3:2 - Deutschland ist Weltmeister

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VORBEREITUNGEN



Die Weltmeisterschaft rückt immer näher. Da sagt Herberger eines Tages zu mir:



»Was halten Sie davon, Fritz, wenn wir alle einmal ohne Training und ohne Probleme irgendwo zusammenkämen? Meinen Sie nicht auch, dass uns das gut tun würde?«



»Sie wollen unseren seelischen Akku aufladen?« frage ich.



»Wenn Sie es so nennen wollen! Leider Gottes sind unsere Nationalspieler ohnehin viel zu selten beieinander.«



Unverdrossen macht er sich auf, einen geeigneten Ort zu suchen. Schließlich fällt seine Wahl auf Obertal bei Baiersbronn im Schwarzwald. Von der Sportschule Schöneck des Badischen Fußball-Verbandes ist es mit dem Omnibus leicht zu erreichen. Der Chef hat eine gute Nase gehabt: in einem erstklassigen Haus werden wir liebevoll aufgenommen. Die Kurgäste kann man jetzt im April noch an einer Hand abzählen. Wir sind also ganz unter uns. Im Speisesaal rücken wir die Tische an die Wand, um Platz zum Tischtennisspielen zu haben. Wir liefern uns erbitterte Kämpfe um Buchpreise, die Herberger gestiftet hat. Sehr beliebt sind auch Turniere auf dem Miniaturgolfplatz. Über Felder mit phantasievoll gestalteten Hindernissen muss ein Ball durch möglichst wenig Schläge zum Ziel getrieben werden. In den ersten Tagen brauchen wir 46, 47, ja 49 Schläge, am letzten Tag stelle ich mit 32 einen neuen Rekord auf.



Bei gemeinsamen Spaziergängen genießen wir die gesunde Schwarzwaldluft in vollen Zügen. Sorglos leben wir in den Tag hinein. Vom Fußball wird wenig geredet. Nur Maxl Morlock sagt vor der Heimfahrt etwas, was er besser nicht so laut gesagt hätte:



»Am Sonntag schlagt ihr« – er meint uns Kaiserslauterer – »in Stuttgart die Kölner, und eine Woche drauf macht ihr zum dritten Mal den Deutschen Meister!«



»Wenn du nur recht hättest, Maxl!«



Das mit dem »dritten Mal« ist uns ja dann auch gründlich daneben gegangen …



Rückblickend kann ich behaupten, dass uns die fünf Tage von Obertal mit einem hübschen Quantum Sorglosigkeit und Unternehmungsgeist für die Schweizer Reise verproviantiert haben. Schade, dass ein paar der Weltmeisterschaftskandidaten aus beruflichen Gründen nicht abkömmlich waren.



Kreuzfidel steigen wir in den Bus, der uns zurück nach Schönbeck bei Karlsruhe bringt.





Herbergers Hochglanzpolitur





Am 26. Mai 1954 treffen wir uns in München-Grünwald. Hierher, in die vorbildlich eingerichtete Sportschule des Bayerischen Landessportverbandes, hat der Bundestrainer 28 Spieler berufen. Aus vierzig Mann, die schon vor Wochen dem Organisationskomitee der FIFA zu melden waren, sind sie ausgewählt. Aber der Kreis muss noch enger gezogen werden, denn nur 22 Mann dürfen endgültig – letzter Termin ist der 6. Juli – für die Schweiz nominiert werden. Erst am Schluss des Lehrganges wird der Chef bekanntgeben, wen er – sicherlich schweren Herzens – zurücklässt.



Von den Vereinen fordert Herberger dringend, die nach Grünwald geladenen Spieler ab 23. Mai, dem Tag des deutschen Endspiels, für den Lehrgang freizugeben. Die in Frage kommenden Klubs sind dem Prestige des deutschen Fußballsports zuliebe einverstanden – teilweise unter erheblichen Opfern, denn sie verzichten ja damit auf ihre bekanntesten und zugkräftigsten Spieler. Ohne sie gewinnbringende Privatspiele abzuschließen, ist natürlich sehr schwer. Das trifft vor allem für den 1. FC Kaiserslautern zu, der gleich fünf Mann wochenlang hergeben muss.



