt ihr Vater die Hochzeit immer wieder … «

Denise trat dieser Ausflucht schroff entgegen. Sie fühlte, daß das leiseste Drängen von Seiten des jungen Mannes den Onkel bestimmt hätte, nachzugeben.

Die Überraschung Colombans war übrigens keineswegs erheuchelt: er hatte in der Tat von Genevièves langsamem Hinsiechen nichts bemerkt. Es war für ihn eine unangenehme Entdeckung; solange er nichts gewußt hatte, brauchte er sich keine Gewissensbisse zu machen.

»Und um wen das alles?« fuhr Denise fort. »Um eine liederliche Person! Sie wissen gar nicht, wen Sie da lieben. Ich wollte Sie bisher nicht kränken und habe es vermieden, auf Ihre fortwährenden Fragen zu antworten … Ja, sie geht mit aller Welt und macht sich nur lustig über Sie; Sie werden sie niemals bekommen oder höchstens genau wie alle anderen, einmal so im Vorübergehen … «

Er verfärbte sich, hörte sie aber wortlos an. Von einer gewissen Grausamkeit fortgerissen, rief sie schließlich aus:

»Und wenn Sie noch mehr wissen wollen, so sage ich Ihnen zum Schluß, daß sie es mit ihrem Chef hält, mit Herrn Mouret.«

Die Stimme versagte ihr, und sie wurde noch blasser als er. Stumm betrachteten sie einander. Endlich stammelte er:

»Ich liebe sie aber!«

Da schämte sich Denise. Warum sprach sie so mit diesem jungen Mann und weshalb ereiferte sie sich dermaßen? Sie stand schweigend da, das eine Wort, das er ihr soeben erwidert hatte, klang in ihrem Herzen nach. »Ich liebe sie, ich liebe sie … « Er hatte recht: wenn er sie liebte, dann konnte er keine andere heiraten.

Als sie sich umwandte, bemerkte sie Geneviève auf der Schwelle des Speisezimmers.

»Schweigen Sie!« flüsterte sie ihm rasch zu.

Doch es war zu spät; Geneviève mußte alles gehört haben. Sie war leichenblaß.

Im gleichen Augenblick betrat eine Kundin den Laden. Es war Frau Bourdelais, eine der letzten Getreuen des »Vieil Elbeuf«, wo sie noch besonders strapazierfähige Stoffe bekam. Frau von Boves war längst der Mode gefolgt und zum »Paradies der Damen« übergegangen, und auch Frau Marty kam nicht mehr, völlig verführt durch die Auslagen da drüben.

Geneviève mußte der Kundin entgegengehen und fragte mit tonloser Stimme:

»Sie wünschen, gnädige Frau?«

Frau Bourdelais verlangte Flanell zu sehen. Colomban holte ein Stück herunter, und Geneviève zeigte den Stoff; so standen beide, kalt und steif, nebeneinander hinter dem Ladentisch. Mittlerweile kam auch Baudu aus dem Speisezimmer, gefolgt von seiner Frau, die auf dem Bänkchen hinter der Kasse Platz nahm. Er mischte sich anfangs in den Kauf nicht ein. Nachdem er Denise einen Gruß zugelächelt hatte, trat er beiseite und betrachtete Frau Bourdelais.

»Besonders schön ist er nicht«, sagte diese. »Zeigen Sie mir den stärksten Flanell, den Sie haben.«

Colomban holte ein anderes Stück hervor. Frau Bourdelais prüfte den Stoff genau und fragte dann:

»Was kostet der Meter?«

»Sechs Franken, gnädige Frau«, erwiderte Geneviève.

»Sechs Franken? Da drüben ist ganz der gleiche für fünf Franken zu haben!«

Ein Schatten des Unmuts flog über Baudus Gesicht. Er konnte nicht mehr umhin, sich höflich einzumischen. Gnädige Frau müßten sich täuschen, meinte er; dieser Stoff sollte eigentlich sechs Franken fünfzig kosten; ihn für fünf Franken abzugeben sei völlig unmöglich. Sicherlich handle es sich da um eine andere Sorte.

»Nein, nein!« beharrte sie mit dem Eigensinn der Bürgersfrau, die nicht zugeben will, daß sie sich geirrt haben könnte. »Es ist der gleiche Stoff, vielleicht sogar noch etwas stärker als dieser.«

Die Auseinandersetzung wurde erregter, Baudu unterdrückte nur mehr mühsam den Ärger, der bereits in seinem galligen Gesicht aufzusteigen begann. Die Erbitterung gegen das »Paradies der Damen« schnürte ihm fast die Kehle zu.

