Das Lächeln der Mona Lisa

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Das Lächeln der Mona Lisa
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

George Tenner

Das Lächeln der Mona Lisa

Impressum

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Epilog

Danksagung

Impressum

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in Der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Coverbilder von Helmut Schmidt-Kirstein, Dresden

Aquarelle von 1943, Frauenkirche und Brühlsche Terrasse

Copyright © 2020 George Tenner

Bernau

Tel.: 03338-9090917

Handy: 0157 844 951 28

Email: gtenner@t-online.de

Homepage: www.george-tenner.de

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/George_Tenner

Lektorat: Gabriele Raetzer

Covergestaltung: VecroDesign, Unna

http://www.vercopremadebookcover.de

Herstellung: Epubli

George Tenner

Das Lächeln der Mona Lisa

Dresden-Krimi

Statt eines Vorworts

Wenngleich die in diesem Buch beschriebenen Städte, Örtlichkeiten, Gebäude und Personen in den Jahren 1948 bis 1995 in der Regel den tatsächlichen Gegebenheiten der Handlung entsprechen, werden teilweise die Namen verändert wiedergegeben, um noch lebende Personen nicht zu kompromittieren.

Dabei sind aus Gründen der Dramatik bestimmte Geschehnisse geringfügig verändert und dabei zeitlich oder lokal versetzt worden.

Sollten Sie dennoch Ähnlichkeiten erkennen, so sind diese teilweise in der Tat beabsichtigt.

George Tenner

Prolog

Die Farbe Gelb

Auf dem Weg von ihrem Laubengrundstück in Dresden-Coschütz, das sie von ihrem Vater übernommen hatte und auf dem sie, so oft es ging, im Sommer ihre Zeit verbrachte, zu ihrer Arbeitsstelle nach Loschwitz dachte die Frau daran, wie gut es war, dass sie die Betreuung des alternden Kunstmalers übernehmen durfte. So hatte sie zu ihrem kleinen Hartz-IV-Einkommen immer noch ein kleines Zubrot. An diesem Tag erschien Roswitha Färber ihre ganze Umgebung in Gelb. Die drei Kerzen auf ihrem Couchtisch in der Form gelber Eier, die von Ostern übrig geblieben waren und die sie bisher nicht abgebrannt hatte, um ihren Anblick noch lange genießen zu können. Das Sommerkleid, das sie nun trug. Die Butterblumen auf der Wiese, an der sie vorbeigehen musste.

Noch niemals hatte sie Vergleiche der Deutungen zwischen den Farben Rot, Blau und Gelb angestellt. Aber irgendwie hatte sie eine Intuition, mit den Farben zu spielen. Rot stand für das Hier und Jetzt, Blau für die Vergangenheit und Gelb … Gelb für die Zukunft. Rot für aktiv, Blau für reflexiv, Gelb für passiv. Rot für Härte, Blau für Kontrolle, Gelb für Gutmütigkeit. Eine kurze Zeit brachte sie es fertig, ihre Gelbgedanken zu verdrängen, doch dann stutzte sie. Stand Gelb nicht für Missgunst und Hass? Für Neid und Streit? Hieß es nicht im Volksmund, dass Gelb die Farbe der Eifersucht sei?

Die öffentlichen Verkehrsmittel der Stadt Dresden trugen die Farbe Gelb. Sowohl die Straßenbahn, die sie benutzte, als auch der lange Gliederbus, der sie über die Brücke brachte, die man das Blaue Wunder nannte und die Blasewitz mit Loschwitz verband, waren gelb. Als sie vor dem Künstlerhaus in der Pillnitzer Landstraße in Loschwitz ausstieg, leuchtete ihr der 1898 entstandene, imposante Bau des Architekten Martin Pietzsch mit seinen gläsernen Ateliers und den Vorbauten am Haupteingang entgegen. Sie erschrak. Auch das Künstlerhaus hatte man in gelber Farbe gestrichen. Noch kurz nach der politischen Wende in Deutschland starrte das Haus grau und ungepflegt gen Himmel; wer immer für die Erneuerung des Hauses plädiert hatte, wusste, dass Dresden eine Stadt der Kunst war. Und dass die Kunst auch durch die hier arbeitenden Menschen in alle Welt exportiert wurde und das Ansehen der Stadt mehrte, war unbestritten.