Nun, die Freigabe seiner Kandidaten für den Grünwalder Lehrgang hat Herberger erreicht. Leider muss er in Kauf nehmen, dass einige der 28 Mann vor dem Stichtag verletzt wurden und mehr oder weniger angeschlagen in Grünwald erscheinen. Pechvogel Jupp Posipal zum Beispiel ist ausgerechnet am 23., wenige Minuten vor Spielschluss, erheblich am Knöchel verletzt worden. Auch Baumann vom 1. FC Nürnberg hat noch etwas abbekommen, und Karl Mai aus Fürth klagt über eine Entzündung am Wadenbein. Unser Masseur Deuser hat während der ersten Tage in Grünwald alle Hände voll zu tun.



Als Max Morlock mir zur Begrüßung die Hand schüttelt, kann ich nicht umhin, ihn an seine Prophezeiung zur Deutschen Fußball-Meisterschaft zu erinnern:



»Na, Maxl, was sagst du nun?«



»Da kannst halt nix macha, Fritz!« erklärt er in unerschütterlich bayerischer Ruhe. »Ich hab’ hundertprozentig mit euch gerechnet.«



Hundertprozentig? Was will das beim Fußball schon heißen?



In den Spielen um die Gruppenmeisterschaft der Oberliga Südwest hatte der 1. FCK einen hartnäckigen Gegner: Pirmasens! Mit 4:0 wurden wir im allerletzten Spiel auf eigenem Platz schließlich Meister. Und wieder kamen wir im Kampf um die »Viktoria« gleich in die schwerste Gruppe – ausgerechnet mit unseren Gegnern vom Jahr zuvor, dem 1. FC Köln und Eintracht Frankfurt. Wir wussten, wie stark beide Mannschaften sind, und gingen entsprechend belastet in die Spiele. In Köln gegen Frankfurt und in Stuttgart gegen Köln haben wir es schließlich geschafft und kamen glücklich ins Finale. Unser Endspielpartner aber war nicht der VfB Stuttgart, wie erwartet, sondern das starke und ehrgeizige Hannover 96.



In der ersten Halbzeit des Hamburger Endspiels gab uns das Führungstor gleich am Anfang guten Auftrieb. Aber schon mit dem Ausgleichstreffer der Hannoveraner, der mit dem Halbzeitpfiff fast zusammenfiel, spürten wir das Unheil nahen. Wir haben in der Pause fast gar nichts geredet.



»Heute geht’s schief!« Keiner hat es ausgesprochen, aber es lag einfach in der Luft.



Mit dem zweiten Tor, ausgerechnet einem Eigentor von Kohlmeyer, war das Spiel praktisch verloren. Eine Depression ergriff uns, die mit dem tatsächlichen Kräfteverhältnis beinahe nichts mehr zu tun hatte. Unfähig, bis zum Letzten zu kämpfen, war es uns fast egal, ob es 4:1 ausging oder 5:1. Für uns schien nichts mehr drin zu sein in diesem Spiel. Aber wir waren – glaub’ ich – anständige Verlierer, haben nicht versucht, durch Härten oder Unsportlichkeiten den Sieg der Hannoveraner zu vereiteln. Mit fliegenden Fahnen sind wir untergegangen, und unser Glückwunsch für den hervorragend spielenden Rivalen kam aus vollem Herzen.



Toni Turek, der mit seinem Klub Fortuna Düsseldorf auf Tournee in Amerika war, ist gerade einen Tag vor dem Endspiel wieder in Hamburg eingetroffen. Er hat unsere Niederlage miterlebt.



»Trotz allem herzlichen Glückwunsch!« sagt er, als er mir in Grünwald gegenübersteht.



»Du willst mich wohl veräppeln?«



»Keineswegs! Was meinst du, wie viele Vereine in Deutschland froh wären, an eurer Stelle zu sein. Einmal im Endspiel zu stehen, auch wenn sie dann verlieren.«



Hat der Toni nicht recht? Trotzdem vergehen noch ein paar Tage, bis ich im Kreis der Kameraden meine Niedergeschlagenheit ganz überwinde.



