50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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»Aber er hat ja nur einen Arm!« unterbrach plötzlich Baugé ihr Geplauder. »Wie kann er denn dann Waldhorn spielen?«

Pauline, die sich zuweilen über seine Kindlichkeit lustig machte, erzählte ihm, daß der Kassierer sein Instrument an die Wand stütze, und Baugé glaubte es wirklich und fand den Gedanken sehr sinnreich. Als indessen Pauline, wegen des Schwindels von Gewissensbissen gequält, ihm erklärte, wie Lhomme an seinem Armstumpf eine Art Greifhand befestigte, mit der er das Waldhorn hielt, schüttelte er mißtrauisch den Kopf und meinte, einen solchen Bären lasse er sich nicht aufbinden.

»Du bist zu dumm«, rief sie lachend, »aber das macht nichts; ich liebe dich trotzdem!«

Sie kamen gerade vor Abgang eines Zuges zum Bahnhof. Baugé zahlte, allein Denise erklärte, daß sie ihren Anteil an den Ausgaben selbst tragen wolle, am Abend werde man abrechnen. Sie stiegen ein; aus allen Wagen erscholl fröhlicher Lärm. In Nogent verließ eine Hochzeitsgesellschaft unter Lachen und Geplauder den Zug. Als sie in Joinville angekommen waren, begaben sie sich sofort nach der Insel, um das Essen zu bestellen. Dann gingen sie längs des Flusses unter den hohen Pappeln des Marneufers spazieren. Baugé und Pauline hielten sich eng umschlungen, Denise schlenderte hinter ihnen her. Sie hatte eine Handvoll Dotterblumen gepflückt, betrachtete den Strom und fühlte sich glücklich. Von Zeit zu Zeit beugte Baugé sich zurück und küßte Pauline auf den Nacken; wenn Denise es bemerkte, sah sie verschämt zu Boden, und Tränen traten ihr in die Augen. Und doch litt sie nicht unter dem Anblick. Warum war sie nur so beklommen, und warum erfüllte die schöne Landschaft, von der sie sich so viel Vergnügen versprochen hatte, sie mit einem Kummer, den sie sich nicht zu erklären wußte? Beim Essen wurde sie durch das laute Lachen Paulines noch mehr in Verwirrung gebracht. Diese war für ihr Leben gern auf dem Land. Sie aß mit dem Heißhunger des Mädchens, das im Geschäft schlecht ernährt wird; das Essen war ihre schwache Seite, ihr ganzes Geld hängte sie an Kuchen, an halbreifes Obst, an alles, was ihr unter die Hände kam. Da aber Denise fand, daß Eier und Brathuhn genügten, wagte Pauline diesmal nicht, auch noch Erdbeeren zu bestellen, die sie gar so gerne gegessen hätte, die aber zu dieser Jahreszeit noch sehr teuer waren.

»Was wollen wir jetzt anfangen?« fragte Baugé, als der Kaffee gebracht wurde.

Sonst pflegten er und Pauline nachmittags nach Paris zurückzukehren und dort zu Abend zu essen, um den Tag in einem Theater zu beschließen. Heute aber entschlossen sie sich auf Denises Wunsch dafür, in Joinville zu bleiben; das war auch recht lustig, so konnte man das Landleben in vollen Zügen genießen. Den ganzen Nachmittag strichen sie durch Wald und Flur. Einen Augenblick dachten sie an eine Kahnfahrt; dann ließen sie den Gedanken fallen, weil Baugé nicht gut rudern konnte. Indessen hielten sie sich immer am Ufer und belustigten sich am Anblick der zahlreichen Fahrzeuge aller Art, die den Fluß bevölkerten. Als die Sonne zur Neige ging, schickten sie sich an, nach Joinville zurückzukehren. In diesem Augenblick vernahmen sie einen lauten Streit; er kam vom Wasser her, wo die Insassen zweier Boote, die einander den Rang abzulaufen suchten, sich mit Schimpfnamen bewarfen. Spottrufe wie »Tintenkleckser« und »Ladenschwengel« flogen herüber und hinüber.