Einen Augenblick nur dachte sie an diesen Kunstexport, an die Komponisten, Dirigenten und Sänger, die an der Städtischen Oper gearbeitet hatten; Carl-Maria von Weber, Karl Böhm und Joseph Keilberth gehörten dazu, der Tenor Rudolf Dittrich und der Bass Kurt Böhme, die Kammersängerin Erna Sack und die Sopranistin Elfriede Trötschel. Auch Dresdner Maler waren weltweit ein Begriff; Robert Sterl und Josef Hegenbarth, Wilhelm Lachnit, Helmut Schmidt-Kirstein und Karl Kröner, der Bildhauer Herbert Volwahsen, die Grafiker Hans Theo Richter und der Leipziger Max Schwimmer, der nach Dresden an die Hochschule für Bildende Künste ging, wo er zum Leiter der Grafikabteilung avancierte.

Sie überquerte die Straße und ging zum Hintereingang des Hauses. Schon die schwere Haustür, die sonst verschlossen war, ließ sich ohne Schlüssel öffnen. Sie registrierte das unsicher. Helmut Müller-Karsten war ein überaus zurückgezogen lebender Mann, der sich nach dem Tod seiner Frau geradezu einigelte. Niemals zuvor hatte sie die Tür unverschlossen vorgefunden. Sie ging die wenigen Stufen zum Hochparterre und klopfte an die Wohnungstür, so wie sie es immer gemacht hatte. Als keine Antwort kam, kramte sie den Schlüssel hervor, den ihr der überaus vorsichtige Maler anvertraut hatte, und schloss auf. Sicher war er gerade im hinteren Zimmer, das das Ehepaar als Schlafzimmer genutzt hatte.

Ein beißender Geruch stieg ihr in die Nase. Vorsichtig schob sie den schweren Brokatvorhang beiseite und erstarrte. Vor dem Schlafzimmereingang lag der Mann, den sie nun seit fast einem halben Jahr betreut hatte. Sie versuchte zu schreien. Als aber kein Laut aus ihrem geöffneten Mund kam, begriff sie, dass hier der Tod geerntet hatte. Sie ging näher heran und betrachtete die Leiche. Der Mann war abgemagert, sah fast durchsichtig aus. Um ihn herum bemerkte sie noch nicht ganz eingetrocknete Flüssigkeit, die er im Todeskampf verloren haben musste. Sie dachte an das letzte Zusammentreffen mit dem Maler, der ihr eine schöne Zeit auf ihrem Wochenendgrundstück gewünscht hatte. Das war vor vier Tagen gewesen. Und da war er überaus fröhlich gewesen. Sonst still und in sich gekehrt, hatte er sogar kleine Witze gemacht und ihr Aussehen gelobt. Fast hatte sie den Eindruck, dass er in ihr mehr sah als eine Hartz-IV-Empfängerin, die froh sein musste, ein wenig dazuzuverdienen. Dann fiel ihr Blick auf den heruntergerissenen Vorhang, der sonst vor der Schlafzimmertür hing. Er zeigte in schwarzer Farbe ein halb nacktes Mädchen zwischen Blumen und Krügen in einer italienischen Landschaft. Die Grundfarbe des seidenen Vorhangs war gelb.

Sie forderte über die 112 einen Notarzt an. Es dauerte keine fünfzehn Minuten, bis der Rettungswagen eintraf. Der Mediziner, ein relativ junger Mann, konnte nur noch den Tod des Malers feststellen. Auf dem Totenschein kreuzte er ungeklärte Todesursache an. Das würde unweigerlich eine Obduktion nach sich ziehen. Dann fuhr er wieder ab.

Noch während Roswitha Färber über ihr Handy den Notruf der Polizei anwählte, dachte sie an die Betrachtungen der Farbe Gelb, die sie an diesem Tag auf dem Weg hierher angestellt hatte. Gelb war nicht nur die Farbe für Missgunst und Hass, für Neid und Streit. Gelb war für sie nun auch die Farbe des Todes.