Hier in Grünwald kommt es unter allen Umständen darauf an, uns für die Weltmeisterschaftskämpfe in beste Form zu bringen. Für Herberger steht fest, dass in der Schweiz zwischen den einzelnen Spielen nicht mehr allzu scharf trainiert werden kann. Zwischen einem Sonntags- und einem Mittwochspiel werden wir genug damit zu tun haben, unsere Kondition zu halten. Die Grundlage für die körperliche Verfassung der einzelnen Spieler soll deshalb dieser Lehrgang schaffen, für den der Chef ein exaktes Programm ausgearbeitet hat.



Normalerweise stehen wir um halb acht Uhr auf, frühstücken gemeinsam und gehen anschließend in den Lehrsaal zum theoretischen Unterricht.



Wir diskutieren über Stärken und Schwächen anderer Mannschaften, in erster Linie aber kehren wir selbstverständlich vor unserer eigenen Tür und beraten, wie die harmonische Zusammenarbeit der deutschen Nationalelf noch verbessert werden kann.



Zweimal sehen wir den Film vom 3:6-Spiel England – Ungarn in London, bei dem die Briten bekanntlich erstmalig in ihrer Fußballgeschichte auf eigenem Boden geschlagen wurden. Während der Vorführung weist uns Herberger auf alle taktischen Finessen hin, besonders aber auf die Tatsache, mit der die Engländer bei diesem Spiel und beim 7:1-Rückspiel in Budapest nie fertig geworden sind: Hidegkuti als ungarischer Mittelstürmer pendelt zurückgezogen weit hinten und lauert nicht stur vorn wie ein englischer Centerfor. Obwohl der Kommentator des Films englisch spricht, kennen wir ihm die Verwunderung darüber deutlich an.



»Schauen Sie, Jupp«, sagt Herberger zu Posipal, »wo der Hidegkuti ’rumläuft! Der englische Stopper bleibt jetzt da hinten, statt ihm wie ein Schatten zu folgen oder wenigstens einen Außenläufer zur Deckung hinzuschicken.«



»Und das, meine Freunde, ist der berühmte Major Puskas!«



Wir wissen, dass wir bei der Weltmeisterschaft einmal mit ihm zusammentreffen werden, denn Ungarn gehört wie wir, die Türkei und Südkorea zur Gruppe II. Die sechzehn Teilnehmer, die sich für die Schweiz qualifiziert haben, sind inzwischen für das Achtelfinale in vier Gruppen eingeteilt worden.



Gruppe I:

Brasilien, Frankreich,

 Jugoslawien, Mexiko



Gruppe II:

Ungarn, Türkei,

 Deutschland, Südkorea



Gruppe III:

Uruguay, Österreich,

 Tschechoslowakei, Schottland



Gruppe IV:

England, Italien,

 Schweiz, Belgien



Von jeder dieser Gruppen kommen zwei Länder eine Runde weiter, und zwei müssen ausscheiden. Natürlich sollen die Besten aufrücken. Um sie zu ermitteln, müsste gerechterweise jeder gegen jeden antreten. Eine solche Regelung würde zu viele Spiele erfordern. Man muss deshalb einen Ausweg finden. Die in der obenstehenden Gruppeneinteilung kursiv gedruckten Länder werden »gesetzt«. Man hält sie mit mehr oder weniger Berechtigung für stärker als die anderen und billigt ihnen gewisse Vorteile zu: Sie brauchen nicht untereinander, sondern nur gegen die Nichtgesetzten, d. h. die für schwächer Gehaltenen ihrer Gruppe, zu spielen.

 



Eine ideale Lösung? Es gibt keine ideale Lösung, wenn nicht jeder gegen jeden spielt. Die Gruppe II mit Deutschland ist ein Musterbeispiel dafür. Wir können uns ganz gut ausrechnen, wie die Geschichte wahrscheinlich läuft:



Gruppenfavorit Ungarn spielt gegen Deutschland und Südkorea – das ergibt vier Punkte und bringt den Magyaren den Eintritt vom Achtel- ins Viertelfinale. Die Türkei, die an die Stelle des voreilig »gesetzten« Spanien gerückt ist (die Spanier sind nach zweimaliger Verlängerung im Entscheidungsspiel gegen die Türken durch Losentscheid unterlegen), spielt gegen Südkorea und gegen Deutschland. Man kann annehmen, dass sie gegen den Punktelieferanten Korea gewinnt, und hoffen, dass sie gegen Deutschland verliert. Das macht 2:2 Punkte. Da Deutschland in diesem angenommenen Fall dasselbe Punkteverhältnis hat (Sieg gegen die Türkei, Niederlage gegen Ungarn), muss es mit der Türkei ein Entscheidungsspiel austragen. Der Sieger kommt als Zweiter der Gruppe II ins Viertelfinale.



