3:2 - Deutschland ist Weltmeister

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Die Schweizer schenken uns neben der großen Konkurrenz nur wenig Beachtung. In Scharen kommen sie und schauen den Südamerikanern beim Training zu; sie können sich an ihrer

Ballartistik nicht sattsehen. In unserer mehr nüchternen und sachlichen Art warten wir, bis sich die Zuschauer verlaufen, und nur noch unsere Anhänger auf dem Platz sind. Das Training umfasst ein reichliches Pensum an Laufarbeit. Wir drehen Runden auf der Bahn, erst gemächlich, machen zwischendurch ein paar Starts wie in Grünwald. Dann spielen wieder fünf Mann gegen fünf oder Sturm gegen Hintermannschaft. Jedenfalls ist alles darauf abgestellt, uns zu lockern und gut in Kondition zu halten.

»Ich werde einfach das Gefühl nicht los, wir müssen eines Tages gegen die Urus spielen!«

Davon bin ich fest überzeugt, und die anderen sind es auch. Die Vorstellung hält sich, weiß der Teufel warum, lange Zeit und wird zur fixen Idee für die ganze Mannschaft.

Es ist selbstverständlich, dass uns diese Vorahnung gleich am Samstag, einen Tag nachdem wir in der Schweiz eingetroffen sind, nach Thun treibt, wo die Urus gegen die Thuner Stadtmannschaft antreten. Die Gastgeber, die uns ihr schönes Stadion zum Training überlassen, sind gerade in die I. Schweizer Liga aufgestiegen.

Auch die Ungarn kommen aus Solothurn, um ihre viel gerühmten Rivalen spielen zu sehen. Unser Jupp Posipal, der aus dem Banat stammt und ungarisch spricht, geht gleich auf Rechtsaußen Zoltan Czibor zu. Vor Jahren hat er mit ihm die Schulbank gedrückt, jetzt begrüßt er ihn herzlich. Jupp kennt auch die anderen Ungarn ganz gut, weil er mit Herberger beim Spiel Österreich gegen Ungarn (0:1) in Wien war.

Die Zuschauer des ungleichen Fußballkampfes Uruguay – Thun kommen voll und ganz auf ihre Kosten. Die Südamerikaner sparen nicht mit Tricks und Raffinessen. Ihre spielerische Eleganz, ihre traumwandlerisch sichere Ballbehandlung sind bestechend. In der ersten Halbzeit wehren sich die Thuner noch recht tapfer, sie haben sogar ein paar Torgelegenheiten. Nach der Pause aber gehen sie im Wirbel der Urus unter. Mit einer zweistelligen Packung verlassen sie den Platz.

Wir bestaunen und bewundern die Südamerikaner, erkennen aber auch, dass ihre Deckung nicht reibungslos funktioniert. Taktisch, als Mannschaft gesehen, sind diese Individualisten durchaus verwundbar. Wenn wir in bester Form gegen sie antreten könnten, mit unserem schnellen, direkten Spiel ohne jeden Schnörkel, trauen wir uns durchaus eine Chance gegen den Weltmeister von 1950 zu. Wir sind zwar beeindruckt, aber doch nicht so, dass wir Komplexe mit heimnehmen. Im Gegenteil – unser Selbstvertrauen wächst um ein gutes Stück.

Nur ein Spieler fasziniert mich von der ersten Minute an, Juan Schiaffino, der berühmte Halbstürmer. Auch Herberger ist der Meinung, dass er hoch über alle hinausragt. Es ist ein Genuss, diesem Mann zuzuschauen. So begeistert bin ich, dass ich meiner Frau schreibe:

»Ich wünschte mir nur, zehn Jahre jünger zu sein und mit ihm in einer Mannschaft spielen zu können!«

Wie dir Urus nutzen die Ungarn und die Brasilianer jede sich bietende Gelegenheit zu ähnlichen Übungsspielen. So wählen die Ungarn beispielsweise Young Boys Bern als Partner.

Herberger hält weniger von dieser Art zu trainieren.

»In solchen Begegnungen tritt doch immer deutlich die Überlegenheit einer Mannschaft zutage. Und das ist für die Weltmeisterschaft, bei der man nur mit gefährlichen Gegnern zu rechnen hat, nicht ganz das Richtige.«

Andere Trainer vertreten demgegenüber den Standpunkt, durch solche Spiele würde sich ein Team noch eher finden und noch besser kennenlernen. Unangefochten steht eine Ansicht neben der anderen. Jeder handelt nach seiner Fasson.

