Die Zeit auf alten Uhren

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Der blasse Rotschopf mit den ungewöhnlich brennenden Augen indes bleibt irgendwann einmal auf dem Weg einfach stehen, legt seinen Rucksack ab, ehe er sich auf die glitschigen Holzbohlen des engen Steges hockt und sein Lurchi-Salamander-Heftchen aus dem Rucksack zieht und unvermittelt mit dem Lesen beginnt. Und was liest er da? „Man kämpft sich durch den Schneesturm fort und ist auch bald am Unglücksort. Sie schaun hinab und sehen schon den Siebenschläfer, der halb ohnmächtig in der Spalte liegt. Es scheint, er hat was abgekriegt. Wie aber sollen sie den bleichen Siebenschläfer dort erreichen? Sogleich ruft unser Salamander: 'Mäuschen! Fasst euch aneinander!' Und diese bilden voll Geschick mit ihren Schwänzen einen Strick. Zuunterst hängt sich Lurchi dran, dass er den Vetter packen kann. Dann ruft der Lurchi: 'Aufgepasst! Zieht an!' Hoch schwebt die Last. Unkerich hat mit Bedacht eine Angel mitgebracht. Und so kann er ohne Mühen die Säcke auch nach oben ziehen. Mit Siebenschläfer auf dem Schlitten wird jetzt ins Tal hinab geritten. Und Siebenschläfers Abschürfwunden hat der Lurchi schnell verbunden.“

Als aber der Lehrer am Ausgang der Schlucht seine Schüler wieder um sich scharte, fehlte einer. Niemand konnte sagen, wo Furi geblieben war. Man rief seinen Namen, einmal, zweimal, dann brüllten alle zusammen und bekamen Angst, doch der tosende Wasserfall der „Großen Zwing“ verschluckte jeden Ruf. Wo war Furi? Er wird doch nicht …? Man fand nur seine Brille mit dem Kassengestell und seinen leeren, triefnassen Rucksack aus billigem Rupfen.

Furi aber kommt nie mehr zurück, und niemand weiß bis auf den heutigen Tag, wo Furi geblieben und was aus ihm geworden ist. Denn da war kein Lurchi Salamander, der ihm hätte zu Hilfe eilen können, und da war auch kein Seraphim, der tollkühn bereit gewesen wäre, sich abzuseilen. Es hätte wahrscheinlich auch nichts genützt, weil Furi trotz Satan und Ischariot und allen tanzenden Derwischen längst an der Seite von Kara Ben Nemsi Effendi und Trapper Geierschnabel den Rio de la Plata durchschwommen, das Tal des Todes und den Sand des Verderbens hinter sich gelassen und nach Durchquerung der Wüste von Bagdad nach Stambul durch die Schluchten des Balkan im Land der Skipetaren die Pyramide des Sonnengotts bestiegen hatte.

Annla

Vom Himmel grinste der Sommer, als Annla Kaps mit einem Flüchtlingstreck ins Blaue Land kam: aufgeschossen, ausgehungert, dürr, Löcher in den Strümpfen und die Knie aufgeschlagen. Sie mag elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein und stakste auf Fohlenbeinchen durch eine ihr gänzlich rätselhafte Welt, die eigenartig heil geblieben war, ein Stein lag noch immer auf dem anderen, als habe der Krieg sonst wo stattgefunden, nur nicht hier. Mit der Sprache tat sie sich schwer, denn sie stammte von irgendwoher aus dem Osten, eine hässlich gemusterte Kittelschürze hing ihr fetzenweise am mageren Leib, der so gar nichts Mädchenhaftes hatte, die ungewaschenen Haare strähnten ins Gesicht, und sie schaute immer scheu, fast verdruckst von unten, als gebe es dort oben, wohin sie ihren halb schüchternen, halb verstohlenen Blick richtete, etwas Kostbares, von dem sie im Stillen bereits wusste, dass es eines Tages ihr gehören würde. Man hätte sie für ein Zigeunerkind halten können, doch ihre Haut war nicht dunkel, sondern seltsam hell, fast weiß und so durchsichtig, dass man an ihren dünnen Ärmchen die Äderchen bläulich schimmern sah. Es gab Frauen im Blauen Land, die beim Anblick dieses Mädchens das Bedürfnis verspürten, sogleich aus ihren Schuhen zu schlüpfen und diese dem seltsamen Kind anzubieten, das anfänglich in Begleitung einer alten Frau war, von der sie behauptete, sie sei ihre Großmutter. Aber das war, wie man schnell herausgefunden hatte, nicht wahr. Annla hatte keine Eltern mehr, und die alte Frau muss sie wohl auf dem langen Flüchtlingsweg in einem Straßengraben von einem Russen gezerrt und mitgenommen haben, sei es aus Mitleid, sei es, weil man mit einem abgemagerten Kind an seiner Seite unterwegs rascher zu einem Stück Brot kam. Annla war immer hungrig. Viel war es nicht, was man ihr anfänglich zu essen gab, aber es reichte, um sie nicht verhungern zu lassen.