»Schau!« rief Pauline, »da ist ja Herr Hutin!«

»Ja«, fiel Baugé ein, »ich erkenne sein Boot wieder; in dem andern scheinen Studenten zu sein.«

Und er erklärte den beiden Mädchen, daß es an allen öffentlichen Orten stets von neuem zu Streitigkeiten zwischen den Studierenden und den Verkäufern komme.

Als Denise den Namen Hutins gehört hatte, war sie plötzlich stehengeblieben. Sie folgte mit aufmerksamen Blicken dem schmalen Boot, das mit großer Geschwindigkeit dahinschoß. Sie suchte den jungen Mann unter den Ruderern, aber sie konnte nichts unterscheiden als die verschwommenen Umrisse zweier Frauengestalten, von denen eine am Steuer saß und einen roten Hut trug.

Am Abend kehrten sie in das Restaurant auf der Insel zurück. Doch draußen war es zu kühl geworden, sie mußten in einem der beiden geschlossenen Säle essen. Von sechs Uhr ab herrschte schon ein großes Gedränge, die Kellner schleppten Bänke und Stühle herbei und rückten die Teller zusammen, um recht viele Leute unterbringen zu können. Die Sonne ging jetzt rasch unter, und der Wirt, auf eine so große Gesellschaft nicht vorbereitet, ließ auf jedem Tisch eine Kerze anzünden, weil er nicht genug Lampen hatte. Der Lärm wurde allmählich betäubend, man hörte Lachen und Schreien, vermischt mit dem Geklapper von Tellern und Schüsseln.

»Sind die Leute aber lustig!« sagte Pauline und vertiefte sich in ein Fischgericht, das sie köstlich fand; dann neigte sie sich zu ihrer Begleiterin und fügte leise hinzu:

»Haben Sie Herrn Albert da unten erkannt?«

Es war in der Tat der junge Lhomme in Gesellschaft von drei sehr zweideutigen Frauenzimmern; die eine war ein altes Weib mit einem gelben Hut und dem Gesicht einer Kupplerin, die beiden anderen waren junge Mädchen von dreizehn bis vierzehn Jahren mit schamlosen, lasterhaften Gesichtern. Albert war schon sehr betrunken und rief, er werde dem Kellner einen Fußtritt geben, wenn er nicht sofort Likör bringe.

»Ist das eine saubere Familie!« sagte Pauline; »die Mutter in Rambouillet, der Vater in Paris und der Sohn in Joinville; die treten sich wahrlich nicht auf die Füße.«

In diesem Augenblick erhob sich im Nebenraum ein ungeheurer Lärm, zuerst ein Gebrüll, dann setzte es offenbar Prügel, denn man hörte das Getöse von stürzenden Bänken und Stühlen. Aus all dem Lärm tönten hier und da Schreie hervor:

»Ins Wasser mit den Ladenschwengeln!«

»Die Tintenkleckser ins Wasser, ins Wasser!«

Als der Schankwirt mit seiner groben Stimme endlich den Streit beigelegt hatte, erschien plötzlich Hutin. Er hatte das große, weißgekleidete Mädchen mit dem roten Hut am Arm, das vorhin am Steuer seines Bootes gesessen hatte. Sie wurden bei ihrem Eintritt mit geräuschvollem Beifall und Händeklatschen empfangen. Er warf sich in die Brust, wiegte sich beim Gehen in den Hüften und protzte mit einem blauen Fleck im Gesicht, den ihm die Keilerei eingetragen hatte. Hinter ihm kam die ganze Mannschaft des Bootes. Man eroberte im Sturm einen Tisch, und jetzt ging der Lärm erst richtig los.

»Offenbar haben die Studenten in Hutins Begleiterin eine Ehemalige aus dem Quartier Latin erkannt«, erklärte Bangé. »Jetzt singt sie in einem Tingeltangel am Montmartre. Ihretwegen hat es eben den Streit gegeben.«

»Sie ist recht häßlich mit ihren strohgelben Haaren«, meinte Pauline verächtlich. »Ich weiß nicht, wo Herr Hutin seine Damen aufliest, aber es ist immer eine schmutziger als die andere.«

Denise war blaß geworden, es durchlief sie eiskalt. Schon am Ufer der Marne hatte sie beim Anblick des vorübergleitenden Kahns ein Frösteln überlaufen; jetzt konnte sie nicht länger zweifeln: dieses Frauenzimmer verkehrte mit Hutin. Liebte sie denn den jungen Mann, daß sie darüber so bekümmert war? In ihrer schmerzlichen Verwirrung fand sie keine Antwort auf diese Frage. Mit zusammengeschnürter Kehle und zitternden Händen saß sie da und aß nicht.