»Sie müssen mich schon etwas besser behandeln«, sagte Frau Bourdelais schließlich, »sonst gehe ich auch hinüber wie die andern.«

Als Baudu dies hörte, verlor er den Kopf, und seine Wut machte sich in dem Aufschrei Luft:

»Nun, so gehen Sie doch!«

Sie erhob sich tief verletzt und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Nun herrschte allgemeine Bestürzung; selbst Baudu war betroffen von dem, was er da eben gesagt hatte. Der Satz war ihm unwillkürlich entschlüpft, in einem Ausbruch seines lang unterdrückten Zorns. Stumm, mit hängenden Armen, sahen sie nun alle Frau Bourdelais nach, wie sie über die Straße ging. Es war ihnen, als nehme sie ihr aller Glück mit. Als sie beim »Paradies der Damen« eintrat und sich in der Menge verlor, murmelte der Tuchhändler:

»Noch eine, die sie uns genommen haben!«

Dann wandte er sich zu Denise. Er wußte, daß sie wieder drüben eintreten sollte, und sagte:

»Dich haben sie sich auch zurückgeholt. Geh nur, ich bin dir nicht böse. Sie haben das nötige Geld, also sind sie die Stärkeren.«

 

Eben hatte Denise in der Hoffnung, Geneviève könnte Colomban nicht gehört haben, ihrer Kusine zugeflüstert:

»So freuen Sie sich doch, er liebt Sie ja!«

Aber das Mädchen erwiderte leise im Ton tiefsten Schmerzes:

»Warum lügen Sie mich an? Sehen Sie selbst, er schaut ja fortwährend hinauf! Ich weiß, daß sie ihn mir gestohlen haben, wie sie uns alles stehlen.«

Und sie setzte sich neben ihre Mutter auf das Bänkchen hinter der Kasse.

Frau Baudu hatte ohne Zweifel erraten, welchen Schlag ihre Tochter erhalten hatte, denn ihre Blicke gingen zwischen Colomban und dem »Paradies der Damen« hin und her. Ja, wirklich, sie stahlen ihnen alles: dem Vater das Vermögen, der Mutter ihr Kind, der Tochter den Verlobten, auf den sie zehn Jahre gewartet hatte.

Beim Anblick dieser Familie, die so sichtlich dem Untergang entgegenging, packte Denise das Mitleid, und sie kam sich einen Moment sehr schlecht vor. War sie nicht auch wieder im Begriff, mit Hand an die Maschine zu legen, die diese armen Leute vernichtete? Allein sie fühlte sich wie von einer unwiderstehlichen Macht fortgerissen, sie wußte, daß sie nichts Böses tat.

»Ach was«, rief Baudu, um sich selber Mut zu machen, »eine Kundin geht, und zwei andere kommen. Gib nur acht, Denise, ich habe hier siebzigtausend Franken, die deinem Herrn Mouret noch manche schlaflose Nacht bereiten sollen. Und ihr, Kinder, seid vergnügt, macht bloß nicht solche Leichenbittermienen!«

Es wollte ihm indessen nicht gelingen, die Seinen aufzuheitern, und so verfiel auch er wieder in seinen stillen Kummer. Gemeinsam starrten sie auf das Ungeheuer da drüben. Eben hielten vor dem Warenabgang acht Wagen, die eilends von den Laufburschen vollgeladen wurden. Die grünen Felder der Wagen mit ihren gelben und roten Einfassungen glänzten im hellen Sonnenschein wie Spiegel und warfen ihren blendenden Widerschein bis herüber in die Tiefe des »Vieil Elbeuf«. Schwarz livrierte Kutscher hielten straff die Zügel ihrer prächtigen Pferde, die ungeduldig mit den Hufen scharrten und an ihrem blankgeputzten Zaumzeug kauten. Sooft einer der Wagen beladen war, entfernte er sich mit einem hellen Rollen, unter dem all die benachbarten kleinen Läden zu erzittern schienen. Zweimal täglich mußten die Baudus sich das ansehen, und dieser Triumphzug brach ihnen das Herz.