 

1. Kapitel

Dresden, im Juli 1994

Der Notruf erreichte die Zentrale um 9 Uhr 56. Eine Frau meldete den Fund einer Leiche. Die Leitstelle der Polizei schickte einen Streifenwagen zu der angegebenen Adresse. Die Beamten wiederum verständigten die Kripo, weil der Notarzt auf dem Totenschein ungeklärte Todesursache angekreuzt hatte.

»Wir haben eine Leiche. Der Arzt hat Zweifel an einem natürlichen Tod«, sagte Kriminaloberkommissar Thomas Lenz. »Wir sollen uns das anschauen, Barny.«

Hauptkommissar Barnaby Kern war mit seinen zweiundfünfzig Lenzen ein alter Hase in der polizeilichen Ermittlungsarbeit. Sein Ruf ging weit über die Grenzen Dresdens hinaus. Und so war er nicht nur ein gern gesehener Gastdozent an der Humboldt-Universität in Berlin; für ein Vierteljahr war er auch am Institute of Criminology der Cape Town University in Kapstadt in Südafrika tätig gewesen. Die Kollegen dort hatten ihn mit einer gewissen Hochachtung Barny genannt, und diese Abkürzung seines Namens hatten sich dann auch die Kollegen in Dresden zu Eigen gemacht.

»Wo?«

»In Loschwitz.«

Barnaby Kern stand auf, schob umständlich seinen Stuhl wie-der an den Schreibtisch. Lenz stand schon an der Tür. Sie fuhren von der Polizeidirektion in der Schießgasse über die Steinstraße direkt zum Käthe-Kollwitz-Ufer und dort an der Elbe entlang. Der Ausflugsdampfer Cosel fuhr eine kurze Zeit neben ihnen flussaufwärts. Dann hatten sie ihn überholt. Sie nahmen die neue Umfahrung und kamen von der Rückseite über die Kretschmer und Tolkewitzer Straße zum Schillerplatz. Als sie das Blaue Wunder überquerten, konnten sie linksseitig die Cosel wieder sehen. Vor dem Körnerplatz staute sich der Verkehr, und Thomas Lenz stellte das Blaulicht aufs Dach. Das zuckende Licht brach sich in den Schaufenstern der Geschäfte und wurde mehrfach wiedergegeben. Die Ermittler preschten die Pillnitzer Landstraße entlang und waren nach wenigen Minuten vor dem großen gelben Haus Nr. 57/59 angekommen, in dem seit vielen Jahren ein Teil der Dresdner Künstler wohnte und arbeitete. Zwei Funkwagen standen in der Durchfahrt zum Hintereingang des Gebäudes. Lenz hatte Mühe, den Wagen so zu parken, dass er nicht auf die viel befahrene Pillnitzer Landstraße hinausragte. Den Beamten, der neben einem der Wagen stand, kannten sie nicht. Zu groß war der Apparat in Dresden, um alle zu kennen.

Barnaby Kern zog den Dienstausweis, fragte nur: »Wo?«

»Im hinteren Eingang, Hochparterre.«

Thomas Lenz und Barnaby Kern strebten dem Eingang zu. Die Kollegen der Schutzpolizei des Reviers Nord hatten den Eingang schon mit einem rot-weißen Band abgesperrt, sodass Unbefugte keinen Zutritt zum Tatort hatten. Dennoch war die Neugier der Mitbewohner unübersehbar. Einige schauten ungeniert aus dem Fenster, andere versuchten, dicht an der Absperrung stehend, einige Blicke zu erhaschen und etwaige Neuigkeiten via Zuruf nach oben zu verbreiten.

Die beiden Beamten betraten die Wohnung. Auf dem Sofa saß Roswitha Färber, die nun still vor sich hin weinte. Neben ihr stand einer der Polizisten in Uniform und redete beschwichtigend auf sie ein. Der Hauptkommissar kannte ihn. Es war Polizeiobermeister Östergard.