»Was haben Sie denn?« fragte ihre Freundin.

»Nichts«, stammelte sie; »es ist hier zu warm.«

Der Tisch, an dem Hutin mit seiner Gesellschaft saß, stand in der Nähe des ihren, und da Hutin Baugé kannte, führte er mit diesem ein lautes Gespräch, um den ganzen Saal zu unterhalten.

»Sagen Sie mal«, rief er, »sind die Verkäufer im ›Bon-Marché‹ noch immer so tugendhaft?«

»So schlimm ist's auch wieder nicht«, erwiderte Baugé verlegen.

»Lassen Sie's gut sein. Dort nimmt man ja nur Jungfrauen, und einen Beichtvater haben sie auch angestellt!«

Alles lachte. Liénard, der mit von der Gesellschaft Hutins war, rief aus:

»Im ›Louvre‹ ist es anders; da ist in der Konfektionsabteilung eine Hebamme angestellt. Auf Ehrenwort!«

Neues, verstärktes Gelächter; selbst Pauline lachte, so drollig fand sie die Sache mit der Hebamme. Aber Baugé war verletzt durch diese Späße über seine Firma und bemerkte nun seinerseits:

»Lassen Sie mich bloß in Ruhe mit dem ›Paradies der Damen‹! Da wird man ja wegen eines Wortes vor die Tür gesetzt! Und dazu ein Chef, der aussieht, als wollte er alle seine Kundinnen für sich allein haben!«

Doch Hutin hörte nicht mehr auf ihn; er war etwas nähergerückt und prahlte, daß ihm die verflossene Woche hundertfünfzehn Franken eingebracht habe, während Favier nur zweiundfünfzig geschafft habe. Eine prächtige Woche war das gewesen! Dafür ließ er heute auch etwas springen und wollte nicht eher zu Bett gehen, als bis die hundertfünfzehn Franken ausgegeben waren. Dann ereiferte er sich und begann über Robineau zu schimpfen, diesen »Schwachmatikus« von einem Zweiten, der so stolz tue, daß er mit seinen Verkäufern nicht einmal über die Straße gehe. Wenn es ja noch der Abteilungsleiter gewesen wäre – aber Robineau!

»Schweigen Sie still«, sagte Liénard. »Sie reden zu viel, mein Lieber!«

Baugé hatte die Rechnung verlangt, weil er sah, daß Denise sich immer unbehaglicher fühlte; allein der Kellner kam und kam nicht, und sie mußte noch eine Zeitlang die Prahlereien Hutins mit anhören. Jetzt brüstete er sich, daß er weit höher stehe als Liénard; denn Liénard lebe von seinem Vater, während er die Früchte seiner eigenen Intelligenz genieße. Endlich hatte Baugé gezahlt, und die beiden Mädchen folgten ihm.

Denise seufzte erleichtert auf. Sie schrieb ihr Unbehagen noch immer dem Mangel an frischer Luft zu. Jetzt atmete sie freier. Als sie aus dem Garten des Restaurants traten, sagte eine schüchterne Stimme im Dunkel:

 

»Guten Abend, meine Damen!«

Es war Deloche. Sie hatten ihn im ersten Saal gar nicht bemerkt, wo er gegessen hatte, nachdem er – »zu seinem Vergnügen«, wie er sagte – zu Fuß aus Paris gekommen war. Als Denise die vertraute Stimme hörte, fühlte sie in ihrem Kummer das Bedürfnis nach einer Stütze.