Kapitel Ein­hundert­drei

Am 14. März, einem Montag, wurden im »Paradies der Damen« die neuen Geschäftsräume durch eine große Ausstellung von Sommermodeartikeln eingeweiht, die drei Tage dauern sollte. Draußen ging ein frischer Wind, und die Leute, überrascht von dieser plötzlichen Wiederkehr des Winters, hüllten sich enger in ihre Mäntel und gingen rasch vorüber. Hinter den geschlossenen Türen der benachbarten Läden herrschte große Aufregung, man konnte hinter den Fensterscheiben die verbitterten Gesichter sehen, mit denen die Kaufleute die ersten Wagen zählten, die vor dem neuen Eingang in der Rue Neuve- Saint-Augustin vorfuhren. Mit Ausnahme der Seite nach der Rue du Dix-Décembre, wo die Immobilienbank bauen wollte, nahm der Koloß jetzt den ganzen Häuserblock ein. Man hatte die Höfe mit Glas überdacht und in Hallen verwandelt. Der Architekt, ein kluger junger Mann, besessen vom Geist der Zeit und allem Neuen zugetan, hatte großzügig Raum geschaffen, Luft und Licht hatten ungehinderten Zutritt. Es war eine Kathedrale des neuzeitlichen Handels, kraftvoll und beschwingt zugleich, gerüstet zur Aufnahme eines ganzen Volkes von Kunden. Neununddreißig Abteilungen und achtzehnhundert Angestellte, darunter zweihundert Frauen, zählte das Haus jetzt. Es war eine ganze Welt für sich unter diesen weiten, hallenden Gewölben.

Schon um sechs Uhr war Mouret zur Stelle, um seine letzten Anordnungen zu treffen. Ihn beherrschte nur der eine Gedanke: sich die Frauen zu unterwerfen, sie durch galante Aufmerksamkeiten zu betäuben, ihre Begierden aufzustacheln und sie dann auszubeuten. Tag und Nacht sann er über neue Pläne und Erfindungen nach. Um den Damen die Mühe des Treppensteigens zu ersparen, hatte er zwei mit Samt ausgeschlagene Aufzüge einrichten lassen. Dann hatte er ein Büfett eröffnet, wo man Erfrischungen umsonst verabreichte, ferner einen Lesesaal, eine riesige Galerie, mit allem Aufwand möbliert. Da er aber auch die weniger gefallsüchtigen Frauen umgarnen wollte, kam er auf den Gedanken, die Mutter auf dem Weg über das Kind zu gewinnen. Er schuf eigene Abteilungen für Knaben und Mädchen, hielt die Mütter im Vorübergehen an, indem er den Kleinen Bilder und Ballons überreichen ließ, rote Luftballons, auf denen der Name seines Geschäftes zu lesen stand und die bald in allen Straßen für ihn Reklame machten.

Seine entschiedene Stärke war die Art, wie er die Öffentlichkeit bearbeitete. Er gab jährlich dreihunderttausend Franken für Kataloge, Inserate und Plakate aus. Allein jetzt vor der großen Schau der Sommerartikel hatte er zweihunderttausend Kataloge verschickt, darunter fünfzigtausend in den verschiedensten Sprachen ins Ausland. Das »Paradies der Damen« sprang der ganzen Welt in die Augen, empfahl sich in allen Zeitungen, an allen Mauern. Mouret handelte nach der Erkenntnis, daß Reklame alles sei, daß das Publikum widerstandslos der Lärmtrommel folge.