Im Hotel Belvédère leben wir uns prächtig ein. Die Speisekarte ist reichhaltig, und wir haben keinen Grund, uns über irgend etwas zu beklagen. Hinter dem Büfett in unserem Speisesaal regiert eine energische Blondine, von der die hin und her flitzende Bedienung ganz nett am Gängelband gehalten wird. Werner Liebrich, bei uns nur der »Kleine« genannt, tauft sie dann auch bald »Feldwebel«, später heißt sie einfach »Sergeant«. Sie ist aber keineswegs beleidigt, und wir haben bald heraus, dass hinter ihrer rauen Schale ein weicher Kern steckt. Auch die Serviermädchen haben schnell ihren Spitznamen weg, eine rufen wir zärtlich »Schwärzchen«. Doch gleich ob »Sergeant« oder »Schwärzchen«, sie sind rührend um uns besorgt, und wir fühlen uns geborgen und gut aufgehoben.

Helmut Rahn sprüht vor Kraft und Lebensfreude. In aller Herrgottsfrühe steht er auf dem Balkon und imitiert in zwerchfellerschütterndem Tonfall seine geliebte Essener Marktfrau:

»Prima schnittfeste Tomaten heute, Leute!

Kauft die prima Oma-Lutsch-Birnen!«

Oder er wälzt sich mit Werner Liebrich in einem turbulenten Freistilringkampf am Boden, stellt seinem Gegner den Fuß auf den Bauch und verdreht ihm fürchterlich die Glieder. Zum Zeichen der Aufgabe klopft Werner dreimal auf den Boden. Beide Kämpfer sind nassgeschwitzt. Wir stehen im Kreis herum und klatschen hingerissen Beifall. Der Boss aber hat noch nicht genug. Er dreht Werner, der vor Lachen kaum noch Luft kriegt, auf den Bauch und beißt ihn mit aller Kraft in den Hintern. Der »Kleine« schreit wie am Spieß, und wir brüllen vor Vergnügen. Krumm genommen wird grundsätzlich nichts, das versteht sich ganz von selbst. Einer mag den anderen gern, auch wenn man sich mal ein wenig auf die Schippe nimmt.

DAS ERSTE TÜRKEN-SPIEL

Unter täglich gleich gewissenhaftem Training vergehen die Tage bis zum Spiel gegen die Türkei. Die Vorbereitungen lassen keinen Zweifel darüber, dass wir diesen Kampf auf alle Fälle gewinnen müssen. Schon als wir uns in Saarbrücken die nötigen Punkte holten, um in die Schweiz fahren zu können, war Herbergers Programm fix und fertig: Über die Ungarn würden wir es nie schaffen, unter die letzten Acht zu kommen, das stand für ihn fest. Alles dreht sich deshalb einzig und allein darum, gegen die Türken zu gewinnen. Selbst ein Unentschieden würde uns praktisch aus dem Rennen werfen, denn dann müssten wir die Ungarn besiegen, und diese Möglichkeit lässt der Chef, wie schon gesagt, ganz außer Betracht. Auch zwei Unentschieden, gegen die Ungarn und gegen die Türkei, nützen uns nichts. Wir hätten 2:2 Punkte, die beiden Rivalen aber durch Siege über Korea jeweils 3:1 Punkte. Ohne eine Niederlage erlitten zu haben, müssten wir ausscheiden! Es gibt also nur eine Möglichkeit: Wir versuchen, durch ein zweites Türken-Spiel, das natürlich auch gewonnen werden muss, in das Achtelfinale zu kommen.

So alt wie diese Überlegung ist Herbergers Entschluss, nicht die stärkste Mannschaft gegen Ungarn einzusetzen, um einige Spieler für das zweite Treffen mit den Türken zu schonen. In vielen deutschen Zeitungen und auch in der breiten Öffentlichkeit hat man ihn dieses Planes wegen vernichtend kritisiert.

Der 17. Juni, der Tag unseres ersten Spiels im Rahmen der Fußball-Weltmeisterschaft, kommt heran! Wir haben ihn brennend herbeigesehnt. Endlich werden wir zeigen können, dass trotz aller Unkereien etwas in uns steckt.