Mit soviel FIFA-Steinen ist also der Weg gepflastert, der uns mit Ferenc Puskas, den wir jetzt in der Sportschule Grünwald noch auf der Filmleinwand sehen, in der Schweiz zusammenführen wird.





Training mit und ohne Ball





Theorie allein macht keinen Fußballspieler. Deshalb geht es nach dem Unterricht gleich raus zum Training, das hart, aber abwechslungsreich ist. Zum ersten Mal treiben wir in ausgedehnter Form Laufarbeit. Wir teilen uns in verschiedene Gruppen, fünf oder sechs Stürmer, ein paar Läufer, die Verteidiger und die Torwächter. So laufen wir uns über drei, vier Runden ein, um die Muskulatur gut durchzuwärmen und Zerrungen und Muskelrisse zu vermeiden. Dann erst legen wir – immer noch gruppenweise – richtig los. Langsam anlaufen! Bei fünfzig Meter durchstarten bis zu hundert Meter! In den Kurven bummeln wir, werden wieder ein wenig schneller und treten noch mal fünfzig Meter durch.



Das machen wir mindestens eine Stunde lang: spurten, langsamer werden, drüben auf der Gegengeraden wieder spurten, zehn Meter auslaufen, wieder spurten! Wenn die Stunde um ist, sind wir ganz schön in Schweiß gebadet und wissen, was wir getan haben. Max Morlock nimmt das Training so ernst, dass er sich in Grünwald acht Pfund Speck herunterarbeitet.



Alfred Pfaff, dem die Puste nie ausgeht, nutzt die kleine Pause zu einem seiner lebensgefährlichen Kalauer:



»Kinder, wisst ihr, warum der Eber so traurig durch den Wald läuft?«



»Nee!«



»Weil seine Frau eine Wildsau ist!«



»Au!«



Lachend geht es wieder auf die Bahn. So trainieren wir jeden Vormittag gründlich, oft auch zusätzlich eine Stunde vor dem Frühstück.



Das Lauftraining auf der Aschenbahn genügt natürlich nicht.



Regelmäßig arbeiten wir mit dem Ball. Die Stürmer spielen gegen die Hintermannschaft, drei Mann gegen einen, vier gegen zwei oder, über den ganzen Platz hinweg, fünf gegen fünf oder sechs gegen sechs. Zwischendurch spielen wir Fußball-Tennis. Dazu wird ein Feld abgegrenzt und durch eine in beliebiger Höhe gespannte Schnur zweigeteilt. Ein gewöhnlicher Fußball wird über die Schnur hin- und hergetreten oder -geköpft, er darf in jedem Feld einmal springen, nie über die Spielfeldgrenze rollen, unter der Schnur durchgehen oder sie berühren. Wenn eine Mannschaft zehn Pluspunkte hat, wird gewechselt, bei 21 Punkten auf einer Seite ist das Match beendet.



Auch Korbball-Mannschaften gehören zu unserem »spielerischen« Training, bei dem man gar nicht merkt, wie viel man läuft – eine vortreffliche Ergänzung zur systematisch betriebenen Laufarbeit.



Auf der schönen Grünwalder Kegelbahn schiebt der Sturm manche Kugel gegen die Hintermannschaft. Oder wir kegeln in Stubenbesetzung gegeneinander. Helmut Rahn, der mit mir auf einem Zimmer wohnt, wirft einen Kranz und holt für uns die Meisterschaft. Siegespreise sind zwei Bücher mit einer Widmung von Herberger. Der Boss verzichtet aus freien Stücken auf sein Buch »08/15«, das ich als alter Landser zweifellos besser verkraften kann als er.



Ein paarmal fahren wir hinein nach München, um ins Kino zu gehen. Es ist wie verhext: Jede Wochenschau endet mit Ausschnitten aus dem 1:5-Endspiel um die Deutsche Meisterschaft. Nichts bleibt uns erspart. Nach dreimaligem Kinobesuch haben wir Kaiserslauterer 3x5 = 15 Tore von Hannover einstecken müssen.