Also dann, dachte Barnaby Kern, fangen wir an. Jetzt geht es los. Er nickte kurz Thomas Lenz zu und sagte dann zu dem Polizisten in Uniform: »Danke, Kollege. Wir übernehmen das jetzt.« Er sah, wie der Mann wegging, und schaute taxierend die Frau an, die vor ihm saß und ihn mit Tränen in den Augen musterte.

Der Tote lag noch da. Man hatte ihn mit einem Bettlaken zugedeckt. Thomas Lenz war hingegangen, hob das Laken hoch, schaute zum Hauptkommissar hinüber und schüttelte den Kopf.

»Mein Name ist Barnaby Kern. Ich bin Hauptkommissar bei der Mordkommission Dresden. Sie haben ihn gefunden?«

»Ja.«

»Wie heißen Sie?«

»Roswitha Färber.«

»Was haben Sie hier gemacht, Frau Färber?«

»Ich komme zweimal pro Woche, halte dem alten Herrn die Wohnung sauber und kaufe für ihn ein. Er ist nicht mehr so gut zu Fuß.«

»Dann haben Sie einen Schlüssel?«

»Ja. Aber in der Regel brauchte ich ihn nur, um die Haustür zu öffnen. An der Wohnungstür habe ich eigentlich immer geklopft, und Herr Müller-Karsten hat mir geöffnet oder gerufen, ich solle hereinkommen. Diesmal aber war es anders.«

Als die Frau nicht weitersprach, ermunterte er sie: »Was war anders als sonst?«

»Die Haustür war unverschlossen.«

»Vielleicht hatte es der Mann ja vergessen?«

»Seit dem Tod seiner Frau schloss er die Tür immer ab. Er litt so stark unter dem Alleinsein, dass er mit niemandem mehr redete. Mit Ausnahme von Herrn Vester und mir.«

»Wer ist Herr Vester?«

»Sein Sohn.«

»Wieso heißt der Vester?«

»Es war wohl ein Sohn aus der ersten Ehe der Frau.«

Barnaby Kern betrachtete die Frau. Obwohl sie schon um die vierzig war, schien sie unverbraucht. Ihr Gesicht zeigte kaum Falten, und in dem gelben Kleid sah sie hübsch aus. »Sein Sohn? Haben Sie ihn schon verständigt?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Er ist nicht da. Ich habe bei ihm geklopft. Aber er hat nicht aufgemacht, und da ist mir eingefallen, dass er nach Bischofswerda gefahren ist.«

»Was macht er dort?«

»Die Müller-Karstens besaßen dort einen Garten mit einer Laube, die die Frau von ihren Eltern geerbt hatte. Der Vater war vor dem Krieg Fabrikant.«

Thomas Lenz, der hinausgegangen war, um mit einem der Polizisten zu sprechen, die den Eingang sicherten, kam zurück. »Barny, hier hat ein Vester gewohnt. Unten im Souterrain. Der soll mit dem Toten verwandt gewesen sein.«

Barnaby Kern antwortete nicht darauf, sondern fragte die Frau: »Warum sagen Sie nicht gleich, dass Vester hier gewohnt hat?«

»Es waren die Arbeitsräume von Helmut Müller-Karsten. Er hat Thomas Vester dort wohnen lassen, weil der keine Wohnung hatte.«

»Aber heute gibt es doch wirklich genügend Wohnungen auf dem freien Markt«, warf Thomas Lenz ein.

»Der Junge war wohl ein Trinker, der sich für einen Künstler hielt, aber wohl keiner war und nie Geld hatte. Er segelte immer im Windschatten seines bekannten Vaters.«

»Der Junge? Wie alt war denn der Junge?«, fragte Barnaby Kern.

»Wir haben kürzlich seinen neunundvierzigsten Geburtstag gefeiert.«

Thomas Lenz prustete los: »Und da sagen Sie – der Junge?«

Barnaby Kern schaute seinen Kollegen an und schüttelte tadelnd den Kopf. »Na ja, das müssen Sie uns erklären«, sagte der Hauptkommissar.

»Seine Mutter sagte immer »Der Junge braucht unsere Hilfe.« Und da er lebensuntüchtig war, hieß er auch bei mir so.«

»Wieso war er lebensuntüchtig?«, bohrte Kern nach.