Die Gemeindeverwaltung steckte das eigenartige Wesen, das so gut wie kein Wort Deutsch sprach, zu den Klosterfrauen ins Waisenhaus, wo noch andere Kinder untergebracht waren, deren Herkunft ebenfalls unklar war und die weder Vater noch Mutter noch sonst Verwandte hatten. Kriegswaisen eben. Man kannte das, und es war in jenen Tagen nichts Besonderes für das Blaue Land. Annla musste jetzt zur Schule, aber sie stellte sich derart störrisch an, dass sie zuerst von den anderen Kindern, schließlich vom Lehrer links liegen gelassen wurde. Man konnte zu dem Eindruck kommen, sie habe keinerlei Interesse, die Sprache, das Lesen und Rechnen zu lernen, und sie begnüge sich weiterhin mit ein paar Handzeichen, die ihre Versorgung mit dem Notwendigsten garantierten. Warum also mehr lernen? Hin und wieder steckte ihr eine der Frauen ein Stück Brot oder Käse zu, das sie rasch in ihrer Schürzentasche verschwinden ließ. Die Klosterschwestern gaben sich redlich Mühe mit Annla und schlossen sie in ihre Gebete ein, doch vorerst schien nicht einmal der liebe Gott Interesse an dem ewig hungrigen Mädchen zu haben, das sich oft auf das Weinen als gutes Mittel verließ, um in den Schlaf zu finden. Einzig mit dem alten Bernhardiner der Waisenhausnonnen knüpfte sie eine innige Freundschaft. Jedenfalls trottete das kalbsgroße und über die Jahre unansehnlich gewordene, ständig sabbernde Vieh mit seinen tränenden, blutunterlaufenen Augen brav neben dem Mädchen her und folgte aufs Wort den meist geflüsterten Anweisungen in einer Sprache, die außer dem Hund keiner verstand. Wenn wieder einmal, wie so oft, nach Annla gesucht werden musste, so fand man sie regelmäßig mit Berno in der Tenne, beide eingerollt und schlafend im Heu. Erst als man dem Mädchen erlaubte, mit dem Hund zur Schule zu gehen und ihn während des Unterrichts vor der Türe neben einer Schüssel mit Wasser anzubinden, entwickelte Annla nach und nach Aufmerksamkeit im Unterricht und legte zuletzt sogar einen Lerneifer an den Tag, den ihr zu Beginn des Schuljahres niemand zugetraut hatte. Trotzdem musste sie die Klasse wiederholen. Jetzt war sie nicht nur dürr und hässlich, sondern auch noch eine Sitzenbleiberin. Auch das schien sie nicht weiter zu berühren, denn sobald die Schule aus war und sie im Waisenhaus ihr Mittagessen gierig in sich hineingeschlungen hatte, verschwand sie und streifte mit Berno bis zum Gebetläuten am Abend durch die Wiesen und Felder. In schlichten Träumen dachte sie sich ein schönes Leben aus, bis diese Seifenblasen in ihren Tränen ertranken, und sie wunderte sich, warum sie nicht tot war, wenn sie durch die Scheunen streunte, Spinnennetze zerteilte und Antworten suchte auf die ganz großen Fragen. Sogar singen konnte man sie dabei bisweilen hören, und schließlich stellte eine der Waisenhausnonnen fest, dass das Annla musikalisch war und jeden Ton treffsicher nachsingen konnte.