Er ging noch weiter. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß Frauen der Versuchung, billig zu kaufen, nicht widerstehen können, daß sie auch Dinge erstehen, die sie überhaupt nicht brauchen, wenn sie nur ein gutes Geschäft zu machen glauben. Auf dieser Wahrnehmung baute er sein System der herabgesetzten Preise auf; er ging bei schwer verkäuflichen Artikeln immer weiter herunter, denn er wollte lieber mit Verlust verkaufen als gar nicht, getreu seinem Grundsatz, daß das Kapital so schnell wie möglich umgeschlagen werden müsse. Schließlich kam er gar noch auf den Einfall einer »Rücknahmegarantie«, ein Meisterstück der Verführungskunst. »Nehmen Sie nur«, pflegte er zu sagen; »Sie geben uns die Ware zurück, wenn Sie Ihnen nachher nicht gefällt.« Und die Kundin, die allen anderen Lockmitteln zu widerstehen wußte, fand hierin zu guter Letzt eine Entschuldigung, sie durfte sich nun jede Torheit gestatten. Als unerreichbarer Meister zeigte sich Mouret auch in der inneren Organisation des Hauses. Es galt bei ihm als Gesetz, daß nicht ein Winkelchen im »Paradies der Damen« leerbleiben dürfe. Er wollte überall Geräusch, Bewegung, Leben sehen; »denn Leben«, sagte er, »zieht neues Leben an«. Vor allem mußte es gleich am Eingang ein Gedränge geben; die Leute auf der Straße mußten glauben, daß drinnen der reinste Aufruhr herrsche. Diese Wirkung erzielte er dadurch, daß er unter der Tür ganze Kisten und Körbe voll billiger Ramschartikel aufhäufen ließ; so wurde die Menge angelockt, sie versperrte den Zugang, und man glaubte, die Räume seien zum Brechen voll, während Sie in Wirklichkeit oft halbleer waren. Abteilungen, die im Augenblick kein Geschäft versprachen, wie Schals im Sommer und leichte Baumwollstoffe im Winter, wußte er mit naturgemäß stärker besuchten zu umgeben und im Getümmel verschwinden zu lassen. Er war es auch, der auf den Gedanken gekommen war, die Abteilungen für Teppiche und Möbel in den zweiten Stock zu verlegen; sie zogen weniger Kunden an und hätten im Erdgeschoß ein leeres, kaltes Loch dargestellt. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er bestimmt die Straße mitten durch sein Warenhaus geführt.

Am Samstagabend, als Mouret einen letzten Blick auf die Vorbereitungen zu dem großen Sonderverkauf geworfen hatte, der am Montag beginnen sollte und zu dem man sich schon seit einem Monat rüstete, war ihm plötzlich die Erkenntnis gekommen, daß die von ihm getroffene Anordnung der Abteilungen nichts tauge. Zwar war sie durchaus folgerichtig: auf einer Seite die Stoffe, auf der ändern Seite die Konfektionsartikel, eine vernünftige Einteilung, die es den Kunden ermöglichte, alles, was sie brauchten, selber zu finden. Früher, in dem engen Laden von Frau Hédouin, hatte er immer von einer solchen Ordnung geträumt; doch jetzt, da er diesen Traum verwirklicht sah, war er davon nicht befriedigt. Ganz plötzlich entschloß er sich, alles wieder über den Haufen zu werfen. Man hatte nur mehr achtundvierzig Stunden Zeit, und es handelte sich darum, mit ganzen Abteilungen zu übersiedeln. Das bestürzte, gehetzte Personal verbrachte zwei Nächte und den Sonntag in einem furchtbaren Durcheinander. Selbst am Montagmorgen, eine Stunde vor der Eröffnung, waren manche Waren noch nicht an Ort und Stelle. Der Chef war offenbar verrückt geworden, niemand kannte sich mehr aus, die Verblüffung war allgemein.

»Vorwärts! Beeilt euch!« rief Mouret mit seiner gewohnten ruhigen Sicherheit. »Da sind noch Kostüme, die müssen nach oben. Ist die japanische Abteilung auf dem mittleren Treppenabsatz schon fertig? Greift zu, Kinder! Ihr sollt sehen: das gibt einen Verkauf!«

Auch Bourdoncle war seit Tagesanbruch zur Stelle. Er begriff das alles so wenig wie die übrigen, und seine Blicke folgten besorgt dem Tun und Treiben des Chefs. Er wagte nicht, ihn zu fragen, denn er wußte genau, wie das in solchen kritischen Momenten von Mouret aufgenommen wurde. Endlich aber entschloß er sich doch und meinte vorsichtig:

»War es wirklich notwendig, knapp vor Verkaufsbeginn alles noch einmal durcheinanderzuwerfen?«

Zuerst zuckte Mouret die Achseln, ohne zu antworten. Als indessen Bourdoncle bei seiner Frage beharrte, brach er los:

»Wäre es Ihnen lieber, daß die Kunden sich alle auf einem Fleck drängen? Das war der reinste Schulmeistereinfall. Ich hätte es mir niemals verziehen, wenn ich dabei geblieben wäre! Begreifen Sie nicht? Da kommt eine Frau herein, geht zielsicher dorthin, wohin sie will, von der Wäsche zu den Kleidern, von den Kleidern zu den Mänteln und schließlich wieder hinaus, ohne sich auch nur ein bißchen zu verirren. Nicht eine einzige hätte unsere Räume vollständig gesehen!«