Vor dem Mittagessen ruft Herberger zur heute besonders wichtigen Spielersitzung, bei der auch die endgültige Mannschaftsaufstellung bekanntgegeben wird. Der Stamm ist zwar schon lange bestimmt, nur in der Rechtsaußenfrage – Rahn oder Klodt? – und in der Torhüterbesetzung – Turek oder Kubsch? – wird noch hin und her überlegt? Die Elf spielt schließlich mit Turek; Laband, Kohlmeyer, Eckel, Posipal, Mai; Klodt, Morlock, O. Walter, F. Walter, Schäfer.

»Die Türkei braucht, weil sie ›gesetzt‹ ist und weil sie gegen Korea bombensicher gewinnt, nur ein Unentschieden! Vergesst das nicht!« Herberger hämmert es uns immer wieder ein.

»Sie wird betont auf Deckung spielen, uns anrennen lassen und dann versuchen, mit einem blitzschnellen Vorstoß ein Tor zu schießen. Ihr dürft euch in der ersten Viertelstunde auf keinen Fall überrumpeln lassen!« Aufmerksam hören wir zu. Der Chef studiert jede Nationalmannschaft gründlich, bevor er uns gegen sie aufs Feld schickt, und seine Ratschläge sind nur zu oft Stütze und Halt.

»Versucht, möglichst bald ein Tor zu machen, damit die Türken aus ihrer zu erwartenden Defensive herausgehen. Das könnt ihr dann ausnutzen, um euren Vorsprung auszubauen.«

Auch die Aufgaben der Verteidigung werden noch einmal durchgehechelt, die Zusammenarbeit von Außenläufern und Halbstürmern. Wenn sich die Außenläufer vorn in den Angriff einschalten, soll dafür der Halbstürmer zurückbleiben und Deckungsaufgaben übernehmen.

Bei Einwürfen auf keinen Fall herumstehen und warten, bis der Ball kommt! Einer läuft hin zu dem, der einwirft, als ob er das Leder annehmen möchte. Damit zieht er den Gegner auf sich; der Ball aber wird in Wirklichkeit einem anderen Kameraden zugeworfen, der inzwischen in entsprechende Position gelaufen ist. Ständig soll Bewegung sein, der Gegner muss irritiert werden! Keinen Augenblick darf er wissen, woran er ist.

Ein Problem für sich sind die gegnerischen Freistöße. Immer wieder, vor allem bei unserem Grünwalder Lehrgang, haben wir geübt, wie sie am sichersten abzuwehren sind. Einer legt den Ball in Strafraumnähe zum Freistoß bereit, die anderen mussten blitzschnell eine Mauer bilden. Toni Turek, oder wer gerade im Tor war, hatte fix den Standpunkt des Flügelmannes der Abwehrmauer zu bestimmen. Kam der Freistoß von rechts, war nach Möglichkeit unser rechter Läufer Flügelmann, kam er von links, war es der linke Läufer. Er hatte sich so zu stellen, dass dem Gegner kein freies Schussfeld blieb, dass er entweder die Mauer oder den Torwart anschießen musste. Bei eigenen Freistößen gilt als abgemacht, dass sie kurz vor dem gegnerischen Strafraum von mir getreten werden. Mit Effet hebe ich sie über die Mauer. Im Mittelfeld übernehmen Leute mit kräftigem Schuss, wie Ottmar oder Max Morlock, die Ausführung.

 

Bei eigenen Eckbällen halten wir uns an folgende Regel: Von rechts schießt sie der Rechtsaußen, die von links übernehme ich. Sie sind meine Spezialität; in einem einzigen Training habe ich sie oft dreißig- bis vierzig Mal geübt. Ich schieße Ecken von links mit dem rechten Fuß und gebe ihnen – Gefühlssache! – den nötigen Effet. Um den Gegner zu irritieren, haben wir eine oft erfolgreiche List ausgeheckt: Bei der ersten Ecke läuft ein Spieler dem Ball entgegen, als rechne er damit, dass er kurz hereinkommt. Dadurch zieht er einen oder auch zwei Deckungsspieler auf sich. Die Ecke kommt aber lang. Zwei, drei Spieler von uns, die sich von vornherein darauf eingestellt haben und am langen Eck lauern, sind dadurch weniger bewacht. Sie haben oft eine Chance, das Leder ins Tor zu schießen oder zu köpfen. Beim zweiten Eckball läuft wieder einer unserer Stürmer dem Ball entgegen. Die gegnerische Abwehr, die sich nicht an der Nase herumführen lassen will, reagiert auf die vermutliche Finte nicht, weil sie, gewarnt durch das erstemal, mit einer langen Ecke rechnet. Aber die Ecke kommt wirklich kurz.