Herberger ist in all den Tagen ein vorbildlicher, idealer Kamerad. Er kennt jeden einzelnen mit seinen Fehlern und seinen guten Seiten. Er weiß genau, mit wem er mal ein bisschen lauter reden muss, und wem er am besten in Ruhe zuspricht. Wenn ihn ein besonderes Anliegen drückt, schnappt er sich den einen oder anderen, auch mal zwei oder drei, und bespricht auf einem Spaziergang, was er auf dem Herzen hat.



Große Aufmerksamkeit müssen wir unserem Speisezettel widmen. Jeder weiß ohnehin schon längst, wie viel er essen darf. Horst Eckel zum Beispiel kann Riesenportionen verschlingen, ohne dass es bei ihm anschlägt. Ich dagegen hab’ seit Jahren Schwierigkeiten mit meinem Gewicht; ich darf keine Suppe essen, keine Kartoffeln, kein Schweinefleisch und keine fetten Soßen. Ein Punkt aber, in dem sich alle zurückhalten müssen, ist das Trinken. Nur nicht viel trinken! Je trockener der Körper, desto leistungsfähiger ist er. Alkohol ist grundsätzlich verpönt.



Erlaubt sind Apfelschorle, Trauben- und Orangensaft mit aufgelöstem Traubenzucker oder auch Milch mit ausgepressten Erdbeeren, natürlich alles schön frisch serviert. Sehen wir, dass an einem Tisch viel getrunken wird, dann heißt es gleich:



»Feuchter Tisch bei euch! Wie sieht’s denn da aus?«



Gegenseitig helfen wir uns, nicht mehr zu trinken, als unbedingt nötig ist. Nur eine Ausnahme machen wir, an dem Abend nämlich, an dem wir zu einem original-bayerischen Essen eingeladen sind. Es gibt Schweinsbraten mit Knödel und Kraut, Gselchtes und Würstl. Dazu wären Limo und Sprudel Todsünden. Also wird jedem ein Glas Bier bewilligt.



Die zünftige Einladung hat uns übrigens Jackl Streitle verschafft, der in Grünwald Herberger hilft, wo er nur kann. Er kümmert sich um die Bälle und sorgt dafür, dass der Lehrsaal frei ist, wenn ein Film vorgeführt werden soll. Außer Masseur Deuser, der uns in den letzten Jahren bei allen Länderspielen betreut hat, steht zum ersten Mal auch ein Arzt zur Verfügung, Dr. Loogen.



Nur ein Schatten fällt auf die Tage von Grünwald. Noch sind wir 28 Mann, aber nur 22 dürfen bekanntlich in die Schweiz. Sechs Kameraden, voll Freude und Erwartung wie wir alle, werden ausscheiden.



Das harte Los, zurückzustehen und damit die Chance ihrer Fußballkarriere aus der Hand geben zu müssen, fällt schließlich auf Baumann und Röhrig, die verletzt sind, auf Harpers, Gottinger, Schäfer aus Siegen und Deinert.



Am Mittwoch vor Pfingsten ist unser Lehrgang beendet, und am Mittwoch nach Pfingsten sollen wir 22, die nun endgültig feststehen, uns in der Sportschule Schöneck bei Karlsruhe-Durlach wieder melden.



Wir können also ein paar Tage nach Hause fahren und ausspannen. Das Training aber dürfen wir auf keinen Fall vergessen.



»Ihr wisst selbst, was ihr zu tun habt! Niemand von euch kann es sich leisten, die zwölf Tage von Grünwald aufs Spiel zu setzen!« Herberger spricht noch einmal aus, was uns längst klar ist. Wir müssen alles dransetzen, um in der Höchstform zu bleiben, in die wir uns gebracht haben. Das gilt für mich noch mehr als für die meisten anderen, denn wenn man einmal die berüchtigte 30-Jahres-Grenze überschritten hat, muss man unermüdlich an sich arbeiten, um mit den Jüngeren Schritt halten zu können.