So kam Annla zum Waisenhaus-Chor, der zu zahlreichen kirchlichen Festen seine allseits geschätzten Auftritte hatte: bei den Maiandachten, bei Hochzeiten und Beerdigungen, an Fronleichnam, beim Besuch des Bischofs, bei der Firmung, an Kirchweih, an Allerheiligen, und im Advent, zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten sowieso. Geleitet wurde der Chor von Schwester Hiltgardis, der Organistin, die, wie es hieß, einmal Musik studiert hatte, ehe sie ins Kloster eingetreten war. Jedenfalls beherrschte sie eine Unzahl von Instrumenten und konnte auf der Quetschkommode ebenso spielen wie auf der Kirchenorgel, der Geige oder dem Alphorn. Hiltgardis nahm von nun an Annla unter ihre Fittiche, und Annla, die zuerst noch misstrauisch war, an den Nägeln kaute und trotzig schweigsam Löcher in den Boden stierte, fasste schließlich doch zaghaft Zutrauen, seit sie beobachtet hatte, dass Hiltgardis nicht zu jenen Nonnen gehörte, die Berno bei jeder Gelegenheit wegscheuchten oder ihm einen Tritt verpassten. Während der Hund vor seiner Schüssel mit Wasser saß, probte drinnen das Flüchtlingskind mit dem Chor. Zuerst kam fast nichts aus ihrem Hals, und manche ältere Chormitglieder fragten sich, weshalb so eine wie die da denn überhaupt im Chor sei. Die könne ja weder reden noch singen. Schwester Hiltgardis aber gab nicht auf, sondern meinte gegenüber der Oberin, irgendetwas werde schon in dem Annla verborgen sein, tief drin, sie wisse nur noch nicht was und wie man es aus ihr heraus kitzle. Die gewöhnlichen Kirchenlieder interessierten das Mädchen aus dem Osten nicht, und sie bewegte nicht einmal die Lippen zum Tedeum. „Großer Gott wir loben dich“ sagte ihr nichts. Überdies wollte sie nicht etwas loben, was sie nicht kannte.

Doch eines Tages, als sie wieder einmal mit Berno herumstreunte und nicht so recht wusste, wie sie den Tag totschlagen konnte, kam sie an der Kirche vorbei und hörte Schwester Hiltgardis auf der Orgel eine bestimmte Melodie spielen, die sie unwillkürlich und ganz gegen ihren Willen mitsummte. Einfach so mitsummte, obgleich sie diese Melodie überhaupt nicht kannte und weiß Gott nie zuvor gehört hatte. Es handelte sich um exakt 46 Takte für Chor, Streicher und Orgel, die auf den 17. Juni 1791 datiert waren und die der Kompositeur für das Fronleichnamsfest zu Baden bei Wien zu einem Zeitpunkt aufs Papier geworfen hatte, da sich sein Weib im neunten Ehejahr auf ihre sechste Niederkunft vorbereitete. Schwester Hiltgardis wusste das natürlich alles, aber Annla Kaps hatte davon nicht einmal den Schatten einer Ahnung. Was hätte ihr auch das Wissen genutzt, dass es sich bei der Melodie, die sie unwillkürlich mitsummen musste, um die Vertonung eines lateinischen Reimgebetes handelte, von dem die einen behaupteten, es stamme aus dem Genua des 13. Jahrhunderts, indes andere Papst Innozenz IV. als Urheber reklamierten. Annla war weder des Lateinischen mächtig noch konnte sie wissen, was eine Motette ist und dass diese Mozart aus der Feder geflossen war. Und zwar knapp ein halbes Jahr vor seinem Tod, während er zugleich an der „Zauberflöte“ und an seinem „Requiem“ arbeitete.

 

Annla jedenfalls betrat, wie von einem Magneten unwiderstehlich angezogen, die Waisenhauskapelle und hörte, wie Schwester Hiltgardis nicht nur auf der Orgel spielte, sondern auch zu der Melodie sang – Worte in einer Sprache, die sie nicht verstand, die sie aber dennoch so magisch anzogen und auf geheimnisvolle Weise verzauberten wie die Melodie selbst: „Ave, ave, verum corpus natum de Maria virgine, vere passum immolatum in cruce pro homine, cujus latus perforatum unda fluxit et sanguine; esto nobis praegustatum in mortis examine, in mortis examine!“ Kaum hatte Schwester Hiltgardis ihr Spiel beendet, als Annla lautstark in Tränen ausbrach und sich schluchzend in eine Kirchenbank warf. Die Nonne verließ daraufhin sogleich die Empore, nahm sich der bitterlich und unaufhaltsam Weinenden an und begleitete sie, die vor Schluchzen kaum laufen konnte, ins Refektorium, indes der alte Bernhardiner mit hängendem Kopf neben den beiden her trottete. Das magere und immer hungrige Kind war nicht zu beruhigen, bis es sich in den Schlaf geweint hatte, und als es am anderen Morgen erwachte, sollte es noch einmal einen Tag und eine Nacht dauern, bis die Tränen endgültig versiegt waren.

