Die Zeit auf alten Uhren

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Meine Tante hält inne, nimmt einen guten Zug von ihrem Zigarillo, drückt den Tabak ein wenig nach, prüft gerade die Glut, als die Holzpantinen, in denen Walburg barfuß geht, feststellen: Hoppla, da ist ja Schmierseife auf dem Waschküchenboden. Die Holzpantinen erkennen, dass da Schmierseifenlauge auf den Boden gespritzt sein muss: womöglich beim Umfüllen der Lauge aus dem großen Kessel in die kleineren Schäffchen, die alle auf einem Holzbock stehen, der du für uns das schwere Kreuz. Die Holzpantinen vertragen sich nicht mit der Schmierseife. Die Zehen von Walburg versuchen, sich in die Sohle der Holzpantinen zu graben. Aber das Holz gibt nicht nach. Es hat nur die Schmierseife im Sinn unter sich auf dem Boden der Waschküche, während die Wickelschürze weiter nichts im Kopf hat, als sich um den Holzgriff des Waschschaffes zu wickeln, in dem die heiße Lauge schwimmt für die Fußlappen des Reichsarbeitsdienstes. Während sich das eine wickelt und während das andere sich noch wundert über das, was unter der Sohle glitscht, meldet sich Walburgs Magen. Er sagt zuerst noch: Fein sein, beinander bleib'n, er singt zuerst noch: Zeigt her eure Füßchen, zeigt her eure Schuh, er bricht sich zuerst noch die Zunge: Wir Wiener Weiber wollen weiße Wäsche waschen wenn wir wüssten. Aber dann weiß er nicht mehr weiter. Er weiß nicht mehr weiter, weil er sich umdreht. Aber damit konnte die Wickelschürze natürlich nicht rechnen. Wer denkt auch schon in dem Augenblick, in dem man sich um den Holzgriff eines Waschschäffchens mit heißer Lauge wickelt, daran, dass es einem Magen, also dem Magen der Wäscherin einfallen könnte, sich auch einmal umzudrehen? Wer kann damit rechnen? Weder die Wickelschürze kann damit rechnen noch die Holzpantinen, die sich nie für die Wickelschürze interessiert haben, sondern immer nur für den Waschküchenboden, so wie sich die Wickelschürze nie für die Holzpantinen oder den Waschküchenboden interessiert hat, ganz egal, ob Schmierseifenlauge ausgeschüttet worden ist oder nicht, Holzpantinen und Wickelschürze haben definitiv nichts miteinander zu tun. Sie haben verschiedene Interessen, die erst zusammenkommen, wenn sich ein Magen umdrehen will. Warum will sich der Magen umdrehen? Hält er es auf der einen Seite nicht mehr aus? Hat das etwas zu tun mit den Fußlappen des Reichsarbeitsdienstes?

Da greifen auf einmal Hände ins Leere. Was sind das für Hände, und wem gehören sie? Die Hände gehören Walburg, und plötzlich sehe ich: Das sind Hände, wie geschaffen für eine Geige. Täusche ich mich auch nicht? Machen mir da nicht die Finger bloß etwas vor? Die Hände greifen. Aber es ist keine Geige da. Nicht einmal ein Wäscheseil ist gespannt. Es ist überhaupt nichts in der Luft. Außer einem ganz bestimmten Geruch. Einem Reichsarbeitsdienstgeruch. Einem Lagergeruch. Stein auf Stein. Das Häuschen wird bald fertig sein. Wir Wiener Weiber. Wenn wir doch bloß wüssten. Zeigt her eure Füßchen, zeigt her eure Schuh. Aber die Schuh haben den Kopf ganz woanders. Sie haben ihn bei der Schmierseifenlauge auf dem Boden der Waschküche. Die Wickelschürze wickelt und lässt nicht mehr los. Ein Griff ist ein Griff ist ein Griff. Eine Lauge ist eine Lauge ist eine Lauge. Sie ist heiß. Sie ist siedend heiß. Sie ist kochend heiß. Der Griff gehorcht. Er tut, was die Wickelschürze verlangt. Die Holzpantinen fügen sich. Sie tun, was die Schmierseife auf dem Fußboden der Waschküche verlangt. Der Magen gibt nach. Er tut, was die Walburg von ihm verlangt: Er dreht sich um. Während er sich umdreht, dreht sich auch noch etwas anderes. Das Waschschaff dreht sich, weil der Griff gehorcht. Genauer gesagt: Es neigt sich. Es neigt sich schräg vom Bock, während sich der Magen umdreht, zeigt her eure Füßchen, wenn wir wüssten, wo warmes Wasser. Warmes Wasser fließt. Kochendes Wasser fließt aus. Die Wickelschürze wickelt. Was sie einmal am Wickel hat, entwickelt sich nur so, wie sie es sich in den Kopf gesetzt hat. Der Magen dreht sich. Die Sohlen gleiten. Das Waschschaff neigt sich. Die heiße Brühe tritt über den Rand. Wo fließt sie hin?