»Wenn wir über Pfingsten zu Hause bleiben, geht wieder ununterbrochen die Klingel, rappelt pausenlos das Telefon«, sagte ich, nach Kaiserslautern zurückgekehrt, zu meiner Frau. »Du wirst sehen, wir haben keine Viertelstunde Ruhe! Am besten verschwinden wir ein paar Tage!«



Kurz entschlossen packen wir die Koffer, meine Trainingssachen ganz obendrauf, und fahren nach Obertal, wo es meinen Kameraden und mir so gut gefallen hat.



Hoch oben am Berg suche ich mir eine Waldlaufstrecke, die etwa einen Kilometer lang ist. Jeden Morgen nach dem Frühstück packe ich die tausend Meter viermal, hin und zurück und wieder hin und zurück. Zuerst laufe ich mich warm, dann verschärfe ich das Tempo und lege regelmäßig Zwischenstarts ein. Kein Mensch stört mich um diese Zeit beim Training. Während die Beine mechanisch laufen, hämmern in meinem Kopf die Gedanken an die Weltmeisterschaft. Was dürfen wir hoffen? Was werden wir erreichen?



Wie schwer ist es doch, so allein zu laufen! Wenn die Kameraden dabei sind, lässt man sich mitreißen, hat seinen Ehrgeiz, nicht zurückzustehen. Pfingsten ist heute! Im Tal gehen die Leute spazieren oder sitzen auf den Balkons und frühstücken.



»Und du machst dich hier verrückt, läufst und läufst, bis dir das Wasser aus allen Poren rinnt. Lauf doch langsamer! Wozu rennst du denn so blödsinnig? Wozu?«



Ganz einfach, um meine körperliche Form für die Weltmeisterschaft zu halten. So wie ich in Obertal, trainieren die anderen bei sich zu Hause. Wo kämen wir denn hin, wenn wir uns nicht unbedingt aufeinander verlassen könnten? Die Pflicht den Kameraden gegenüber ringt dann auch bald die Stimme der Versuchung nieder.





VON SCHÖNECK NACH SPIEZ



Als ich in Schöneck eintreffe, sind die meisten von den 22 Spielern schon da. Bei der Einkleidung am ersten Tag gibt es ein Mordstheater und Hallo. Den größten Spaß haben wir mit den Hüten. Viele von uns gehen normalerweise ohne Kopfbedeckung, heute wird ausnahmslos jedem ein Deckel verpasst. Ein paar sehen unmöglich aus, andere kleidet er prima. Bei mir geht es grad so. Ich bin selbst überrascht, denn ich habe in meinem Leben bisher nur einmal einen Hut aufgesetzt: als ich aus russischer Kriegsgefangenschaft kam und einen weithin leuchtenden Plattkopf heimbrachte. Damals hab’ ich den Hut fast Tag und Nacht getragen und ihn selbst beim Training nicht abgenommen. Nur vor einem saftigen Torschuss wurde er ehrerbietig gelüftet.



Wir bekommen alle graue Hosen, grüne Sakkos mit dem DFB-Wappen, gleiche Hemden, Krawatten, Schuhe und, wie schon gesagt, gleiche Hüte. Auch einheitliche Trainingsanzüge erhalten wir, selbstverständlich alles nach Maß. Dazu werden noch Laufschuhe und Schultertaschen für unsere Sportutensilien ausgegeben. Fußballschuhe, Schienbein- und Knöchelschützer, Unterziehhosen bringt jeder selbst mit. Trikots und Hosen, von denen an manchen Tagen eine oder zwei Garnituren durchgeschwitzt werden, liefert wiederum die Geschäftsstelle des Deutschen Fußballbundes in Frankfurt.



Endlich ist es soweit!



Am 11. Juni 1954 um 11.38 Uhr fahren wir freudestrahlend von Karlsruhe nach Basel ab. Unsere Expedition leitet Hans Huber aus München, der Zweite Vorsitzende des Deutschen Fußballbundes. Dazu kommen Bundestrainer Herberger, DFB-Geschäftsführer Dr. Xandry, Spielausschussvorsitzender Körfer, der Arzt Dr. Loogen, Masseur Deuser, Schuhspezialist Dassler und folgende 22 Spieler: Hans Bauer, Ulrich Biesinger, Horst Eckel, Herbert Erhardt, Richard Hermann, Bernhard Klodt, Werner Kohlmeyer, Heinz Kubsch, Heinrich Kwiatkowski, Friedrich Laband, Werner Liebrich, Karl Mai, Paul Mebus, Karl-Heinz Metzner, Max Morlock, Alfred Pfaff, Jupp Posipal, Helmut Rahn, Hans Schäfer, Toni Turek, Fritz Walter, Ottmar Walter.