»Herr Deloche, kommen Sie mit uns«, sagte sie erleichtert; »geben Sie mir Ihren Arm.«

Pauline und Baugé gingen voraus. Sie waren erstaunt, sie hatten nicht geglaubt, daß es so kommen werde, noch dazu mit diesem Burschen! Da man indessen noch eine Stunde bis zum Abgang des nächsten Zuges warten mußte, machte man unter den großen Bäumen am Ufer entlang einen Spaziergang bis zur Inselspitze. Von Zeit zu Zeit wandten Pauline und Baugé sich um und sagten:

»Wo bleiben sie denn?… Ach, da sind sie ja!… Sehr merkwürdig!«

Denise und Deloche waren zuerst schweigend nebeneinander hergegangen. Zu ihrer Rechten floß die Marne dahin, deren Wasserfläche im Dunkel zuweilen wie ein Spiegel schimmerte. Der Wind hatte sich gelegt; sie hörten nichts mehr als das Rauschen des Flusses.

»Ich freue mich so, daß ich Sie getroffen habe«, stammelte endlich Deloche. »Sie wissen nicht, wie glücklich Sie mich damit machen, daß Sie mit mir Spazierengehen.«

Nach einigen verlegenen Worten wagte er – durch das Dunkel ermutigt – das Geständnis, daß er sie liebe. Er hatte es ihr schon längst schreiben wollen; sie hätte es aber vielleicht niemals erfahren ohne die schöne, mitschuldige Nacht, ohne diesen sanft murmelnden Fluß, ohne diese Bäume, die ihr Laubwerk wie schützende Fittiche über sie breiteten. Doch sie antwortete nicht, sie ging mit leicht schwankenden Schritten an seiner Seite einher. Er suchte ihr ins Gesicht zu blicken, als er sie plötzlich schluchzen hörte.

»Mein Gott«, sagte er, »Sie weinen? Fräulein Denise, Sie weinen? Habe ich Sie gekränkt?«

»Nein«, erwiderte sie.

Sie bemühte sich, ihre Tränen zurückzuhalten, vermochte es aber nicht. Schon bei Tisch hatte sie gelaubt, ihr Herz müsse brechen. Jetzt, im abendlichen Dunkel, überließ sie sich ihrem Schmerz; das Schluchzen erstickte sie fast, als sie daran dachte, wie widerstandslos sie wäre, wenn Hutin hier an Deloches Stelle neben ihr ginge und ihr so zärtliche Geständnisse machte. Dieses Bekenntnis, das sie sich endlich ablegte, versetzte sie in höchste Verlegenheit. Eine tiefe Schamröte stieg ihr ins Gesicht, als wäre sie diesem andern, der öffentlich mit seinen Dirnen erschien und Staat machte, bereits in die Arme gesunken.

»Ich wollte Sie nicht beleidigen«, beteuerte Deloche mit flehender Stimme.

»Ich bin Ihnen nicht böse«, sagte sie endlich, »aber ich bitte Sie, sprechen Sie mit mir nicht so wie eben … Was Sie verlangen, ist unmöglich. Sie sind ein guter Junge; ich will Ihre Freundin sein, aber nichts weiter… Hören Sie, Ihre Freundin … «

Er sank sichtlich zusammen. Nachdem sie eine Weile still nebeneinander weitergegangen waren, sagte er:

»Kurz: Sie lieben mich nicht!«

Da sie schwieg, um ihm das kränkende Nein zu ersparen, fuhr er mit bewegter Stimme fort:

»Ich war schon gefaßt darauf. Ich habe kein Glück; ich weiß, daß ich niemals glücklich werden kann. Zu Hause bekam ich immer Prügel, in Paris nichts als Kummer und Leid … Wenn man es nicht versteht, anderen ihre Freundinnen abspenstig zu machen, und nicht fähig ist, so viel Geld zu verdienen wie sie, dann sollte man gleich besser in irgendeinem Winkel verrecken … Beruhigen Sie sich, ich werde Ihnen nicht mehr weh tun. Aber Sie können mir nicht verbieten, Sie trotzdem zu lieben, selbst wenn ich keine Aussicht habe. Das ist mein Los in diesem Leben … «

Nun brach auch er in Tränen aus. Sie tröstete ihn, und im Lauf des Gesprächs zeigte es sich, daß sie aus der gleichen Gegend waren, sie aus Valognes, er aus dem dreizehn Kilometer davon entfernten Briquebec. Sie vergaßen allmählich ihren Kummer und kamen einander in guter Kameradschaft näher.