Die Kringel des Zigarillos meiner Tante Mirtel zeigen mir, wohin die Brühe fließt nach dem Gesetz der Schwerkraft und den goldenen Regeln der Mechanik. Während die Wickelschürze vermutet, die Lauge fließe auf die Holzpantinen, während die Holzpantinen mutmaßen, die Lauge fließe über die Wickelschürze, während der Magen wähnt, die Lauge tilge den Gestank der Fußlappen des Reichsarbeitsdienstes, verhält sich die kochend heiße Lauge ganz anders. Sie entdeckt ein Wäscherinnenbein. Sie entdeckt einen Oberschenkel. Schon berechnet sie das Gefälle, schon kennt sie den Winkel, schon weiß sie, wie die Fallhöhe zu nützen ist, schon setzt sie sich in den Kopf, vom Oberschenkel den Weg über das Knie, die Kniescheibe, über die Wade hinunter zum Schienbein zu nehmen, schon hat sie den Ehrgeiz, auch noch den Knöchel zu erreichen, schon erkennt sie, nein: den Knöchel wird sie wahrscheinlich doch nicht mehr schaffen, weil sie vielleicht von einem Schrei aufgehalten wird, das lässt sich wegen des Rauchs des Zigarillos meiner Tante Mirtel nicht genau feststellen, ob die siedend heiße Lauge nur über den Oberschenkel und die Kniescheibe bis zur Wade laufen kann, oder ob sie es wegen eines Schreies nicht mehr bis zum Knöchel schafft.

Aber wer könnte den Schrei hören? Wem kann er gelten? Die Männer vom Reichsarbeitsdienst sind mit ihrem Lkw längst wieder ins Arbeitsdienstlager gefahren. Sonst ist niemand in der Waschküche. Kaspar ist bei der Eisenbahn. Er darf seinen Dienstplatz nicht verlassen. Unter keinen Umständen. Luis ist in den Bergen oder rennt querfeldein oder will herausfinden, wie sich bei den KdF-Mädeln die Haken am Mieder anfühlen. Kraft durch Freude, Schmalz durch Gaudi. Baptist ist so mit Gehorchen beschäftigt, dass er keinen Schrei hört. Ein Schrei bedeutete womöglich, dass er handeln müsste. Er kann aber nur etwas tun, wenn ihm vorher einer sagt, was er tun soll. Firmian ist mit dem Finger auf der Landkarte. Vielleicht erreicht der Nagel des rechten Zeigefingers gerade die Mündung des Rio Para. Dort liegt Belém, das auf Deutsch Bethlehem heißt, obwohl es nicht im gelobten Land liegt.

Meine Tante Mirtel schlägt vor, dass wir zusammen überlegen, wem der Schrei gelten könnte, der da durch die Waschküche gellt. An wen hätte sich Walburg wenden können? Niemand ist zu Hause, niemand in der Nachbarschaft kann den Schrei hören. Vielleicht rangiert Kaspar gerade einen Güterzug, während er gewissenhaft auf seine Schweizeruhr blickt. Wir können es nicht sagen. Weil Walburg weiß, dass sie allein ist mit ihrem Schmerz, weil Walburg weiß, dass ihr niemand beistehen kann, während die kochende Lauge den Weg nimmt von ihrem Oberschenkel über die Kniescheibe, die Wade und das Schienbein womöglich bis zum Knöchel, weil nichts hilft: weder die Wickelschürze, noch der Holzgriff, weder die Holzpantinen, noch die Schmierseife, weder wir Wiener Weiber, noch das Zeigt her eure Füßchen, zeigt her eure Schuh, weder Stein auf Stein, noch das Häuschen, das ganz zweifellos bald fertig sein wird, weder das Feinsein, noch das Beieinanderbleib'n, weil nichts hilft, deshalb sagt sie still nach dem Schrei – und ich glaub' es nicht: Vergelt's Gott für die Armen Seelen.