Eine Kriegslist, die man beliebig variieren kann, und die komplizierter klingt als sie ist.

Dann die Elfmeter! Am Anfang hab’ ich mich heftig gesträubt, sie auszuführen. Herberger aber hat angeordnet:

»Bei mir schießen Sie die Elfmeter! Auch wenn es in Ihrer Vereinsmannschaft ein anderer macht! Sie können ruhig einen Strafstoß verschießen. Die Verantwortung dafür übernehme ich. Hauptsache, dass Sie schießen!«

Es kann natürlich vorkommen, dass der Elfmeterschütze aus irgendwelchen Gründen gerade nicht einsatzfähig ist. Vor dem Spiel wird deshalb schon ein Schütze Nummer Zwei bestimmt. Beim Türken-Spiel hieß er Jupp Posipal.

Auch die eventuelle Verletzung des Torwarts ist einzukalkulieren. Beim Training sind Kohlmeyer, Liebrich, Rahn und Ottmar im Tor ausprobiert worden. Wenn Turek verletzt wird, soll Ottmar für ihn ins Tor gehen. Aber nur für den Fall, dass wir im Vorteil sind und auf einen Stürmer verzichten können. Umgekehrt, wenn es darum geht, unter allen Umständen einen gegnerischen Vorsprung aufzuholen, soll Kohlmeyer die Torhüterrolle übernehmen.

Ich glaube nicht, dass Herberger in dieser gründlichen Spielersitzung etwas vergessen hat. Voll guter Vorsätze für das Spiel gehen wir in den Speisesaal zum Mittagessen.

»Poulet« steht auf der Karte, unser vor Länderspielen schon zur lieben Gewohnheit gewordenes Hähnchen; ein leichtes, aber kräftiges Essen.

Nach Tisch ist wie jeden Tag Bettruhe. Wer nicht schlafen kann, liest oder hört wie ich Kofferradio. Geruht werden muss auf jeden Fall. Deuser geht von einem Zimmer zum anderen und macht bei den elf, die zum Spiel aufgestellt sind, eine leichte Auflockerungsmassage.

Langsam wandert der Uhrzeiger! Endlich können wir dann aber doch unsere Siebensachen zusammenpacken und in den Omnibus klettern, der uns nach Bern bringt.

»Singen oder laufen!« heißt es beim Einsteigen, und ich kann versichern, dass noch niemand gelaufen ist.

Von Spiez nach Bern sind es nur etwa dreißig Kilometer. Als wir vor dem Stadion eintreffen und den Bus verlassen, nehmen uns begeisterte deutsche Schlachtenbummler in Empfang. Fähnchenschwenkend wünschen sie uns alles Gute.

Zum ersten Mal im Verlauf der Weltmeisterschaft gehen wir in unsere Kabine. Jeder sucht einen Platz und beginnt sich umzuziehen. Wir spielen in schwarzen Hosen und weißen Trikots!

Das ist heute nicht so selbstverständlich, wie es klingt, denn die Türken haben ebenfalls weiße Trikots (mit rotem Brustring). Damit der Schiedsrichter nicht irritiert werden kann und Verwechslungen zwischen den Spielern selbst ausgeschlossen sind, muss eine Mannschaft andere Trikots tragen. Es wird gelost, wer in seinem gewohnten Dress auf den Rasen darf. Eine Viertelstunde vor Spielbeginn kommt Dr. Bauwens freudestrahlend in die Kabine und verkündet.

»Das richtige Los hab’ ich schon mal erwischt! 1:0 für uns! Alles andere liegt jetzt bei euch!« Wir dürfen unsere gewohnten Trikots tragen, die Türken nehmen rote mit weißem Bruststreifen.