Von da an veränderte sich das Annla. Es hörte mit dem Streunen auf und fing an zu lernen. Nach und nach verbesserte sich ihr Deutsch und verlor den harten slawischen Akzent. Als sie von Schwester Hiltgardis eines Tages eine Blockflöte geschenkt bekam, war die Freude übergroß, und das gelehrige Mädchen fiel der Nonnen um den Hals: eine Geste, die noch vor einem halben Jahr völlig undenkbar gewesen wäre. Das erste Lied, das Annla nach wenigen Wochen fehlerfrei spielen lernte, wurde vom Gesang der Nonne begleitet: „Jesu bleibet meine Freude, meines Herzens Trost und Saft, Jesu wehret allem Leide, er ist meines Lebens Kraft …“ Und bald darauf folgte ein zweites Lied, das den Eifer der Schülerin noch steigerte: „Schafe können sicher weiden, wo ein guter Hirte wacht …“ Mehr und mehr behauptete sich Annla nun in der Schule und im Waisenhauschor, fand die vorsichtige, zunächst noch verhaltene, aber sich stetig festigende Anerkennung der anderen Kinder, bis sie schließlich so gut geworden war, dass sie von Schwester Hiltgardis zum ersten Sopran ernannt wurde, denn Annla konnte singen. Und wie. Sie traf nicht nur mühelos und sicher jeden Ton auch in den höchsten Lagen, sondern sie konnte ihn halten trotz ihres mageren Körpers, sie modellierte ihn, gestaltete die Kadenzen, und noch den Schatten eines Akkordes konnte sie zum Klingen bringen. Zwar weckte dies hier und dort offen erkennbaren Neid, doch Annla sonderte sich nun nicht mehr ab, sondern lachte und scherzte wie alle anderen Waisen, spielte mit ihnen, kicherte nach der Probe, machte gemeinsam mit ihnen ihre Hausaufgaben und gab die einstige Verschlossenheit auf, so dass ihr auch zuletzt die Eifersüchtigen ihren Erfolg gönnen mussten. Nur von Berno wollte sie nicht lassen, doch die anderen Kinder hatten sich längst daran gewöhnt, dass Annla ohne Berno nicht zu haben war. Im Laufe der Zeit schlug schließlich auch an, was das stets hungrige Mädchen mit der ihr eigenen Gier in sich hineingeschlungen hatte. Annla nahm an Gewicht zu und stakste nicht länger auf Fohlenbeinchen durch eine fremde Welt, sondern schoss noch einmal in die Höhe und entwickelte sich so, wie es einem Mädchen ihres Alters angemessen war. Ihr Haar war schon lange nicht mehr struppig und hing auch nicht mehr strähnig ins Gesicht, um den Blick zu verstellen, sondern es war stets gepflegt, glänzte vom vielen Kämmen und Bürsten und rahmte mit einer natürlichen Welle ein zunehmend hübscher werdendes Mädchengesicht. Annla wurde weder eine Streberin noch eine Musterschülerin, sondern hatte durchaus ihre schwachen Fächer, doch in Musik überragte sie ihre Mitschüler deutlich. Zur Blockflöte war schließlich eine Violine gekommen, und weil ihr das Spielen der Instrumente so leicht fiel, kam sogar noch der Unterricht an Klavier und Harmonium dazu. Zwar lernte sie das Lesen der Noten, doch in der Regel spielte sie nach Gehör. Das war ihre außergewöhnliche Begabung. Auf diese Art verliebte sie sich schließlich in ein Lied, das aus ihrer masurischen Heimat stammte und von fünf wilden Schwänen erzählte, Schwänen leuchtend weiß und schön, von denen eines Tages keiner mehr gesehen ward. Besagtes Lied erzählte ebenso von fünf jungen Birken, die grün und frisch am Bachesrand wuchsen, von denen aber keine jemals in Blüte stand, es erzählte von fünf jungen Burschen, die stolz und kühn zum Kampf hinaus zogen, und von denen aber keiner mehr nach Hause kam, und schließlich erzählte das traurig schöne Lied aus dem fernen Masuren von den Mädchen. Und das Annla musste immer weinen, wenn die Stelle kam, wo es heißt:

„Wuchsen einst fünf junge Mädchen

schlank und schön am Memelstrand.

Sing, sing, was geschah?