Meine Tante wiederholt diese Ungeheuerlichkeit, und malt mir mit ihren Worten, wie die Walburg Mehl auf ihre Brandwunde streut, immer wieder Mehl, „lllergold doppelgriffig“, und wie sie dabei betet. Sie betet für die Armen Seelen, die unerlöst umhertreiben, all die Toten, all die Worte im Wind des Unheils, verkeilt ineinander als Illusion und Enttäuschung. Walburg gedenkt der armen Seele ihrer Mutter, ihrer verstorbenen Geschwister, sie gedenkt des Glockenspiels vom Rathausturm, wenn der weiße Ritter den schwarzen Ritter vom Pferd sticht, wenn die Kinder um den Hollerbusch tanzen, wenn der goldene Hahn kräht und der Sensenmann Stundenglas und Hippe zeigt, ehe die Glock' Zwölfe schlägt, sie gedenkt aller Wiener Weiber, die wie sie die Wäsche waschen, sie summt ihr Lieblingslied „Fein sein, beinander bleib'n“, sie gedenkt ihres Herrn und Meisters Kaspar und seines Leitspruches, der da lautet: Ich trage, wo ich gehe, stets eine Uhr bei mir, denn unsere Walburg, sagt meine Tante Mirtel, ist musikalisch, sie gedenkt ihres Sohnes Luis, der auf die Berge rennt und querfeldein und bald hinter jedem Mädel her, sie gedenkt ihres Sohnes Baptist, der immer einen Vorgesetzten braucht im Leben, sie gedenkt ihres Sohnes Firmian, welcher Offizier auf einem stolzen weißen Segler und Herr der sieben Meere werden wird. Schließlich aber gedenkt sie des Häuschens, Stein um Stein, und sie gedenkt der ersten und der zweiten Hypothek, und sie hofft, dass auch sie vergolten werden, wie die kochend heiße Lauge den Armen Seelen.

Die Damen Vogelsang

In einem Feuilleton über die französische Stadt Nizza beschreibt Joseph Roth Mitte der zwanziger Jahre einmal Sommergäste, „denen der Arzt den Winter verbietet und denen die Brieftasche den ewigen Sommer erlaubt.“ Genau dies traf auch auf die Damen Vogelsang zu, die zu den treuesten Patientinnen meiner Tante Mirtel, der Landärztin zählten. Sie besuchten ihre Sprechstunde wegen jeder noch so kleinen Kleinigkeit, meine Tante sagte dazu „wegen jedem Hundsscheiß“, und dieses kuriose Trio in einer Schilderung des Blauen Landes, aus dem ich komme, zu übergehen, wäre ein schlimmes Versäumnis, denn die Damen Vogelsang gehörten zweifellos zu den unvergesslichen Kuriositäten dieses Landstriches, wobei sie zugleich als Sommerfrischlerinnen einer bestimmten Epoche des Fremdenverkehrs kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Maßstäbe setzten und ihren charakteristischen Stempel aufdrückten.

Die Absonderlichkeiten begannen mit den Namen: Niemand tauft sein Kind heute noch auf den Namen Theobald oder Gerda. Es ist nur verständlich, wenn auch die Wahl der Vornamen unserer Kinder der Mode und dem Zeitgeist unterliegt. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass beispielsweise Agatha so gewöhnlich war wie heute Kathleen, Vicky oder Cindy im Osten unseres wiedervereinigten Vaterlandes. Bei Agatha muss ich freilich nicht an die englische Kriminalschriftstellerin denken, sondern immer an die Damen Vogelsang. Korrekt und eigentlich: von Vogelsang. Drei Baronessen, die niemals einzeln auftraten, sondern stets nur im Verbund zu haben waren. Sie hätten alle Agatha heißen können, aber nur die Älteste hörte auf diesen Namen, eigentlich auf den Doppelnamen Agatha-Littegarde. Ihre Eltern mussten wohl Kleist gelesen haben. Sie führte das Kommando, sie war gewissermaßen der Feldwebel der Eskadron. Sie war lang und dürr wie eine Bohnenstange. Außerdem hatte sie ein abstoßendes Pferdegebiss, als sei sie die Zwillings-Schwester des Darstellers von Don Camillo. Für sie galt, was einst Siegfried von Vegesack, der Übersetzer von Gogol, Turgenjew und Nabokov über seine Tante Locka gesagt hatte: „Eigentlich war sie ein Mann, dem der liebe Gott aus Zerstreutheit Röcke wachsen ließ.“ Auguste-Bertha, so hieß die Mittlere, die wir Gusti nannten, trug Tag und Nacht eine Brille mit tiefschwarzen Gläsern, erfuchtelte sich mit in der Luft rudernden Händen ihren Weg und war offensichtlich blind wie ein Maulwurf, während Edith-Georgine, kurz: Gini, am Stock ging und so hinfällig daherkam, als sei sie mit Abstand die Älteste des Trios. Ihr klappriges Skelett wurde scheinbar nur noch von gefährlich gelockerten Schräubchen zusammengehalten, die sich jeden Augenblick lösen konnten, was unweigerlich zum kompletten Zusammenbruch dieses Gespenstes führen würde. Etwas Geheimnisvolles umgab sie, denn im Gegensatz zu ihren Schwestern hörte man sie kaum schnattern. Ein stummer Blick aus wässrig verträumten Augen genügte, um ihren Willen kundzutun. Mitunter seufzte sie über die große Anzahl von Bewerbern, die sie in ihrer Jugend abgewiesen habe, und dies nur, um bei ihren Schwestern bleiben zu können. Sie hatte es mit dem Poetischen und sprach konsequent vom Lenz, nie aber vom Frühling, den Jasmin nannte sie „Schasmin“ und zu Orchester sagte sie „Orschester“. Wenn sie lächelte, was selten geschah, verschob sich ihr Gebiss, und trat man näher an sie heran, so meinte man, ein wenig „Uralt Lavendel von Lohse (1910)“ riechen zu können, mit dem sie sich bevorzugt betupfte.