»Aber«, bemerkte Bourdoncle weiter, »jetzt, wo Sie alles durcheinandergeworfen haben, werden die Angestellten sich die Beine müde laufen, um die Damen von Abteilung zu Abteilung zu führen.«

»Was kümmert mich das!« rief Mouret. »Sie sind jung, es wird ihnen bestimmt nichts schaden. Außerdem sieht's dann nach um so mehr aus. Hauptsache, es gibt ein Gedränge – dann geht alles gut!«

Er lachte zuversichtlich und ließ sich herbei, dem andern mit gedämpfter Stimme seine Gedanken zu entwickeln.

»Überlegen Sie nur, das Ergebnis liegt doch auf der Hand: Erstens wird dieses fortwährende Kommen und Gehen die Kunden nach allen Winkeln der Geschäftsräume führen, es wird scheinbar ihre Anzahl verdoppeln und verdreifachen, und sie werden dabei den Kopf verlieren. Zweitens wird ihnen das Haus viel größer erscheinen, als es ist, wenn man sie vom einen Ende des Geschäfts zum andern wird führen müssen, damit sie erst einen Kleiderstoff, dann das Futter und schließlich die Zutaten bekommen. Drittens sind sie auf diese Weise genötigt, durch Abteilungen zu gehen, in die sie sonst keinen Fuß gesetzt hätten; im Vorübergehen werden Versuchungen sie festhalten, sie werden unterliegen. Viertens … «

Jetzt lachte auch Bourdoncle. Mouret war entzückt und unterbrach sich, um einigen Laufburschen zuzurufen:

»Sehr gut so! Nun rasch noch auskehren, und alles steht im schönsten Glanze da!«

Als er sich umwandte, erblickte er Denise. Er und Bourdoncle befanden sich eben vor der Konfektionsabteilung, die Mouret hatte teilen lassen; Kleider und Kostüme waren nun im zweiten Stock am andern Ende des Geschäfts untergebracht. Denise, die als erste heruntergekommen war, machte große Augen. Sie kannte sich nicht mehr aus.

»Wie?« sagte sie, »hier ist großer Umzug?«

Ihre Verwunderung schien Mouret, der solche Überraschungen liebte, Spaß zu machen. In den ersten Tagen des Februar war Denise beim »Paradies der Damen« wieder eingetreten, wo sie zu ihrem freudigen Erstaunen fand, daß das Personal sich höflich, fast achtungsvoll benahm. Besonders Frau Aurélie zeigte sich wohlwollend ihr gegenüber; Marguerite und Claire schienen entwaffnet, selbst Vater Jouve benahm sich sehr ergeben und tat alles, um das unangenehme Abenteuer von einst vergessen zu machen. Ein Wort von Mouret hatte all dies bewirkt; und schon entstand ein Geflüster, man blickte ihr nach, wo immer sie ging. Angesichts dieser allgemeinen Liebenswürdigkeit war sie nur etwas verletzt durch die seltsame Niedergeschlagenheit, die Deloche zur Schau trug, und durch das rätselhafte Lächeln Paulines.

Mouret blickte sie noch immer mit seiner entzückten Miene an.

 

»Was suchen Sie, Fräulein?« fragte er sie endlich.

Denise, die seine Anwesenheit noch gar nicht bemerkt hatte, errötete leicht. Seit sie zurückgekehrt war, begegnete er ihr mit einer Güte, die sie rührte. Pauline hatte ihr — sie wußte nicht, weshalb — die Liebschaft des Chefs mit Claire in allen Einzelheiten erzählt, wo er mit ihr zusammenkam, wieviel er ihr bezahlte und so weiter. Sie kam oft auf dieses Thema zu sprechen und berichtete ihr auch, daß er noch eine andere Geliebte habe, diese Frau Desforges, die das ganze Geschäft kenne. Solche Geschichten verwirrten Denise, sie wurde in seiner Gegenwart wieder von ihrer früheren Beklemmung erfaßt, von einem Unbehagen, in dem Dankbarkeit und Groll gegeneinander kämpften.

»Hier ist ja alles verändert«, erwiderte sie schließlich.