Herberger prüft den Rasen, Dassler sorgt dafür, dass die richtigen Stollen auf die Schuhe geschraubt werden, Arzt, Masseur – sie alle sind auf ihrem Posten. Auch ein paar von den elf Mann, die nicht spielen, müssen in der Kabine bleiben. Es könnte in letzter Minute noch etwas passieren. Erst wenn alle Spieler draußen sind, dürfen die Ersatzleute zu den anderen auf die Zuschauerbänke. Alle, die heute nicht eingesetzt werden, geben uns vor dem Spiel die Hand und wünschen »Hals- und Beinbruch«!

Jeder von uns elf sucht noch einmal das ganz stille Örtchen auf. Aufgeregtere laufen auch zwei- oder dreimal.

Herberger erinnert schnell an seine wichtigsten Anweisungen. Als draußen auf dem Gang der Pfiff des Schiedsrichters zum Fertigmachen ertönt, drückt er mir, dem Spielführer, kräftig die Hand.

»Alles klar?« frage ich die Kameraden.

»Alles klar! Jeder seinen Mann!«

Wir verlassen unsere Kabine. Mit den Türken betreten wir den Platz, umbraust vom Jubel der deutschen Landsleute, die von den rund 30.000 Zuschauern glatt die Hälfte ausmachen. Die Mannschaften stellen sich in einer Reihe auf, in der Mitte Schiedsrichter da Costa, Portugal, flankiert von beiden Linienrichtern.

Zum ersten Mal während der Weltmeisterschaft hören wir die deutsche Nationalhymne. Für uns ein feierlicher Augenblick.

Nachdem sich die Spielführer – Turgay und ich – dem Schiedsrichter vorgestellt haben und von ihm mit den Linienrichtern bekannt gemacht worden sind, tausche ich mit dem türkischen Mannschaftskapitän die Wimpel aus.

»Alles Gute!« wünsche ich ihm dabei und »Hals- und Beinbruch!«

Ob er mich versteht? Den Sinn meiner Worte bestimmt; er entgegnet mit festem Händedruck auf französisch:

»Bonne chance!« – »Viel Glück!«

Endlich, endlich ist es soweit!

Der Schiedsrichter pfeift nach der Platzwahl – ich gewinne sie – unser erstes Spiel um die Weltmeisterschaft an.

Schreckschuss ohne Wirkung

Die Türken haben Anstoß. Kohli fängt ihren Angriff ab. Dann greifen wir an und sind sofort gut in Form. Aber schon nach drei Minuten tritt das ein, was wir unter allen Umständen vermeiden wollten. Der gefährliche türkische Halbrechte Suat wird bei einem überraschenden Vorstoß nicht am Schuss gehindert. Unsere Hintermannschaft ist nicht gleich im Bilde. Der an und für sich harmlose Ball geht unter Toni Turek, der sich zu spät danach wirft, ins Tor.

Wir erstarren zu Salzsäulen. Die Türken springen vor Freude in die Luft, sie stürzen aufeinander zu und fliegen sich um den Hals. Wir haben nur einen Gedanken: ihnen genügt ein Unentschieden! Und jetzt liegen sie schon 1:0 im Vorteil!

Der Schock wirkt zum Glück nur kurze Sekunden. Wir schauen einander an, und Max Morlock schreit:

»Macht nix! Jetzt erst recht!«

Ottmar und ich stehen in seiner Nähe. Mit Händen und Füßen redend geben wir den anderen zu verstehen: Lasst jetzt bloß die Köpfe nicht hängen! Im Nu haben wir uns wieder in der Gewalt; mit verstärktem Elan stürmen wir los.

Die Taktik der Türken ist für uns eine große Überraschung. Sie verlegen sich durchaus nicht so ausschließlich auf die Verteidigung, wie wir es erwartet haben. Immer wieder brechen sie durch, spielen wirklich gescheit ihren Mittelstürmer an, und der setzt geschickt die Flügelstürmer ein. Ihr Kombinationsspiel klappt vorzüglich. Diese Türkenmannschaft, die ja – und das war die erste Sensation – das »gesetzte« Spanien ausgeschaltet hat, ist weit stärker als in Berlin, wo sie (auf den Tag genau vor drei Jahren) gegen eine schwach spielende deutsche Mannschaft 2:1 gewonnen hat. Sie ist auch weit stärker als beim Rückspiel in Istanbul, wo wir uns am 21. November 1951 sehr, sehr schwer taten, einen 2:0-Sieg zu erringen.