 

Die Damen Vogelsang, wie man sie allgemein nannte und geflissentlich das „von“ übersah, womöglich weil sich „von Vogelsang“ für die einfachen Menschen aus dem Blauen Land nicht so bequem aussprechen ließ, die Damen Vogelsang also kamen jedes Jahr zur Sommerfrische und requirierten das obere Stockwerk des winzigen Häuschens der Witwe Rosa Dopfer, die eine fromme Frau war, jeden Tag zur Kommunion ging und arg darunter litt, dass ihr zweiter Dauermieter, der unverheiratete, von einem verwegenen Menjou-Bärtchen verzierte Hauptlehrer Oskar Niemeyer, stolzer Besitzer eines VW-Cabrios und angeblich der beste Tänzer weit und breit, häufig auch über Nacht Besuch von seiner unentwegt filterlose französische Zigaretten rauchenden Freundin Vera Baumeister bekam, von der man munkelte, sie sei früher in der Großstadt als Sängerin in verruchten amerikanischen Nachtclubs aufgetreten.

Und jetzt auch noch diese Damen Vogelsang. Rosa Dopfer, deren enges Treppenhaus himmelblau gestrichen war und Heiligenbildchen an Heiligenbildchen aufwies wie ein Kreuzweg mit seinen Stationen, betete einen Rosenkranz extra, aber sie brauchte das Geld. Vogelsang: der Name sprach für den Rest, und der war laut, lebhaft, ständig quasselnd, immer das Besondere, nie das Normale, immer in Bewegung, nie still sitzend, immer voller Erwartung, immer voller Ungeduld, immer grell geschminkt, immer das Schrille, und ja nichts ohne Superlativ, stets die Nase hoch und ebenso den Kopf, auch wenn der Kragen mal schmutzig war. Sie trugen Hüte groß wie Wagenräder, bestückt mit den Blumen des Feldes und festgezurrt mit aufwendigen Schals, die leicht seitwärts verschoben mit einer opulenten Schleife unter dem Kinn verknotet wurden. Sie waren eine groteske Mischung aus Anna Karenina und Adele Sandrock (in her later years). Und immer, wenn ich auf meinem alten Damenfahrrad an ihnen vorbeiflitzte und sie hurtig, aber ergebenst grüßte, riefen sie mir zu: „Erst mal Mütze runter, Junge. Und tu nich' so wüüüst!“

Drei Schwestern – wie geträumt.