Mouret trat näher zu ihr heran und flüsterte ihr zu:

»Heute abend nach Geschäftsschluß kommen Sie in mein Arbeitszimmer, ich habe mit Ihnen zu reden.«

Sie neigte verlegen den Kopf und wußte nicht, was sie sagen sollte. Dann ging sie in ihre Abteilung, wo auch die anderen Verkäuferinnen sich schon einfanden. Bourdoncle aber hatte Mouret verstanden und schaute ihn lächelnd an. Als sie allein waren, wagte er die Bemerkung:

»Jetzt die auch noch? Nehmen Sie sich in acht! Mit der wird es Ernst!«

Mouret wehrte lebhaft ab und suchte seine Erregung unter einer sorglosen Miene zu verbergen.

»Lassen Sie's gut sein, das ist doch alles nur Scherz! Die Frau, die mich dauernd fesseln könnte, ist noch nicht geboren.«

Bourdoncle schüttelte den Kopf. Diese Denise, so sanft und einfach sie war, begann ihm Sorge zu machen. Einmal hatte er gesiegt, indem er sie plötzlich vor die Tür setzte. Aber sie war wiedererschienen, und er sah sie in ihrer Stellung dermaßen gefestigt, daß er sie als eine ernste Gegnerin betrachtete.

Endlich wurde geöffnet, und der Strom der Kunden setzte ein. Gleich in der ersten Stunde, noch ehe die dahinterliegenden Geschäftsräume sich gefüllt hatten, enstand unter dem Eingang ein solches Gedränge, daß die Polizei einschreiten mußte, um den Bürgersteig für den Verkehr freizuhalten. Mouret hatte richtig gerechnet: eine geballte Masse von Köchinnen, Haushälterinnen und kleinen Bürgersfrauen stürzte sich auf diese billigen Artikel, man stieß und drängte sich, ein dichter Menschenknäuel balgte sich um die Waren.

Den ganzen Vormittag dauerte dieses Getriebe an. Gegen ein Uhr mußten die Käufer sich schon anstellen. Die Straße war von Menschen versperrt wie bei einem Volksaufstand.

Frau von Boves und ihre Tochter Blanche warteten auf dem Bürgersteig gegenüber, als sie auf Frau Marty stießen, die gleichfalls von ihrer Tochter Valentine begleitet war.

»Ist das ein Gedränge!« sagte Frau von Boves. »Die Leute bringen einander ja um. Ich wollte eigentlich gar nicht kommen, ich lag zu Bett, aber ich bin dann doch aufgestanden, um etwas frische Luft zu schöpfen.«

»Genau wie ich«, erklärte die andere. »Ich habe meinem Mann versprochen, seine Schwester am Montmartre zu besuchen. Im Vorübergehen ist mir eingefallen, daß ich ein Paar Schnürbänder benötige. Schließlich kann ich sie ebenso gut hier kaufen wie woanders. Ich gedenke keinen Sou mehr auszugeben, ich brauche ja auch nichts.«

Indessen ließ sie kein Auge vom Eingang. Unwillkürlich hatte der Sog sie bereits erfaßt.

»Halt dich an meinem Kleid fest, Valentine«, sagte Frau Marty.

»Ach, mein Gott, so etwas habe ich noch nicht gesehen; man wird ja davongetragen! Wie wird es erst da drinnen aussehen?«

Einmal von dem Strom fortgerissen, konnten die Damen nicht mehr zurück. Sie kamen nur sehr langsam vorwärts und waren dermaßen eingepfercht, daß ihnen fast der Atem verging, was ihre Neugier noch erhöhte.

»Ich fürchte, mein Rock überlebt das nicht«, sagte Frau von Boves.

Frau Marty erhob sich auf die Fußspitzen, um über die Köpfe der anderen hinwegsehen zu können. Die Pupillen ihrer großen Augen waren zusammengezogen wie die einer Katze, die aus dem hellen Sonnenlicht in einen finsteren Raum kommt. Sie schien nichts unterscheiden zu können, ihr Blick war leer wie der einer Schlafwandlerin.

»Ach, endlich«, sagte sie dann mit einem Seufzer der Erleichterung.

Jetzt hatten die Damen sich losgemacht. Sie befanden sich in der Halle an der Rue Neuve-Saint-Augustin. Wie groß war ihre Überraschung, als sie sie fast leer fanden! Ein unnennbares Behagen bemächtigte sich ihrer. Es war ihnen, als träten sie aus dem Winter der Straße in den Frühling ein. Während draußen noch der eisige Märzwind wehte, verspürte man in diesen Gängen schon den lauen Hauch der wärmeren Jahreszeit mit ihren leichten Stoffen, den blütenhaften Glanz der zarten Farben, die ländliche Heiterkeit der Sommermoden und der Sonnenschirme.