Keins den Brautkranz wand.“

Alles schien seinen guten Weg zu nehmen, bis der alte Bernhardiner eines Tages krank wurde und eingeschläfert werden musste. Da war Annla schon in der Abschlussklasse, und es war zwischenzeitlich sogar mehrfach die Rede davon gewesen, ob man das begabte Kind nicht auf eine weiterführende Schule schicken sollte, wobei Schwester Hiltgardis in ihrem Überschwang sogar ein Musisches Gymnasium vorschlug. Doch Bernos Tod machte all den schönen Zukunftsplänen einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Ja, wenn das Mädchen einen anderen Hund bekommen hätte … Aber den wollte ihr niemand geben, trotz der vielen Köter, die durch die Gassen streunten.

Von einem Tag auf den anderen wurde Annla wieder bockig, verstockt und stumm. Es war, als habe jemand einen Schalter umgelegt. Flöte und Violine lagen unbenutzt in der Ecke, Annla schwänzte den Unterricht und die Chorprobe und streifte diesmal nicht mehr durch die Felder, sondern trieb sich im Städtchen in der Bahnhofsgegend herum, wurde am Flussufer mit einer Flasche Bier in der Hand gesehen und interessierte sich nicht länger für Motetten und Kantaten, sondern für Jungs mit Mopeds und Motorrädern. Das abendliche Gebetläuten überhörte sie geflissentlich, und sie kam und ging, wann immer es ihr passte. Auf den angedrohten Hausarrest pfiff sie. Statt der Begeisterung für das „Ave verum“ gab es für Schwester Hiltgardis jetzt gereizte Widerworte und patzige Antworten. Je rüpelhafter Annla wurde, desto mehr wurde sie sich ihres wachsenden Körpers bewusst. Bald registrierte sie mit Genugtuung die Blicke der Jungs auf Beine, Po und Brust. Dabei entwickelte sie eine erste Ahnung von Macht, wenn sie herausfand, wie sehr sie mit den jungen Männern spielen konnte, wie bereitwillig sie nach ihrer Pfeife tanzten und wie diese von ihren ständig wechselnden Launen abhingen, denn mal konnte sie zuckersüß sein, dann wieder kratzbürstig und grob.

Die Waisenhausnonnen wussten natürlich, was mit Annla geschah und was in ihr vorging, denn sie hatten derlei immer wieder erlebt. Nachdem das koketter werdende Mädchen die Schule abgeschlossen und sich, sehr zum Bedauern von Schwester Hiltgardis, gegen eine weiterführende Ausbildung entschlossen hatte, gab man sie in der Käserei in die Lehre. Das Ziel hieß jetzt Käsereigehilfin. Annla jedoch fühlte sich von Anfang an nicht wohl bei dieser ewig nassen Arbeit, sie hatte einfach keine Lust, die Bottiche zu reinigen, die schweren Laibe zu heben, mit der Milch herumzuplanschen und außerdem noch die Berufsschule zu besuchen. Ständig spürte sie einen Ekel in sich und mied bald alles, was nur im Entferntesten mit Milch zu tun hatte. Deshalb wollte sie so schnell wie möglich weg aus der Käserei.

Sie wollte zum „Gockelwirt“, der ihr angeboten hatte, jederzeit als Kellnerin bei ihm anfangen zu können. Es dauerte nicht lange, bis sie die Lehre abbrach und dem Lockruf der Gastronomie folgte. Zuerst begann sie als Spülerin, dann putzte sie Gemüse und Salat, half in der Küche aus, doch nach und nach arbeitete sie sich in die Gaststube vor und machte sich bald hier und dort unentbehrlich, denn plötzlich konnte Annla wieder zupacken und fleißig sein. Kein Abend dauerte ihr mehr zu lang. Beim „Gockelwirt“ gab es immer etwas zum Lachen, hier hörte man derbe Sprüche und Musik, und mehr als einmal wurden ihr vielsagende Blicke zugeworfen, hier war sie in Gesellschaft der Männer, hier fühlte sie sich wohl. Der Wirt war recht zufrieden mit seiner neuen Küchen- und Schankhilfe, an der sich mancher seiner Stammgäste gerne die Hand abgewischt hätte. Annlas Anblick steigerte den Umsatz, und das Mädchen verdiente sein erstes Geld, das weitaus mehr war als das magere Lehrlingsgehalt in der Käserei, von dem sie sich nicht einmal ein bisschen neueste Mode oder ab und zu ein Paar Schuhe mit höherem Absatz leisten konnte. Zwar wohnte sie nach wie vor im Waisenhaus, doch das änderte sich, als der Wirt der Oberin anbot, das Annla könne doch die Dachkammer beziehen, die er eigens habe frisch herrichten lassen. Die Oberin aber bestand darauf, dass bis zum achtzehnten Geburtstag gewartet werden musste. Als es endlich soweit war, packte Annla ihr Köfferchen, gab den Nonnen frech grinsend die Hand und meinte beim Verlassen des Waisenhauses wie nebenher zu Schwester Hiltgardis, Blockflöte und Violine habe sie auf dem Bett zurückgelassen, sie könne die Instrumente behalten oder einem anderen dummen Kind geben, denn sie brauche sie nicht mehr, sie sei auch nicht mehr fromm, und ab jetzt werde eine richtige Musik gespielt.