Sie stammten aus jener fernen Zeit, da die „Welt noch voll wunderlicher Tanten war“, stillen und geräuschvollen, wie Siegfried von Vegesack sagt, und sie kamen schon seit vielen Jahren, und es gab niemanden im Blauen Land, der hätte sagen können, seit wann genau nun die Baronessen meinem Heimatdorf ihre Aufwartung machten. Jedenfalls kamen sie, seit ich denken konnte. In dem Jahr aber, von dem ich erzählen will, reisten sie besonders früh an. Mitte März gehörte das Dorf eigentlich noch den Wintergästen, die sich in der Frühjahrssonne ihre Bräune für die Büros in den Großstädten holten, und Mitte März war im Grunde genommen kein geeigneter Zeitpunkt für den Beginn einer Sommerfrische. Eines schönen Tages aber, es war an Josefi, trudelten die Damen wie üblich mit dem Zug ein: wie gewöhnlich mit Sack und Pack, Schrankkoffern und einer halben Armee von sperrigen Regen- und Sonnenschirmen. Die Damen beabsichtigen – wie jedes Jahr – bis zum ersten Schneefall Ende Oktober zu bleiben. Agathas Stimme übertönte den Pfiff der Lokomotive und erfüllte nicht nur das Bahnhofsgelände, sondern nahezu den ganzen Ort. Die Landärztin pflegte, sobald sie diese durchdringende Stimme nur von Ferne rufen hörte, Ovid zu zitieren und zu seufzen: „Selig sind die Zikaden, denn ihre Weiber sind stumm.“

Jedermann wunderte sich über das frühe Eintreffen der treuen Sommerfrischlerinnen, und in Windeseile verbreitete sich die Nachricht von Haus zu Haus. So schrullig die Damen Vogelsang auch wirkten und so sehr sich die Einheimischen hinter ihrem Rücken über sie lustig machten, so sehr waren sie doch andererseits wegen ihres großstädtisch vornehmen Auftretens und ihrer großzügigen Trinkgelder bei den Gastwirten, den Gemüsefrauen und Schneiderinnen im Ort geschätzt und sogar beliebt. Sie waren die Garanten für die feinere Welt des Adels und der Noblesse, denn sie unterschieden sich grundsätzlich von den üblichen Kurgästen: zum einen wegen ihres exaltierten Auftretens, zum anderen wegen ihrer Kleidung. Die Damen Vogelsang liebten es, mehrere Schichten Röcke, Pullover, Überwürfe oder Jacken übereinander zu tragen und diese, sobald sie in der Sonne saßen, Schicht um Schicht abzulegen. Es schien ihnen gänzlich gleichgültig, im seltsam rosafarbenen Unterrock und mit herunter gerollten Wollstrümpfen beim Sonnenbad erwischt zu werden. Manchmal verabredeten wir uns, um bei Sonnenaufgang die drei Sommerfrischlerinnen barfuß im Ringelreihen, mit grotesken Bewegungen in flatternden Nachthemden und gelöstem Haar über die Wiesen tanzen zu sehen. Die Hässlichkeit der zaunlattendürren Frauenkörper wurde nur noch von den bizarren Bewegungen übertroffen. Natürlich konnten die Damen nicht tanzen, sondern sie zappelten, hüpften und jauchzten, um ihrer schöpferischen Phantasie freien Lauf zu lassen. Die schrillen Misstöne bewiesen, über welch reichhaltiges Repertoire an schräg angestauten Energien diese drei Vogelscheuchen verfügten, die allmorgendlich bei ihrer seltsamen Gymnastik im Begriff waren, die Gesetze von Harmonie und Ästhetik vollständig neu und nach ihrem Willen und ihrer ureigenen Vorstellung zu definieren. Damit verkörperten sie alles, was den Bewohnern des Blauen Landes hexenhaft fremd und geradezu furchteinflößend war, doch beabsichtigten sie damit keinesfalls, die Leute vor den Kopf zu stoßen, weswegen man sie auch – gelegentlich kopfschüttelnd – gewähren ließ. Schließlich wurden auch die morgendlichen Tänze zur Gewohnheit, und zuletzt kümmerte sich keine Seele mehr darum. Von meiner Tante Mirtel erfuhr ich, dass die Damen Vogelsang ihren exzentrischen Tanzpantomimen Namen gaben, die schwer zu deuten waren: „Vom Auto überfahrener Mann“, „Wasserleiche“ oder „Frühlingsopfer.“ Der bisweilen scheinbar gänzlich unmotivierte ruckartige Wechsel zwischen Verrenkung und Innehalten, Bewegungslosigkeit und wildem Zucken etwa mit dem Titel „Tote Grille“ oder wildem Geflatter und Wehen mit den Nachthemden unter dem Motto „Die Schwalben erwachen“ ließ uns Knaben, die wir hinter Büschen lauerten, angesichts der ekstatischen und leicht bekleideten Turnerinnen die Mäuler offenstehen.

Unternahmen die Damen Vogelsang eine Wanderung, so schleppten sie nicht nur gewaltige Rucksäcke und Unmengen von Proviant wie Haferflocken und Zwieback mit sich, als gelte es, wochenlang im Gebirge zu überwintern, sondern jede der drei Schwestern stützte sich auch auf einen mächtigen Haselnuss-Stock, der ihnen als „Gebirgsstange“ geläufig war. Das genagelte Schuhwerk hätte zweifellos auch eine Durchquerung der Wüste Gobi überstanden.