Unser erster Schritt zur Weltmeisterschaft: Im Ulleval-Stadion von Oslo treten wir am 19. August 1953 gegen Norwegen an. Mit einem dürftigen 1:1 sind wir nach diesem Ausscheidungsspiel unserem Ziel, in der Schweiz dabei zu sein, nicht viel näher gekommen. Die Kritik ist entsprechend.
















Kein Länderspiel ohne Morlock-Tor! Beim Stuttgarter 3:0 gegen unseren zweiten Gegner in der Ausscheidungsgruppe I, die Saar, hat Max Torwart Strempel überwunden und setzt zum erfolgreichen Torschuss an. In Hamburg, beim Rückspiel gegen Norwegen (5:1), verwandelt er mit phantastischem Hechtsprung eine Flanke zum Ausgleichstor (unten).





















Erst zappelt der Ball, dann der glückliche Torschütze Max Morlock im Netz. Ein prächtig gelungener Schnappschuss aus dem Rückspiel gegen die Saar in Saarbrücken.





 












Nach meinem Ausscheiden in der ersten Halbzeit verfolgte ich neben Sepp Herberger, Dassler, Kubsch und Herrmann den entscheidenden Kampf von der Reservebank aus.
















Jupp Posipal steht im zweiten Spiel gegen die Saar zeitweise im Sturm. Neben Ottmar und Max Morlock beobachtet er gebannt ein Duell zwischen Hans Schäfer und dem saarländischen Torwart. Das Ausscheidungsspiel endet 3:1 – die Fahrkarte in die Schweiz haben wir in der Tasche.
















Nur 22 von den in der Sportschule München-Grünwald versammelten Spielern kann Bundestrainer Herberger mit in die Schweiz nehmen. Ich weiß, wie schwer es ihm fällt, einige Kameraden daheim lassen zu müssen.
















Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos! Bei der Ankunft in der Schweiz verraten die nachdenklichen Gesichter sehr deutlich, dass wir unseren Aufenthalt nicht für einen sorglosen Erholungsurlaub halten.
















Mit Turgay, dem Kapitän und Torwart der türkischen Mannschaft, tausche ich vor unserem ersten Weltmeisterschaftsspiel – gegen die Türkei in Bern – den Wimpel aus.
















Tor Nummer 1 schießt der Kölner Hans Schäfer. Es bringt nach dem unerwarteten Führungstreffer der Türken den Ausgleich und damit für unsere Elf die Wende zum Guten.
















Ottmar verwandelt eine Flanke von mir in ein prächtiges Kopfballtor. 3:1! Hans Schäfers Eingreifen ist nicht nötig, Turgays Abwehr nicht möglich.
















Gleichklang der Bewegung: Ottmar reißt vor Freude die Arme hoch, Turgay hebt sie resigniert. »Da war ich leider machtlos!« scheint er zu sagen.
















Wer hat Angst vorm bösen Wolf? Nur ein Mann der türkischen Abwehrmauer blickt bei einem Freistoß der Gefahr ins Auge. Das Spiel endet 4:1.
















»Ein alter Mann ist doch kein Schnellzug!« sage ich zum Boss, als ich auf dem Thuner Trainingsplatz mit ihm und Karl Mai Runden drehe. Selbstironie kann ich mir leisten, denn ich bin in der Form meines Lebens.
















Kleine Fische für Werner Liebrich! In einem Bassin macht er mit der bloßen Hand Jagd auf Forellen. Erwischt er eine, hält er sie triumphierend hoch und wirft sie sofort wieder ins Wasser zurück. Toni Turek und Horst Eckel (rechts) betrachten die Fußarbeit auf dem schönen Thuner See als Vergnügen und Training zugleich.
















Bauer, Mebus, Liebrich und Kwiatkowski bemühen sich, den gefährlichen ungarischen Torjäger Kocsis (verdeckt) zu stoppen. Vergeblich! Sekundenbruchteile später zappelt der Ball im Netz – eine typische Szene aus dem unglücklichen 3:8-Spiel gegen den Weltmeisterschaftsfavoriten Ungarn.
