»Wenn er einmal Arbeit hatte, flog er gleich wieder raus, weil er nie pünktlich war und ständig eine Alkoholfahne hatte. Wie gesagt, er war Trinker.”

»Aber er muss doch von irgendwas gelebt haben.«

»Helmut Müller-Karsten malte manchmal an einem Tag mehrere Aquarelle. Meist welche, die junge Frauen in allen Lebenslagen zeigten. Seine Frau reklamierte dann regelmäßig die schönsten Bilder für sich. Aus diesem Fundus bediente sich Vester mit Wissen der Mutter, denn er kannte immer Leute, die ihm die Bilder unter Wert abkauften.«

»Also war eigenes Arbeiten und Verdienen gar nicht zwingend nötig«, stellte Kern fest.

»Nicht wirklich.«

»Sehen wir uns das Untergeschoss an. Haben Sie einen Schlüssel?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich habe nur hier oben sauber gemacht. Aber der Schlüssel müsste auf dem Spiegeltisch liegen.

Thomas Lenz ging zu dem rotbraunen Barockspiegel. Die geschweiften Beine waren goldüberzogen, die Tischplatte aus weißem Marmor. Den Spiegel selbst hatte man auf diesem Tisch aufgesetzt. Er reichte bis fast an die Decke. Unten schloss er mit der Wand ab, während er oben etwa zwanzig Zentimeter in den Raum hinein abstand. Beidseitig hingen Putten an der Wand. Diese kleinen, meist nackten Kinder- oder Engelsfiguren, die in der Frührenaissance aufkamen, wurden dem Höhepunkt des Barocks zugeschrieben. Lenz fragte sich, ob das alles echt war, kannte sich aber zu wenig aus, um eine Antwort zu finden. Dann sah er den Schlüssel liegen. Gemeinsam gingen sie die beiden Halbtreppen hinunter zum Souterrain.

»Sie bleiben bitte hier«, sagte Barnaby Kern zu der Frau, während Lenz aufschloss.

Der Anblick, der sich ihnen bot, war gespenstisch. Bilder lagen verstreut auf dem Boden. Eine Druckplatte zur Herstellung von Lithografien hatte man zum Teil zerschlagen. Die Wände waren mit roter Farbe beschmiert. »Ich weiß nicht, welcher Teufel hier gewütet hat«, sagte der Hauptkommissar zu Thomas Lenz, »aber es sieht nach einer Verwüstungsorgie aus. Ruf die Spurensicherung an und die Rechtsmedizin. Das volle Programm.

Als Thomas Lenz zum Wagen ging, um in der Zentrale anzurufen, begab sich Kern mit der Frau wieder hinauf zur Wohnung. »Brauchen Sie mich noch? Mir ist der Aufenthalt in dieser Wohnung unheimlich«, sagte sie.

»Tote beißen nicht mehr, Frau Färber«, sagte Barnaby Kern. »Ich habe noch einige Fragen.«

Während sich die Frau wieder dort hinsetzte, wo sie zuvor gesessen hatte, schaute Kern ins Schlafzimmer. Es war unaufgeräumt. Das Bett schien schon seit Tagen nicht mehr gemacht worden zu sein. Man hatte es auch nicht bezogen. Rot und anklagend leuchtete das Inlett. Kern drehte sich um und fragte die Frau: »Das Bett ist nicht bezogen. War das hier so üblich?«

»Seit dem Tod seiner Frau hat Müller-Karsten das Schlafzimmer nicht mehr benutzt. Die Frau ist in diesem Zimmer verstorben.«

Die Luft war drückend. Kern stellte fest, dass hier nichts durchwühlt schien. Aber richtig würde er es erst wissen, wenn die Spurensicherung ihre Arbeit verrichtet hatte. Er schloss die Tür wieder und ging zurück zum Tisch. »Wo wohnen Sie eigentlich?«, fragte er unvermittelt.