Da kommt von der Läuferreihe, von Eckel, ein Pass zu mir. Bevor ich den Ball am Fuße habe, weiß ich schon, was er will. Steil lege ich ihn Max Morlock vor, der sofort in Stellung läuft. Er reagiert genau so prompt, erkennt blitzschnell, dass sich Hans Schäfer von seinem Posten als linker Flügelstürmer löst und in die Mitte startet. Haargenau spielt Max in den freien Raum. Schäfer bekommt den Ball direkt auf den Fuß, nimmt ihn mit und stürmt – stürmt zwischen zwei Verteidigern in der Mitte durch und schießt an dem herauslaufenden Torwart Turgay vorbei in der 13. Minute den Ausgleich.

Nun liegen wir uns in den Armen.

»So, jetzt kann’s losgehen!«

»Aufpassen!«

»Nur nicht nachgeben!«

Aufgemuntert forcieren wir das Tempo und unser ganzes Spiel. Keine Spur mehr von Nervosität bei uns im Sturm, immer häufiger gehen wir zum Angriff über. Aber die türkische Hintermannschaft gibt sich keine Blöße. Die beiden Verteidiger sind eisenhart, und Turgay hat einen guten Tag. Mit aller Kraft setzen sich unsere Gegner zur Wehr, dabei sind harte Zweikämpfe unvermeidlich. Sie sehen von außen her jedoch meist viel schlimmer aus, als sie wirklich sind. Man geht auch gleich aufeinander zu, entschuldigt sich, klopft sich gegenseitig auf die Schulter und beteuert, dass es nicht so gemeint war. Wir können es den Türken nicht einmal verdenken, dass sie hart spielen und außerdem die Bälle immer wieder weit nach vorn schlagen, nur um Luft zu bekommen. Ihnen genügt ein Unentschieden! Sie versuchen durch verzögernde Tricks das 1:1 zu halten. Kurz vor der Halbzeit gehen wir, nein, wären wir beinahe durch Ottmar in Führung gegangen: Er schießt ein Tor, leider aus einwandfreier Abseitsstellung. Auch eine Ecke gibt es noch für uns, aber sie bringt nichts ein. Kurz darauf pfeift Schiedsrichter da Costa zur Pause.

In der Kabine holen wir zwei, drei Minuten lang zuerst einmal ruhig Luft, schnaufen so tief, wie wir nur können. Masseur Deuser sieht nach, was wir an Prellungen abbekommen haben. Mit einer Tinktur reibt er dem einen die Oberschenkel, dem anderen den Rücken oder die Brust ein. Er schuftet in der kurzen Pause mit aller Kraft, um uns wieder fit zu machen. Schuhfachmann Dassler kontrolliert, ob jemand seine Stollen verloren oder beschädigt hat. Wir spülen uns inzwischen den Mund aus, trinken einen Schluck Tee oder kauen auf einem Zitronenscheibchen.

Erst jetzt nimmt uns Herberger ins Gebet. Vor allem die Hintermannschaft ermahnt er zur Vorsicht, damit nichts mehr passiert. Posipal ist doch noch nicht ganz auf dem Posten, wie es scheint. Seine Unsicherheit überträgt sich ganz automatisch auf die anderen. Selbst Toni Turek, sonst die Ruhe in Person, zeigt eine gewisse Nervosität. Vom Sturm verlangt der Chef, dass er möglichst bald ein Tor schießt, damit die Türken noch mehr aus ihrer defensiven Haltung heraus müssen, als sie das freiwillig ohnehin schon tun.

Die Pause ist schnell vorbei. In Gruppen von drei, vier Mann gehen wir wieder auf den Platz. Einer spricht dem anderen nochmal Mut zu. Auch der vieltausendstimmige Beifall unserer Landsleute ist ein kraftspendender Motor.

Schiedsrichter da Costa pfeift die zweite Halbzeit an. Wie besprochen stürmen wir gleich mit Vehemenz los. Nach einer Steilvorlage, die Ottmar von der Mittellinie aus gibt, lässt Berni Klodt in einem unwiderstehlichen Sprint alle türkischen Deckungsleute hinter sich und schießt in der 51. Minute an dem herausflitzenden Turgay vorbei das so wichtige und auch entscheidende zweite Tor. Damit sind die Türken eindeutig auf die Verliererbahn gedrängt.