Das geschah ein paar Wochen vor Christi Himmelfahrt. Als der von den Männern des Blauen Landes alljährlich heiß ersehnte Vatertag endlich da war, stand Annla in aller Herrgottsfrühe auf, um dem Wirt bei den Vorbereitungen zur Hand zu gehen, denn alle Welt weiß, dass es an einem Tag wie diesem nur einen Gewinner geben würde, und das war, das ist und das bleibt wie immer der Gastwirt. An keinem anderen Tag im Jahr wurde so viel Bier ausgeschenkt wie am Vatertag. Das wusste auch Annla, und sie freute sich auf die derben Sprüche, die zweideutigen Scherze, das dreckige Gelächter und die übergriffigen Hände der jungen und der alten durchaus rechtschaffenen Männer, die sich darauf verstanden, Holz zu spalten, Rösser zu beschlagen, Mauern hochzuziehen, Sensen zu wetzen und die Liebe nur als etwas Grobes kannten, das sich auf wenige harte Gesten beschränkte. Denen würde sie schon zeigen, was sie konnte, was es mit ihr auf sich hatte und dass sie genau wusste, wie sie ihre Wäschetruhe füllen würde. Deshalb zog sie sich auch ein besonders hübsches Dirndl an, weil sie wusste, dass ein Blick in den Ausschnitt die Bauerntölpel noch durstiger macht, was ihr wiederum ein Tätscheln des Gockelwirtes eintragen wird. Das war seine Art, Zufriedenheit auszudrücken.

Und weil der Mai nicht kühl und nass gewesen war, wie es die Bauernregel eigentlich vorschreibt, sondern schon hochsommerlich warm, waren auch die mittlerweile gut gewachsenen Beine des Mädchens ein wenig von der Sonne gebräunt, so dass das Annla auf Strümpfe verzichten konnte. Das Mädchen aus dem Osten band sich die Kellnerinnenschürze um, unter der sie die Geldbörse verstaute, dann wartete sie auf die ersten Gäste, die noch während des Gottesdienstes, wenn der Pfarrer zum Predigen auf die Kanzel stieg, den Weg zum „Gockelwirt“ fanden. Schon gingen die ersten Krüge über den Tisch, und schon bekam Annla jene Temperatur, die sie besonders empfänglich machte für die dumpf verschlagenen Blicke der Mannsbilder mit ihren vierschrötigen, vom Bier und vom frühen Sommer erhitzten Schädeln. Über die Mittagszeit nahm das Geschäft zu, und Maß für Maß und Schweinebraten um Schweinebraten musste aus der Küche in die Gaststube auf die Wirtshaustische gebracht werden. Die Sonne stach vom Himmel, und auch die Honoratioren, die ihr stur standhielten und sich am Stammtisch um den Geistlichen Rat versammelt hatten, wischten sich mit ihren gestärkten weißen Taschentüchern den Schweiß von der Stirn und bestellten sich zur Feier des Tages sicherheitshalber noch eine Maß Bier, denn auf einem Bein kann man bekanntlich nicht stehen. Es wurde politisiert und geschachert, die nächsten Hochzeiten wurden eingefädelt und der Viehhandel ausgeschnapselt, ein Wort gab das andere, und das Annla kam mit dem Bedienen kaum nach, so durstig war die Gesellschaft. Trotz der vielen Arbeit entging ihr freilich nicht, dass sogar Hochwürden einen Blick in ihren Ausschnitt riskiert hatte, als sie sich besonders weit vorbeugen musste, um dem Geistlichen Herrn seinen Krug vor seinen Prälatenbauch zu schieben.