»Auf der anderen Elbseite in Blasewitz.« Sie wartete einen Augenblick, und als der Kommissar nichts sagte, fuhr sie fort: »In der Sebastian-Bach-Straße, Ecke Tolkewitzer Straße. Aber im Sommer bleibe ich meist tagelang auf meinem kleinen Laubengrundstück in Coschütz. Ich habe einen schönen Garten mit vielen Blumen. Das ist mein Hobby.«

»Oh, Sie haben ein Laubengrundstuck?«

»Mein Vater hat es mir hinterlassen. Es ist zwar nur gepachtet, aber der Pachtzins ist so niedrig, dass ich es mir gerade noch leisten kann. Dafür muss ich nicht verreisen.«

»Sind Sie nicht verheiratet?”

»Geschieden.«

Er dachte kurz daran, dass es eine Vergeudung weiblicher Ressourcen sei, wenn eine solche Frau allein lebte. Normalerweise war es nicht seine Art, weitere Fragen zu stellen, die in das Privatleben eines Menschen eingriffen. Aber hier ging es um mehr. Vielleicht sogar um Mord, und da schob er seine Zurückhaltung beiseite. »Haben Sie einen Lebensgefährten?«

»Ist es wirklich nötig, eine solche Frage zu stellen?« Roswitha Färber war pikiert. Genau so hatte er sie eingeschätzt.

Barnaby Kern nickte.

»Nein, ich lebe allein. Im Augenblick jedenfalls.«

»Ich werde einen Streifenwagen nach Bischofswerda schicken, um diesen Vester zu holen. Wissen Sie, wo sich das Grundstück befindet?«

»Irgendwo im Drebnitzer Weg oder im Anschluss daran. Da sind noch einige Gartenanlagen. Aber fragen Sie mich nicht, wie es genau heißt.«

»Das klingt, als wären Sie schon einmal dort gewesen.«

»Mein Bruder hat ein Auto. Wir haben die Müller-Karstens einmal hingefahren, weil sie kein eigenes Fahrzeug hatten.«

»Würden Sie das Grundstück wiederfinden?«

»Bestimmt.«

»Wäre es zu viel verlangt, Sie zu bitten, uns kurz den Weg zu zeigen?«

Die Frau überlegte einen Augenblick: »Na ja, dann wäre es mir zu spät, um nach Coschütz zu fahren. Aber ich kann ja auch eine Nacht in meiner Wohnung verbringen.«

»Das ist kein Problem. Wir können Sie im Streifenwagen rausfahren. Sie würden uns wirklich sehr helfen.«

Barnaby Kern zeigte ihr mit einer Handbewegung, dass sie warten möge, und ging hinaus. Östergard stand mit einem anderen Polizisten an der Absperrung. Sie stellten ihr Gespräch ein, als sie den Hauptkommissar auf sich zukommen sahen. »Sie fahren jetzt nach Bischofswerda. Dort holen Sie einen Mann ab und bringen ihn in die Schießgasse. Damit Sie den Weg finden, wird Sie eine Zeugin begleiten.«

 

Während der Polizeiobermeister zu seinem Streifenwagen ging, um die Zentrale von seiner Fahrt zu informieren, holte Kern die Frau. Auf der Treppe trafen sie auf Thomas Lenz, der von dem Gespräch mit der Zentrale zurückkam. »Die Kollegen sind unterwegs. Den Doktor mussten sie aus seiner Wohnung holen.«

Kern brachte die Frau zum Streifenwagen. Thomas Lenz ging wieder hoch in die Wohnung mit dem Toten. »Wenn wir Glück haben, wissen wir heute Abend mehr«, sagte Kern, als er in der Wohnung ankam.

Thomas Lenz hatte sich Latexhandschuhe übergezogen und machte sich an einem alten Schreibschrank mit Aufsatz zu schaffen. Es war kein besonders gearbeitetes Stück, strahlte dennoch Behaglichkeit aus.