Die Damen Vogelsang reisten von weither. Sie kamen von Irgendwo aus dem hohen Norden, wobei sie allergrößten Wert darauf legten, nicht aus jener Stadt zu stammen, in der sie augenblicklich „zu leben gezwungen“ seien, wie sie opernhaft anmerkten. In Wirklichkeit, so betonten sie gebetsmühlenartig, stammten sie aus dem Baltikum. Darunter konnte sich zwar in meinem Heimatdorf niemand etwas vorstellen, doch man war sich einig darin, dass dieses Baltikum sehr weit weg sein müsse, wofür allein schon die seltsame Aussprache bürge, die man dort der deutschen Sprache angedeihen lasse. Jemand will vom Apotheker gehört haben, das Baltikum, auch genannt „Die kalte Heimat“, grenze an Russland, ja es sei gewissermaßen ein Teil Russlands, und zwar des Zarenreiches, das es heute gar nicht mehr gebe. Die anderen beiden Stichworte, die als ungefähre geographische Koordinaten herhalten mussten, lauteten „Ostsee“ und „Kurische Nehrung.“ Und diese hätten für einen aus dem Blauen Land auch auf dem Mond liegen können.

Das Auftreten der Damen Vogelsang durchlitt meine Tante mit dem ihr eigenen Anstand, aber sie wirkte dabei wie eine Mater Dolorosa, und sie zog ein Gesicht, als trage sie nun den ganzen langen Sommer über eine Dornenkrone auf ihrem Haupt. Sobald die Damen in ihrer Sprechstunde aufkreuzten, und es war jedes Mal ein bühnenreifer Auftritt, verbreiteten sie eine operettenhafte Feierlichkeit, als handle es sich um eine exquisite Gesellschaft schnatternder Ladies aus dem diplomatischen Corps, die mit nichts anderem beschäftigt schienen als dem neuesten Klatsch vom Wiener Kongress.

Dieser Hang zum Repräsentativen verwandelte jeden, der auch nur in die Nähe dieser Sommerfrischlerinnen trat. Selbst ich bewegte mich, als bekleide ich das Amt eines Pagen an einem kaiserlichen Hof, und es hat nicht wenig gefehlt, und ich hätte meine Tante mit Exzellenz angesprochen. Sie jedoch war vollauf damit beschäftigt, hinter ihrer wohlerzogenen Form der Höflichkeit ihren sanften Spott zu verbergen. Nur gelegentlich konnte man mit feinem Ohr einen unterirdisch rollenden und grollenden Zorn aus ihren Komplimenten heraushören. Die Damen Vogelsang freilich sprachen von ihr, die sie die „Madam Kurärztin“ nannten, stets respektvoll als von einer Frau, der man die Noblesse bereits an der tadellosen Bügelfalte ihres weißen Kittels ansehe. Und obgleich die Damen Vogelsang durchaus für die Erkenntnis standen, dass Misserfolg die Menschen einsam macht, brachten sie es doch mit ihren theatralisch verwirbelten Auftritten jedes Jahr fertigt, das Dorf in dem Blauen Land in ein Seebad mit dem Flair von Ostende und dem Zuschnitt von Deauville zu verwandeln.