Bald darauf prallen Toni Turek und Jupp Posipal zusammen, ein unglücklicher Zwischenfall, wie er vorkommen kann. Der Düsseldorfer hat den härteren Schädel, und der Hamburger muss für ein paar Minuten ausscheiden. Masseur Deuser nimmt ihn unter seine Fittiche, er bringt ihn vom Spielfeld weg hinter das Tor und beginnt seine erfolgreichen »Wiederbelebungsversuche«. Für den ausgefallenen Posipal geht Max Morlock einstweilen in die Verteidigung, die heute, wie schon gesagt, sehr leicht ins Schwimmen gerät. Posipal kehrt bald aufs Spielfeld und Max auf seinen halbrechten Posten zurück.

Etwa zehn Minuten sind seit unserem Führungstor vergangen. Da wird Hans Schäfer von zwei Türken angegriffen. Bedrängt gibt er den Ball dennoch zentimetergenau an Morlock ab, der etwa auf der Höhe der Torlinie zur Mitte flankt. Turgay verfehlt und Ottmar hält den Kopf hin: 3:1 für uns!

Eine Viertelstunde später hätte ich beinahe den vierten Treffer erzielt. Klodt schiebt mir im Strafraum den Ball zu. Turgay scheint schon geschlagen, ich brauche dem Leder nur noch ein Tüpferl zu geben, dann fliegt es in den Kasten. Aber wie von einer Feder geschnellt, taucht plötzlich Turgay auf, wirft sich halb nach rückwärts und verhindert ein todsicheres Tor in allerletzter Sekunde. Ich könnte mir die Haare raufen. Es wäre eine Kleinigkeit gewesen, den Ball schärfer zu treten. Dann hätte ihn auch Turgay, der Teufelskerl, nicht mehr erwischt.

 

Hans Schäfer läuft auf mich zu, um mich zu trösten:

»Mach dir nichts draus, Fritz! Das kommt in den besten Familien vor. Ist mir auch schon passiert.«

Zehn Minuten später liefere ich dafür Maßarbeit, eine haargenaue Vierzig-Meter-Vorlage zu Ottmar. Der täuscht den rechten Verteidiger der Türken und gibt einen Pass nach innen zu Morlock. Torhüter Turgay ist in der Klemme. Was soll er tun? Herauslaufen? Im Tor bleiben? Zum einen ist es zu spät, das andere ist zu gefährlich. Wie man es macht, so ist es bekanntlich falsch. Turgay ist immer noch unschlüssig. Morlock aber schaltet schnell und schießt. Der Ball prallt vom linken Torpfosten ab ins Netz. 4:1. An unserem Sieg gibt es nichts mehr zu rütteln.

Das Stimmungsbarometer steigt

Nach dem Schlusspfiff lassen die deutschen Zuschauer, die uns während des ganzen Spiels anfeuernde Begleitmusik schenkten, ihrer Freude freien Lauf. Jetzt stürmen sie aufs Spielfeld und drücken uns enthusiastisch ihre Anerkennung aus.

Auch in der Kabine gibt es zunächst ein allgemeines Händeschütteln. Herberger drückt mir als Spielführer die Hand, und ich gehe zu den zehn Kameraden und danke ihnen für ihr faires und anständiges Spiel. Dann kommen noch die verantwortlichen Leiter des DFB, Dr. Bauwens, Huber, Körfer und quittieren unsere Leistung mit einem kräftigen Händedruck.

»Uff, das hätten wir hinter uns!«

»Jetzt kann es in aller Ruhe weitergehen!«

»Selbst wenn am nächsten Sonntag gegen die Ungarn alles schiefläuft, können wir durch ein zweites Spiel gegen die Türkei immer noch eine Runde weiter kommen.«

»Wenn wir Weltmeister werden«, gelobt Berni Klodt ziemlich voreilig, »spring ich mit den Kleidern kopfüber in den Thuner See.« Ein tolles Angebot von einem, der nicht schwimmen kann!

»Dann lass dich von Kwiat retten!« empfiehlt ein Spaßvogel, der genau weiß, dass Kwiatkowski auch Nichtschwimmer ist.

Von allen Seiten schwirrt der Optimismus. Eine gute und zufriedene Stimmung macht sich breit.