Das erfüllte sie mit Freude und Genugtuung, denn sie war ein kluges Mädchen, das verstanden hatte, worauf es im Leben ankam. Es kam nämlich nicht darauf an, dass man im Waisenhauschor als erster Sopran bei den Hochzeiten herzzerreißend das „Ave Maria“ singen konnte, sondern es kam auf jene Dinge an, die nicht einmal im Kino zu sehen waren, und die man eben wusste oder nicht. Auch Annla schwitzte, und der Schweiß ließ die Haut der Achtzehnjährigen glänzen, gab dem Gesicht ein paar feurige Wangen und trieb die Hitze ins Herz. Und während sich die Hitze in das Herz des Mädchens aus dem Osten senkte, rutschte sie in den Lederhosen der Mannsbilder beim Anblick der herausfordernd hübschen Kellnerin immer tiefer, besonders dann, wenn sie ihr weißes Schürzchen lüftete und die schwarze Geldtasche hervorholte, in welche sie mit ihren geschickten Händen Münzen und Scheine verschwinden ließ. Dann wären die Burschen gerne jene prall gefüllte Geldkatze auf dem Unterbauch von Annla gewesen, dann stellten sich die jungen Herren dabei nämlich vor, wie Annla nicht nur die Kellnerinnenschürze lüftete, sondern noch etwas ganz anderes. Und wenn sie nach der ersten Maß Bier hinaus auf den Abtritt mussten, wo sie ihre Hosenlätze aufknöpften und eines Sinnes einträchtig in Reih und Glied nebeneinander in der Latrine vor der Rinne standen, um ihr Wasser abzuschlagen, drehten sich ihre fachmännischen Gespräche ausschließlich um ein einziges Thema, das diesmal ausnahmsweise nichts mit der nächsten Fahnenweihe zu tun hatte.

 

Wie so vieles im Leben schien freilich auch dies nur eine Frage der Zeit zu sein, wann in diesem hitzigen Spiel die Eichel-Sau Trumpf sein und wer den ersten Stich tun würde. Es ist daher ziemlich überflüssig, an dieser Stelle einen Namen zu nennen und ihn besonders herauszuheben, denn vor dem Gesetz waren ohnehin alle gleich, und die Regeln waren allgemein bekannt. Sie lauteten: Ober sticht Unter. So einfach war das. Daneben gab es noch zweitrangige Regeln wie Glück in der Liebe und Pech im Spiel und wie solche Sprüche mehr lauteten. Das alles war freilich an einem Tag wie diesem völlig gleichgültig und nebensächlich, denn jeder im Blauen Land wusste, dass es diesmal um eine ganz besondere Meisterschaft ging, um den schon viel zu lange aus allen möglichen Blickwinkeln beobachteten, ausgiebig diskutierten und allseits begehrten Pokal, ums Ganze, und dass das Annla am Vatertag ohne Wenn und Aber in die Gesellschaft des Blauen Landes aufgenommen werden musste, auch wenn sie von irgendwoher aus dem Osten gekommen war. Von nun an sollte sie dazu gehören und ein für allemal ihren Platz einnehmen, einen Platz, der ihr gebührte, für den sie geboren worden war, dessentwegen sie vor dem Russen geflohen war, den ihr die Mannsbilder des Blauen Landes, die ja allesamt tapfer gegen diese Kalmücken gekämpft hatten, von heute an zubilligten, und den sie eigens für sie bestimmt und ausgesucht hatten. Lediglich die Frage war noch offen, wer den Pokal aufbocken, zum Schuss kommen, den Vogel abschießen, den Volltreffer landen würde, denn der Anwärter waren da viele.

Wie hatte der Geistliche Rat in der Himmelfahrtspredigt von der Kanzel herab doch gleich gesagt: „Das Himmelreich gleicht einem König, der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtet. Er sandte seine Knechte aus, um die Eingeladenen zum Feste herbeizurufen. Doch diese wollten nicht kommen. Er schickte nochmals andere Knechte mit dem Auftrag aus: 'Sagt den Geladenen: Seht, mein Gastmahl ist bereitet, meine Ochsen und das Mastvieh sind geschlachtet; alles steht bereit. Kommt zur Hochzeit.' Doch diese gingen unbekümmert weiter. Der eine auf seinen Acker, ein anderer in sein Geschäft. Darauf sprach der König zu seinen Knechten: 'Das Hochzeitsmahl ist bereitet; doch die Geladenen waren dessen nicht wert. So geht denn an die Straßenausgänge und ruft zur Hochzeit, wen immer ihr findet.' Die Knechte gingen auf die Straßen und brachten alle, die sie gerade fanden, Böse und Gute, und der Hochzeitssaal füllte sich mit Gästen. Der König trat herein, um sich die Gäste anzusehen. Dort sah er einen Menschen, der kein hochzeitliches Gewand anhatte, und er sprach zu ihm: 'Freund, wie bist du ohne hochzeitliches Gewand hereingekommen?' Doch dieser schwieg. Darauf gebot der König seinen Knechten: 'Bindet ihn an Füßen und Händen und werft ihn in die äußerste Finsternis hinaus; dort wird Heulen und Zähneknirschen sein. Denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt.'“ So hatte Hochwürden gepredigt.