Ihre letzte, wahrhaft große Szene hatten die Damen Vogelsang, als mit mächtigem Pomp, vielen Kreuzen und noch mehr Fahnen der Geistliche Rat Köberle zu Grabe getragen wurde. Er starb in jenem Sommer einen ihm durchaus angemessenen Tod, ganz im Gegenteil zu dem Bergführer Rindfleisch, der zwar die steilsten und gefährlichsten Gipfel der Heimat erklommen hatte, in einer Winternacht aber, als er gut abgefüllt aus dem „Adler“ gewankt und ihn inmitten der prächtigen weißen Winterlandschaft mit ihrer meterhohen Schneedecke ein Bedürfnis angekommen war, dem er auf der Stelle nachgab. Zu seinem Unglück freilich war ihm die Natur justament mitten auf dem verschneiten Bahngleis gekommen, und da der Schnee bekanntlich nicht nur alles zudeckt, sondern auch jedes noch so kleine Geräusch schluckt, hatte der in archaischer Hocke befindliche Rindfleisch, der Gipfelstürmer mit herabgelassener Hose, vermutlich aus wetterfestem Trenkercord, den letzten Schienenbus aus Tirol nicht kommen gehört, und auch der Lokführer hatte, seiner späteren Aussage zufolge, bei dichtem Schneefall die zusammengekauerte, yetihaft schneeumwehte Gestalt zu spät erkannt und nicht mehr rechtzeitig bremsen können. Meine eilends herbeigerufene Tante konnte nur noch beim Zusammensuchen der weithin verstreuten Rindfleischreste helfen, wohingegen sie beim Geistlichen Rat Köberle, zu dem sie von dessen Zölibatesse gerufen worden war, durchaus noch ihre ärztliche Kunst anwenden musste, denn der geweihte Herr war, nachdem er mit eben jenem letzten Zug aus dem Tirol gekommen war, der schon dem Bergführer Rindfleisch zum Verhängnis geworden war, und unter Absingen seines Dreigesangs von „Die Wacht am Rhein“, „Meerstern, ich dich grüße“ und „Völker hört die Signale“ glücklich schwankend seinen Pfarrhof erreicht hatte, schließlich im Vollrausch bei der letzten Inspektion seines stolzen Viehbestandes vom Heustock gefallen.

 

Seinerzeit gehörte zum Pfarrhof noch eine eigene bescheidene Landwirtschaft mit zwei, drei Kühen, einer Handvoll Hühner, ein paar Streuobstwiesen und moorige Heuschläge. Besorgt wurde diese Ökonomie von der Pfarrhaushälterin, zumeist eine leibliche Schwester oder nähere Verwandte des hohen Herrn. Der Geistliche Rat Köberle pflegte täglich am Nachmittag mit dem Zug nach Tirol zu fahren, bis zur ersten Station nach der Grenze mit dem einladenden Namen Schönbichl. Die Station bestand aus einem Wirtshaus, in dem jener Südtiroler Rote ausgeschenkt wurde, der Köberle immer mehr und mehr und noch mehr mundete. Wenn es im Himmel keinen Südtiroler Roten gebe, soll er gerne gesagt haben, dann pfeife er auf die ganze Seligkeit. Mit dem letzten Zug ging's dann nach bester geistiger Abfüllung zurück. Und da der Geistliche Rat Köberle ein gewissenhafter Mann war, wollte er in der Nacht noch nach dem Vieh sehen, hat aber wohl unter dem teuflischen Einfluss des Alkohols das Stockwerk verwechselt, hat, vom Gottseibeiuns ge- und verführt, die falsche Tür geöffnet und ist mit seinen gut zwei Zentnern Fastenpredigerkampfgewicht den Gesetzen der Schwerkraft folgend und möglicherweise begleitet von einer letzten mit Stentorstimme geschmetterten Anrufung aller Heiligen auf dem Steinboden der Tenne gelandet und hat sich das Genick gebrochen, wie mein Tante medizinisch fachkundig diagnostiziert hat. Da lag nun unser Monsignore in seinem Blute, das farblich vorzüglich zu der Farbe der rot paspelierten Knopflöcher seiner Soutane passte: ein Phänomen, das unter uns Messdienern ohne spezielle medizinische Vorkenntnisse schlicht als Knopflochentzündung bekannt war.

Bei der Beerdigung war das gesamte Blaue Land auf den Beinen. Meine Tante, die den Totenschein ausgestellt hatte, durfte nicht fehlen. Sie führte als Fahnenjunker, flankiert von zwei weißbärtigen Adjutanten, die Ehrenformation des Veteranenvereins an, denn auch sie hatte am Krieg teilgenommen. Gleich nach der leiblichen Schwester des Toten und den Geistlichen Würdenträgern der näheren und weiteren Umgebung kamen die Nonnen, von denen jede für sich schon physiognomisch ein eigener Trauerzug war. Dann folgte die Abordnung des Katholischen Frauenbundes. Sie wurde von niemand anderem angeführt als von den Damen Vogelsang, die nicht nur quer über ihre wallenden schwarzen Gewänder eine gestärkte, überbreite schwarze Schärpe trugen, sondern auch noch am linken Oberarm einen seidenen Trauerflor im Winde wehen ließen, der mit einer ebenso opulenten wie kunstvoll geknüpften Schleife versehen war. So sehr waren diese drei Damen, die man auf der Stelle für die Vorsitzenden der Zölibatessengewerkschaft hätte halten können, in die Geschehnisse des Blauen Landes verstrickt, dass es nahezu unvorstellbar gewesen wäre, die Leiche des Geistlichen Rates Köberle ohne deren vom Weihrauch großer Tragödien und pompöser Schicksale getränkte Anteilnahme mit sechs Böllerschüssen in die Ewigkeit zu schießen: sechs Schüsse deshalb, weil Köberle, ein Thulserner von altem Schrot und Korn, beide Weltkriege aktiv erlebt hatte – also drei Schuss pro Weltkrieg. Das war das Optimum. Mehr gab es nicht. Nicht einmal für Träger des EK I.