Oben: Beim Spiel gegen Ungarn in Basel können wir das gegnerische Tor nicht oft in Gefahr bringen. Alfred Pfaff hat es dieses Mal geschafft, aber Torwart Grosics ist schneller am Ball. Rechts im Bild: Linksaußen Herrmann.
















»Freundchen, Freundchen!« droht der ungarische Mittelläufer Lorant mit erhobenem Zeigefinger dem temperamentvollen Boss. Torwart Grosics sitzt, den Ball im Arm, am Boden und schaut verdutzt zu Rahn auf. Der englische Schiedsrichter Ling mahnt ungeduldig, doch weiterzuspielen.







An der Grenze gibt es keine Schwierigkeiten. Die Schweizer Zöllner sind für die Dauer der Fußball-Weltmeisterschaft mit besonderer Liebenswürdigkeit gerüstet.



»Was wollt denn ihr in der Schweiz?« verulken sie uns gutmütig, »ihr habt doch nicht etwa vor, die Ungarn, Brasilianer oder Urus zu schlagen?«



Offensichtlich trauen sie uns nicht allzu viel zu, aber um Autogramme bitten sie uns doch. Man kann ja nie wissen …



In Basel heißt uns Präsident Dr. Thommen vom Schweizerischen Fußballbund willkommen.



Wir essen eine Kleinigkeit und fahren dann im Omnibus weiter. Ein großes Ulmer Werk hat ihn mit Chauffeur für die Dauer unseres Aufenthaltes in der Schweiz kostenlos zur Verfügung gestellt. Albert Sing, unser Verbindungsmann zum Organisationskomitee der FIFA, sorgt dafür, dass wir auf dem Weg nach Spiez das Berner Stadion besichtigen können. Hier werden wir am nächsten Donnerstag gegen die Türken spielen. Hier findet am 4. Juli auch das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft statt. Keiner denkt im Ernst daran, dass wir da noch etwas mitzureden haben. Aber wir werden von den Tribünen dort oben aus zusehen, wenn die Weltbesten unten auf dem Rasen um den Coupe Rimet kämpfen. Ein großartiges Spiel muss das werden! Wir möchten es um keinen Preis verpassen!





Hotel direkt am See





Es ist schon neun Uhr abends vorbei, als unser Bus vor dem Belvédère in Spiez hält. Zimmerverteilung! Kofferschleppen! Herberger hat für alles gesorgt: der dritte Stock im Hotel ist für uns reserviert. In jedem Zimmer wohnen zwei Mann. Der Chef sucht sie nach Möglichkeit so aus, dass sie sich bis in die letzten Träume hinein fachlich unterhalten können. So hausen zwei Verteidiger zusammen, Kohlmeyer und Laband; die zwei Torwächter Kwiatkowski und Kubsch; der rechte Flügel, Morlock und Klodt; Mai und Posipal von der Hintermannschaft; Außenläufer mit Außenstürmer wie Eckel und Schäfer, oder wie die Gespanne alle heißen. Mein Zimmergefährte ist schon seit einigen Länderspielen Helmut Rahn, unsere Stimmungskanone.



Die Paare sind zum Teil unzertrennlich. Eckel weicht auch dann nicht von Schäfers Seite, als dessen Frau in die Schweiz kommt. Sie nennt ihn aus diesem Grund nur noch den »Schatten«.



Herberger hat ein Zimmer für sich, Dr. Loogen und Deuser beziehen zusammen eines. Unsere Offiziellen – Dr. Bauwens, Huber, Körfer, Deckert – wohnen eine Etage tiefer.



Wir sind im dritten Stock ganz unter uns und halten fröhlichen Einzug. Jedes Zimmer hat einen kleinen Balkon mit herrlichem Ausblick auf den See und die Berge. Ich glaube nicht, dass irgendeine Nationalmannschaft ein landschaftlich schöner gelegenes Quartier hat. Die Ungarn zum Beispiel wohnen in Solothurn, direkt an einer verkehrsreichen Straße. Zu unserem Hotel dringt kein Lärm, es ist wohltuend ruhig. Mit den anderen Gästen haben wir wenig Kontakt. Zu den Mahlzeiten treffen wir uns in einem kleine