»Nun?« fragte Pauline und nahm Denise beiseite, als sie auf der Bahnstation angekommen waren.

Denise begriff. Sie erwiderte errötend:

»Niemals, meine Liebe; ich sagte Ihnen ja, daß ich nicht will. Herr Deloche ist aus meiner Heimat, wir haben von Valognes gesprochen.«

Pauline und Baugé standen ganz verblüfft da. Ihre Begriffe verwirrten sich, und sie wußten nicht mehr, was sie denken sollten. An der Bastille verließ Deloche die Gesellschaft; wie alle Verkäufer, die nur gegen Provision angestellt waren, schlief er im Geschäft, wo er um elf Uhr eintreffen mußte. Denise wollte nicht mit ihm zugleich heimkommen; da sie Theaterurlaub genommen und also noch etwas Zeit hatte, begleitete sie Pauline zu Baugé. Um näher bei seiner Geliebten zu sein, hatte dieser sich in der Rue Saint-Roch eingemietet. Man nahm eine Droschke, und Denise war ganz bestürzt, als sie unterwegs erfuhr, daß ihre Freundin die Nacht bei dem jungen Mann bleiben werde. Die Sache sei doch sehr einfach, sagte Pauline; sie gebe Frau Cabin fünf Franken und erkaufe sich damit ihr Stillschweigen; alle machten es so.

Baugé spielte den Gastgeber in seinem Zimmer, das mit alten Möbeln ausgestattet war, die er von seinem Vater erhalten hatte. Er war anfangs sehr ungehalten, als Denise die Abrechnung verlangte, schließlich aber nahm er doch die fünfzehn Franken sechzig an, die sie auf die Kommode gelegt hatte. Dann sollte sie unbedingt noch einen Schluck Tee mit den beiden trinken. Es schlug bereits Mitternacht, als endlich die Tassen eingeschenkt wurden.

»Ich muß jetzt gehen«, sagte Denise wiederholt.

Und Pauline erwiderte darauf:

»Sie können ja bald gehen, die Theater sind doch nicht so früh zu Ende.«

Denise fühlte sich sehr verlegen in diesem Junggesellenzimmer. Sie mußte zusehen, wie ihre Freundin sich bis auf Unterrock und Leibchen entkleidete, das Bett fertigmachte und die Kissen aufschüttelte. Diese Vorbereitungen für eine Liebesnacht brachten sie in Verwirrung, erfüllten sie mit Scham und weckten in ihrem verwundeten Herzen von neuem die Erinnerung an Hutin. Abermals mußte sie sich gestehen, daß sie ihm gegenüber widerstandslos wäre. Um viertel nach zwölf verließ sie die beiden endlich. Sie kam ganz aufgelöst auf die Straße, weil Pauline, als sie ihnen gute Nacht gewünscht hatte, ihr fröhlich zugerufen hatte:

»Danke, die Nacht wird schon gut werden!«

Der Nebeneingang zur Wohnung Mourets und zu den Kammern der Angestellten befand sich in der Rue Neuve-Saint-Augustin. Frau Cabin öffnete jeweils und sah dann hinaus, um festzustellen, wer heimkam. Im Erdgeschoß brannte eine Nachtlampe. Denise stand zögernd und beklommen da; als sie um die Straßenecke gebogen war, hatte sie undeutlich den Schatten eines Mannes eintreten und hinter ihm die Tür sich schließen sehen. Das mußte der Chef gewesen sein, der von einer Gesellschaft zurückkehrte, und der Gedanke, daß er hier irgendwo im Dunkel stehen und auf ihr Erscheinen warten könnte, brachte sie in höchste Verlegenheit. Jetzt bewegte sich etwas im ersten Stock, und sie hörte Schuhe knarren. Da verlor sie vollends den Kopf; sie stieß eine Tür auf, die ins Geschäft führte und die man offenließ, damit die Nachtwache die Runde durch alle Räume machen konnte.