»Ich habe hier einen interessanten Briefwechsel mit einem gewissen Dieter Schubert aus Stuttgart aus dem Jahr 1979. Da heißt es unter anderem: Lieber Helmut Müller-Karsten, ich bin bemüht, eine Ausstellung für Sie hier in Stuttgart zu organisieren. Das Problem ist nur, dass der staatliche Kunsthandel der DDR Ihre Bilder nicht aus dem Land lassen will. Ich werde versuchen, mit Verantwortungsträgern Ihres Landes Verbindung aufzunehmen, um doch noch eine Ausstellung zustande zu bringen. Wie geht es Ihrer charmanten Frau Ursula? Blablabla … Ihr Dieter Schubert. Glaubst du, dass das was mit dem Fall zu tun hat?«

»Spekulation, Thomas. Aber wir müssen allen Spuren nachgehen.«

Kurze Zeit später traf die Spurensicherung ein. Hauptkommissar Maximilian Slupinski, der Leiter der Truppe und ein gewiefter Kriminaltechniker, streckte den Kopf zur Tür herein und nickte den beiden zu.

»Ich weiß nicht, ob der alte Mann eines unnatürlichen Todes gestorben ist«, teilte Kern ihm mit. »Die Arbeitsräume sind verwüstet, und da solltet ihr anfangen.« Er nahm den Schlüssel, den er ordnungsgemäß auf den Spiegeltisch zurückgelegt hatte, und ging mit Slupinski die beiden Halbtreppen hinunter.

»Wer ist der Tote?«, fragte Slupinski.

Barnaby Kern hob die Schultern, sagte: »Ein Kunstmaler. Helmut Müller-Karsten.«

Slupinski stieß einen leisen Pfiff aus.

»Kennst du ihn?«

»Du nicht? Ich habe vor der Wende nach einer Ausstellung zwei Bilder direkt von ihm erwerben können. Ein Aquarell, Blumenstrauß in meinem Garten, und ein Litho, das eine Katze zwischen Blumen zeigt. Ich hab es für Monika gekauft. Sie hat es mit Katzen.«

Sie waren vor der Tür zum Arbeitsraum des Künstlers angekommen. Kern fragte: »Was war das für ein Mann?«

»Er war ein sehr bescheidener Mann. Während der gesamten Vernissage saß er ruhig auf einem Stuhl in einer der Ecken des Raumes. Man hatte den Eindruck, er würde sich fast bedanken, wenn einer sich mit ihm über eines der Bilder unterhielt.«

»Sind die Dinger etwas wert?«

Slupinski lachte: »Die Bilder sind heute ein Vielfaches wert.«

Barnaby Kern öffnete die Tür. Slupinski blieb einen Augenblick bewegungslos im Eingang des Raumes stehen. Nur seine Augen wanderten von einer Ecke zur anderen, nahmen die Verwüstungen auf. »Was denkst du?«, drängte er.

»Dass jemand etwas gesucht haben könnte. Aber noch weiß ich es nicht genau.«

Zwei seiner Leute kamen in ihren weißen Schutzanzügen, grüßten, blieben einen Augenblick stehen und gingen, nachdem ihr Chef sie mit einem Nicken aufgefordert hatte, an die Arbeit.

Als Kern wieder in die Wohnung im Hochparterre kam, war Thomas Lenz noch immer dabei, die Privatpost des Malers zu sichten. »Ich habe einen Brief ohne Absender, aber mit einem Ort vor dem Datum gefunden, der offensichtlich von seinem Sohn stammt, denn er beginnt mit Lieber Vater, wie Du siehst, ist aus mir auch etwas geworden. Kein Maler, denn dazu fehlt mir jedes Talent. Aber ich denke, ich bin ein brauchbarer Journalist und Buchautor geworden. Es ist mir gelungen, mit einem Diplomaten meinen ersten Roman für Dich mit nach Dresden zu geben. Blablabla … Dein Sohn. Der Brief kommt aus Öhningen.«

»Wo in Gottes Namen liegt Öhningen?«

»Am Bodensee.« Die Stimme kam von Johannes Bahrmann, dem Rechtsmediziner, der in der Tür stand.

»Hallo Doktor«, sagte Lenz.

»Ich hörte, man hat Sie aus der Freizeit gerissen«, stellte Kern fest.