Ich zerre noch an meinen Schuhen herum, da sind die anderen schon unter der Brause. Aber warum soll ich mich beeilen? Jetzt hängt ja nichts mehr von Sekunden ab. Trotzdem schaue ich, dass ich allmählich auch fertig werde. Das köstliche Gefühl nach einem Spiel, noch dazu nach einem gewonnenen Spiel, unter der warmen Brause zu stehen, möchte ich gründlich genießen. Um sofort jede Müdigkeit aus dem Körper zu vertreiben, nehmen wir heiße und kalte Wechselbäder. Während wir wie übermütige Kinder herumhantieren, packt Deuser seine Utensilien zusammen. Die Ersatzleute helfen mit, Trikots, Hosen und Stutzen zu zählen.

Als wir es absolut nicht mehr hinausschieben können, trocknen wir uns ab und schlüpfen in unsere Trainingsanzüge.

Vor der Kabine warten Scharen von deutschen Schlachtenbummlern, um uns die Hände zu schütteln und Glück zu wünschen. Von allen Seiten strecken sie uns Fotos und Ansichtskarten entgegen, die wir unterschreiben sollen. Wir denken an die Begeisterung, mit der sie unser Spiel unterstützt haben und erfüllen ihre Bitten so weit wie möglich.

Im Omnibus machen wir es uns dann gemütlich. Die Stimmung ist gut. Singend kommen wir gegen neun Uhr wieder im Belvédère an. Nachdem wir unsere Sachen auf die Zimmer gebracht haben, treffen wir uns gleich anschließend im Speisesaal. Bevor das Abendessen aufgetragen wird, dankt Herberger kurz noch einmal für den Einsatz der Mannschaft.

»Über alles, was noch falsch war, reden wir morgen. Das erste Spiel habt ihr jedenfalls gewonnen. Und nun lasst es euch schmecken!«

Mit gesundem Appetit langen wir zu. Das zur Feier des Tages genehmigte Glas Bier wird mit lautem Hallo begrüßt. Außer Sprudel und Traubensaft müssen wir nämlich sonst mit einer Tasse Kaffee oder einem Glas Tee zufrieden sein.

Möglichst bald wollen wir heute in den Betten liegen. Vorher gehe ich noch zu Deuser in die Unterwassermassage. Zwei, drei Kameraden schließen sich an.

Die Unterwassermassage hat uns schon in Grünwald zur Verfügung gestanden. Sie ist keine absolut neue Erfindung. Das Kaiserslauterer Pfaffbad z. B. hat die »U-Massage« schon längere Zeit. Deuser verwendet sie bei Fortune Düsseldorf ständig, und auch andere Vereine gebrauchen sie regelmäßig. Die Nationalelf hat sie bisher noch nicht benutzen können, weil dafür eine Badewanne mit einem fest angebauten Gerät erforderlich ist. Für die Dauer der Weltmeisterschaftskämpfe aber hat eine Firma, soviel ich weiß, kostenlos, einen leicht transportablen Apparat zur Verfügung gestellt, der in die Schweiz vorausgeschickt wurde. Man kann ihn – und das ist der Vorteil – an jede beliebige Badewanne anschließen.

Prellungen, Zerrungen und Blutergüsse sind durch Unterwassermassage viel schneller und intensiver zu vertreiben als mit Handmassage. Aber auch ohne angeschlagen zu sein, nehmen wir die Spezialbehandlung gern in Anspruch, um die kleinste Verkrampfung der Muskeln zu lösen und verbrauchte Stoffe erst gar nicht im Körper zu lassen. Nach keinem Spiel in der Schweiz gehen ich ins Bett, ohne mich vorher Deusers Händen anzuvertrauen, selbst wenn wir erst um ein Uhr oder zwei Uhr ins Hotel zurückkehren.

Als ich endlich ins Zimmer komme, liegt der Boss schon in den Federn. Er war beim ersten Türken-Spiel nicht aufgestellt. Eine bittere Pille für ihn, der in prächtiger Form ist und seinen Einsatz kaum erwarten kann. Dafür rechnet er fest damit, in einem der nächsten Spiele mit von der Partie zu sein. Aber wenn er auch heute nur Zuschauer war, freut er sich ehrlich über unseren Sieg. Mit einem schönen und zufriedenen Gefühl schlafen wir an diesem Abend ein.

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