»Mein Gott, was soll ich nur anfangen?« stammelte sie in ihrer Aufregung.

Es kam ihr der Gedanke, daß es oben noch eine zweite Verbindungstür gab, die zu den Kammern der Angestellten führte. Allein dann mußte sie durch das ganze Geschäft gehen. Trotz der Finsternis, die über den Gängen lag, zog sie diesen Umweg vor. Nirgends brannte eine Gasflamme, nur da und dort war ein winziges Öllämpchen angebracht. Sie fand sich indessen zurecht. Die leuchtenden Weißwaren zu ihrer Linken wiesen ihr den Weg. Sie wollte geradewegs die Halle durchqueren, als sie gegen ganze Stapel von Stoffballen stieß, zurückfuhr und nach der Seite auswich. Nun aber wurde sie plötzlich durch ein Schnarchen beunruhigt; es war der Laufbursche Joseph, der hinter den Trauerartikeln schlief. Sie kehrte rasch um, nun schon auf der Flucht. In der Handschuhabteilung mußte sie wieder über schlafende junge Leute hinwegsteigen, und sie hielt sich erst für gerettet, als sie endlich die Treppe erreicht hatte. Allein oben angelangt, in der Konfektionsabteilung, wurde sie von einem neuen Schrecken ergriffen, als sie vor sich eine Laterne erblickte: es waren zwei Feuerwehrleute, die Nachtwache hatten. Als sie näherkamen, flüchtete sie in den Hintergrund der Spitzenabteilung, von wo sie jedoch durch den Klang einer Stimme sofort wieder verscheucht wurde. Es war Deloche; er schlief hier in seiner Abteilung auf einem kleinen Eisenbett, das er sich jeden Abend aufschlug. Er war noch wach, lag mit offenen Augen auf seinem Bett und durchlebte von neuem die süßen Stunden des Abends. Denise hatte indessen endlich die Verbindungstür erreicht und trat auf den Gang hinaus. Hier stieß sie auf Mouret, der mit einer kleinen Wachskerze in der Hand auf der Treppe stand.

»Wie, Sie sind es, Fräulein?«

Sie begann zu stottern und wollte sich damit entschuldigen, sie habe in ihrer Abteilung etwas gesucht. Allein er schien durchaus nicht böse zu sein; er betrachtete sie mit einer Miene, in der sich Wohlwollen und Neugierde zugleich ausdrückten.

»Hatten Sie Theaterurlaub?«

»Ja.«

»Haben Sie sich gut unterhalten? In welchem Theater waren Sie denn?«

»Ich war auf dem Land.«

Da lachte er und fragte mit nachdrücklicher Betonung:

»Allein?«

»Nein, mit einer Freundin«, erwiderte sie hocherrötend.

Er schwieg, aber er betrachtete sie noch immer, wie sie da stand in ihrem ärmlichen schwarzen Kleidchen, mit ihrem Hütchen das mit einem schmalen blauen Band geschmückt war. Sollte dieser Wildling sich am Ende gar zu einem hübschen Mädchen entwickeln? Sie hatte von ihrem Ausflug aufs Land ein frisches Aussehen und war sehr hübsch mit ihren schönen Haaren, die über der Stirn etwas zerzaust waren. Seit sechs Monaten behandelte er sie mit leichtem Spott wie ein Kind und erteilte ihr zuweilen väterliche Ratschläge. Jetzt lachte er mit einemmal nicht mehr, er hatte eine unklare Empfindung, ein Gemisch von Überraschung, Furcht und Zärtlichkeit. Ohne Zweifel hatte ein Liebhaber dieses Mädchen dermaßen verschönt, dachte er und hatte bei dieser Vorstellung das Gefühl, als habe ihn ein Lieblingsvogel, mit dem er zu spielen pflegte, mit dem Schnabel bis aufs Blut gepickt.

»Guten Abend«, flüsterte Denise und setzte ihren Weg fort, ohne eine weitere Bemerkung abzuwarten.

Er sagte nichts, sondern blickte ihr schweigend nach. Dann ging er in seine Wohnung zurück.