»Genau gesagt, man hat mich wieder einmal um meinen frei-en Tag beschissen.«

Der Doktor ging schnurstracks zu dem abgedeckten Toten, stellte seine Tasche daneben ab und zog das Laken weg. Dann machte er sich an der Leiche zu schaffen.

Kern und Lenz hatten sich wieder den Briefen zugewandt. »Oh, da ist noch ein Brief von diesem Schubert«, sagte Thomas Lenz. »Hier steht Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, wie wir Ihre Bilder, ganz offiziell mit staatlicher Genehmigung der Behörden der DDR hier ausstellen können. Ich werde Sie bald besuchen und Ihnen die Möglichkeit in allen Einzelheiten erläutern. Stellen Sie, lieber Helmut Müller-Karsten, nur schon Bilder für eine Ausstellung zusammen, damit wir dann zügig zu Werke gehen können. Blablabla … Ihr Dieter Schubert

»Du mit deinem ewigen Blablabla«, sagte Barnaby Kern unwirsch.

»Ich kann auf Anhieb keine Verletzungen feststellen und, wenn ich mich nicht ganz irre, auch keinerlei toxische Einwirkungen. Aber Genaues erst nach der Obduktion.«

»Todeszeit?«

»Die Leichenstarre ist fast vorüber … Vor ungefähr drei Tagen plus minus.«

»Wie stellen Sie das so genau fest, Doktor?«, fragte Lenz.

»Etwa ein bis zwei Stunden nach dem Tod werden die Muskeln unbeweglich. Ihre Energiespeicher sind nahezu aufgebraucht.

Ohne Blutzirkulation und damit ohne Sauerstoff können sie nicht neu aufgefüllt werden. Die Muskelfasern verhaken sich, die Totenstarre, Rigor mortis, setzt ein. Die Leichenstarre beginnt beim Menschen an den Lidern, der Kaumuskulatur und den Muskeln der kleinen Gelenke. Dann breitet sie sich innerhalb von etwa acht Stunden über Kopf, Rumpf und Extremitäten fortschreitend nach unten aus. Die Starre hält bis zu vier Tagen an und löst sich dann wieder. Die Muskeln erschlaffen in der gleichen Reihenfolge, in der sie erstarrt sind.«

Der Doktor telefonierte nach einem Leichenwagen, der den Toten ins Rechtsmedizinische Institut in die Fetscherstraße 74 brachte. Dann verabschiedete er sich und war ebenso schnell verschwunden, wie er gekommen war.

»Willst du nicht die Tatortgruppe des LKA benachrichtigen?«, Lenz.

»Nein. Wir haben einen alten Mann, der wahrscheinlich eines natürlichen Todes gestorben ist und durchgewühlte Arbeitsräume, die darauf hinweisen, dass irgendwer irgendwas gesucht hat, möglicherweise, um sich daran zu bereichern. Warten wir, was die Spurensicherung ergibt.« Die Männer verließen die Wohnung.

»Wir werden jetzt Klinkenputzen gehen«, sagte Barnaby Kern. »Alle, die nach der Seite oder hinten raus wohnen, müssen befragt werden, ob ihnen in den letzten Tagen etwas aufgefallen ist. Oft stehen Menschen am Fenster, weil sie nicht schlafen können oder neugierig sind, wenn sich etwas Ungewöhnliches an ihrem Haus tut.« Er wies beim Rausgehen einen der Polizisten an, dafür zu sorgen, dass niemand die Wohnung zu betreten hatte, während sie im Haus arbeiteten. Dann verschwanden die beiden Männer im Vordereingang.

Als sie am Nachmittag wieder im Präsidium in der Schießgasse waren, meldete sich der Streifenwagen aus Bischofswerda per Funk. »Östergard. Herr Kern, es ist niemand auf dem Grundstück in Bischofswerda anwesend. Auch die Nachbarn haben seit dem Wochenende niemanden mehr gesehen.«

»Fahren Sie bitte die Frau nach Dresden-Coschütz. Ich darf mich bedanken und wünsche Ihnen einen schönen Feierabend.”

Einen Augenblick dachte Kern nach. Bis Montag würde er warten. Tauchte dann dieser Vester nicht auf, müsste nach ihm gefahndet werden.