Das galt aber nur für Beerdigungen. Der Sommer, in dem Monsignore Köberle vom Heustock direkt in die Ewigkeit fiel, war auch der Sommer einer großen Entdeckung. Zusammen mit einigen Schulkameraden fand ich nämlich ein hübsches Waffenlager, das uns die SS zur Verfügung gestellt hatte, ehe sie sich der Übermacht unter Panzergeneral Patton ergab. Genauer gesagt handelte es sich um einige Kisten mit Karabinern, Handgranaten, MG-Munition und einer Panzerfaust. Da wir uns für ausgewiesene Waffenexperten hielten und jeder den anderen mit noch genaueren Kenntnissen über die Handhabung übertreffen wollte, versuchten wir zunächst, die Handgranaten beim Forellenfischen einzusetzen. Den Ring ziehen, bis drei zählen, werfen. Die jeweils entstehende Wasserfontäne war in jedem Fall höher als der anglerische Ertrag. Bei den Karabinern stellten wir zu unserem größten Bedauern fest, dass deren Repetier-Schlösser eingerostet waren. Blieben nur noch die Panzerfaust und die MG-Munition. Aufgrund einer unverzeihlichen Indiskretion seitens eines geschwätzigen Kameraden, der sich wichtigmachen wollte und den Mund nicht halten konnte, gelangte das Geheimwissen jedoch an meine Tante Mirtel, die sogleich die SS-Rückstände requirierte und wegsperrte, uns in einer Reihe antreten ließ und uns anfänglich ganz leise, schließlich aber mit unglaublichem Kasernenhofgebrüll zur Sau machte. Nie zuvor und auch nie mehr danach habe ich diese Frau derart in Rage erlebt. Was sie besonders herausstrich war der Umstand, dass wir soeben im Begriff waren, die MG-Munition auf einen Amboss zu legen, um unter Aufbietung aller gemeinsamen Kräfte, denn nur gemeinsam waren wir stark, den schweren Vorschlaghammer darauf hernieder fahren zu lassen. Dazu hätte Radio Beromünster den Schlager des Sommers gespielt: „Kein Land kann schöner sein“, gesungen von René Carol. Hierzu passend besonders die markante Strophe, in der es heißt: „Und in den Wäldern, da hört man's raunen, bald kommt sie wieder, die alte Zeit.“

Mir jedoch gefiel seinerzeit „Tiritomba“ viel besser, gesungen von Margot Eskens. Bei einer Strophe musste ich stets ein wenig schlucken, wenn es hieß: „Eines Tages aber kam er nicht mehr wieder, es verklangen all die Lieder.“ Überhaupt: Margot Eskens, eine sanftäugige Zahnarzthelferin aus dem Rheinland, die nunmehr die Titelseiten der Illustrierten des Lesezirkels schmückte und deren Blick jenen nebulösen Hang zum Melancholischen verhieß, der einem in der Pubertät bisweilen so gut tut. Sie wurde mein erster heimlicher Schwarm. Margot Eskens! Das war schon ein anderes Kaliber als die Damen Vogelsang mit ihrem herben Ostsee-Charme, der vermutlich auf nichts anderem beruhte als auf einer gewissen adeligen Einfältigkeit, wie sie heute nicht einmal mehr den blaublütigen Gattinnen pomadiger Politiker zur Verfügung steht.

Als dann die Damen Vogelsang im Spätherbst mit dem üblichen Getöse, den mehrfach vom Karren polternden Schrankkoffern, dem hektischen Suchen nach Regenschirmen und Fahrkarten und unter Anteilnahme der Blaskapelle sowie einer Ehrenabordnung der Freiwilligen Feuerwehr wieder abreisten, schwiegen auf einmal die sonst den ganzen Sommer über zirpenden Grillen, und die Schwalben, die so hoch geflogen waren, kehrten im nächsten Frühjahr ebenso wenig zurück wie die Damen aus dem Baltikum. Kein Zweifel: die drei Ladies haben sie mit sich genommen, und mit den Grillen und den Schwalben zugleich den Zauber meiner Kindheitssommer.

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