»Schauen Sie nur!« rief Frau von Boves entzückt.

Sie standen vor einer Ausstellung von Sonnenschirmen. Weit aufgespannt, gewölbt wie Schilde, nahmen sie bis hinauf zum Glasdach die ganze Halle ein – wohin man blickte, ein einziges Meer von Farben.

Frau Marty rang nach Worten, um ihrem Entzücken Ausdruck zu verleihen, aber sie wußte weiter nichts zu sagen als:

»Das ist ja feenhaft!«

Dann suchte sie sich zurechtzufinden und sagte:

»Schnürbänder gibt es in der Kurzwarenabteilung … Ich kaufe mein Schnürband und gehe.«

»Ich komme mit Ihnen«, sagte Frau von Boves. »Nicht wahr, Blanche, wir wollen einmal durchgehen, nichts weiter?«

Allein die Damen waren verloren, sobald sie die Tür hinter sich hatten. Sie wandten sich nach links, weil aber die Kurzwaren anderswohin verlegt worden waren, gelangten sie erst mitten unter die Rüschen und dann zu den Zierkragen und -manschetten. Es war sehr warm in den Gängen, eine wahre Treibhaushitze, durchzogen von dem faden Geruch all der Stoffe. Sie wollten wieder zur Tür zurück, blieben jedoch in der hin und her flutenden Menge stecken. Glücklicherweise kam ihnen der Inspektor Jouve zu Hilfe. Ernst und aufmerksam stand er im Vorraum und faßte jede Frau, die vorüberging, scharf ins Auge, um etwaigen Diebinnen auf die Spur zu kommen.

»Zu den Kurzwaren, meine Damen?« fragte er höflich. »Bitte nach links, dort hinter den Wirkwaren.«

Frau von Boves dankte ihm. Aber als Frau Marty sich umwandte, fand sie ihre Tochter Valentine nicht mehr an ihrer Seite. Sie erschrak, bis sie sie in einiger Entfernung an einem Tisch stehen sah, ganz versunken in den Anblick von Damenkrawatten zu neunzehn Sous, die auf einem langen Tisch aufgehäuft lagen und von den Verkäufern laut angepriesen wurden. Es war dies ein Gedanke von Mouret; er verschmähte auch diese Methode nicht und machte sich lustig über die Leute, die behaupteten, eine Ware müsse für sich selber sprechen. Eine ganze Schar von Pariser Straßenbummlern war damit betraut, solche kleineren Artikel mit lauter Stimme an den Mann zu bringen.

»Mama«, rief Valentine, »sieh doch diese Krawatten! Jede hat in der Ecke einen gestickten Vogel!«

Der Verkäufer pries den Artikel und versicherte, die Krawatten seien aus reiner Seide, der Fabrikant sei darüber bankrott gegangen, und etwas Schöneres und Billigeres bekämen sie nie wieder.

»Neunzehn Sous, ist das möglich?« sagte Frau Marty, genauso entzückt wie ihre Tochter. »Ach was, ich nehme zwei davon, das ruiniert uns nicht.«

Frau von Boves verhielt sich ablehnend. Sie verachtete diese Art von Käufen.

»Und nun rasch mein Schnürband«, sagte gleich darauf Frau Marty, »ich will nichts mehr sehen.«

Doch als sie an den Handschuhen vorbeikamen, wurde sie wieder schwach. Unter dem vollen Licht des Glasdaches prangte hier eine Ausstellung in ganz entzückend lebhaften Farben. Die gleichmäßig aneinandergereihten Tische waren wie Rasenplätze, sie verwandelten die Halle in ein Gartenparterre, in dem Blumen in allen Farben und Abstufungen dem Beschauer entgegenlachten. Was aber die Besucher hier am meisten anzog, war ein Schweizerhäuschen, ganz aus Handschuhen aufgebaut, ein Meisterstück Mignots, das zwei Tage Arbeit gekostet hatte. Schwarze Handschuhe bildeten das Erdgeschoß, dann kamen resedafarbene, strohgelbe, ochsenblutfarbene, welche die Ziegel darstellten, Fenster einrahmten, Balkons andeuteten.