Doch was kümmerte die Burschen des Blauen Landes, was so ein Pfarrer an Christi Himmelfahrt von der Kanzel herab verkündete? Was ging das die jungen, voll in Saft und Kraft verbissenen Kerle des Blauen Landes an? Was scherten sie ein König und sein Hochzeitsmahl, zu dem niemand kommen wollte, wo sie doch längst die Braut aller Bräute auserwählt und im Visier hatten? Mag ja sein, dass viele sich berufen fühlten, das Annla in den Keller, in den Heustock oder bei arger sommerlicher Hitze in einen kühlen, verschwiegenen Beichtstuhl zu begleiten, doch wer auserwählt sein würde, das würden sie schon selber herausfinden, dazu würden sie weder einen Pfaffen benötigen noch einen König und dessen Knechte. Selbst ist der Mann, und wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Und ob es dabei jemals zu einer Hochzeit kommen würde, das war bei einem Weibsbild wie dem Annla von vorneherein höchst fraglich, denn so eine ist zum Bedienen da, nicht aber zum Heiraten.

Komm Annla, bring uns noch eine Maß und noch eine, und dann sagst du uns, du Katz', was du haben willst für eine hitzige Viertelstund', denn länger würde es nicht dauern, das wäre doch gelacht. So lange wird dich der Gockelwirt wohl entbehren können an einem Tag wie heut', an dem wir ihn ohnehin zum Millionär saufen, heut', bei diesem Kaiserwetter, an dem im Blauen Land die Helden gezeugt werden. Komm her und zier dich nicht, so gut wie der Russe können wir's auch, wir, der Stolz des Blauen Landes, wir im Bierdunst, im gemeinsamen Rausch, der uns einig macht und stark und uns wie aus einem Leib schwitzen lässt, los, stell dich auf den Tisch, dass wir dich anschauen können, wir wollen nämlich sehen, wie deine Storzen gewachsen sind, „a Hirtemadln mog i net, hot koane dickn Wadln net“, und schmecken wollen wir mit der Zunge, ob du nicht doch noch nach Milch riechst, du Hex', du willst es doch auch, sag, was verlangst du für einen offenen Knopf an deinem Mieder, wir zahlen bar und sofort, los, sag's, mach endlich dein Maul auf, sonst schlagen wir dich grün und blau und zieh'n dich gleich hier auf dem Tisch durch, vor allen Leuten, mitten in der guten Stube vom 'Gockelwirt', du Mensch, du …„

Und unter dem Gegröle der angesoffenen Gemeinde kletterte das Annla, jung, schön, gleichgültig, kichernd und kokettierend auf den Tisch, stieß bei dem alten Spiel „Zeigt her eure Füßchen, zeigt her eure Schuh“ einen Maßkrug um, so dass die uringelbe Brühe eine große Lake mitten auf dem Tisch bildete, in die sie keck einen roten Schuh setzte, um sie in Besitz zu nehmen wie ein Feldherr eine Festung, und dann drehte, drehte und drehte sie sich, und schon wendete und wendete sie sich, schwang ihr Röckchen, schwang es, ließ es fliegen, immer schneller, immer mutiger, übermütiger, immer herausfordernder, bis ihr zuletzt schwindlig wurde und sie noch im Fallen hörte, wie für einen zeitlupenhaft gedehnten Moment lang von ganz weit her eine altvertraute Weise vorbeigeweht wurde, eine Melodie, die seltsame Worte mit sich trug, Worte in einer fremden Sprache, vielleicht irgendetwas Lateinisches, oder war es nicht doch etwas von fünf Mädchen und einem Brautkranz, doch was genau, das wusste sie schon nicht mehr, weil sie in dem Augenblick, in dem sie aufhörte, ein Mädchen mit aufgeschlagenen Knien zu sein und ihre Kindheit endgültig abgelebt war, längst von starken behaarten hemdsärmeligen Armen aufgefangen worden war, die sie schwitzend umklammerten, die sie nicht mehr freigaben und die von da an ihren weiteren Weg wiesen. Und dazu grinste vom Himmel lotrecht der Sommer und warf keine Schatten.

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