Der Kleine

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«Daten wollen Sie? Also: 1896 geboren in Wien von österreichischer Mutter und Schweizer Vater. Großvater väterlicherseits Goldgräber in Kalifornien (sans blague), mütterlicherseits Hofrat (schöne Mischung, wie?). Volksschule, 3 Klassen Gymnasium in Wien. Dann 3 Jahre Landerziehungsheim Glarisegg. Dann 3 Jahre Collège de Génève. Dort kurz vor der Matur hinausgeschmissen … Kantonale Matur in Zürich. 1 Semester Chemie. Dann Dadaismus. Vater wollte mich internieren lassen und unter Vormundschaft stellen. Flucht nach Genf … 1 Jahr (1919) in Münsingen interniert. Flucht von dort. 1 Jahr Ascona. Verhaftung wegen Mo. Rücktransport. 3 Monate Burghölzli (Gegenexpertise, weil Genf mich für schizophren erklärt hatte). 1921–23 Fremdenlegion. Dann Paris Plongeur. Belgien Kohlengruben. Später in Charleroi Krankenwärter. Wieder Mo. Internierung in Belgien. Rücktransport in die Schweiz. 1 Jahr administrativ Witzwil. Nachher 1 Jahr Handlanger in einer Baumschule. Analyse (1 Jahr) … Als Gärtner nach Basel, dann nach Winterthur. In dieser Zeit den Legionsroman geschrieben (1928/29), 30/31 Jahreskurs Gartenbaumschule Oeschberg. Juli 31 Nachanalyse. Jänner 32 bis Juli 32 Paris als ‹freier Schriftsteller› (wie man so schön sagt). Zum Besuch meines Vaters nach Mannheim. Dort wegen falschen Rezepten arretiert. Rücktransport in die Schweiz. Von Juli 32–Mai 36 interniert. Et puis voilà. Ce n’est pas très beau …»

Friedrich Glauser an Josef Halperin, 15. Juni 1937

FRIEDRICH GLAUSER

Der Kleine

und andere Geschichten

aus der Kindheit


Inhalt

Damals in Wien

Gesprungenes Glas

Der Kleine (I)

Der Kleine (II)

[Ohne Titel]

Damals in Wien

Es gibt Erinnerungen, die sind wie schillernde Blasen; nach vielen Jahren, da man schon meinte, sie seien nicht mehr vorhanden, steigen sie plötzlich auf in einer Stunde der Nacht, wachsen, wachsen, wollen nicht zerplatzen und wieder im Nichts verschwinden, sondern blenden die geschlossenen Augen. Man hat sie erzählt, diese Erinnerungen, man hat versucht, sie loszuwerden. Da lag man auf einem Ruhebett, zu Häupten saß ein Mann, den man nicht sah, und man musste erzählen, erzählen … Nicht erzählen eigentlich, «assoziieren» nennt man diese quälende Beschäftigung, die ein Jahr lang dauert, täglich eine Stunde. Der Mann, der einem zu Häupten unsichtbar sitzt, schweigt und schweigt – und man liegt auf der Couch und versucht die Bilder einzufangen, die wie Blasen aufsteigen. Sie zerplatzen, und nun denkt man, sie werden niemals mehr quälend erscheinen. Irrtum … Sie kommen wieder und wieder – und nun versucht man es zum letzten Male, sich ihrer zu entledigen, indem man sie niederschreibt. Man tut es nicht gerne – ist es sicher, dass sie andere Leute interessieren? Hat nicht jeder in sich den Moorgrund, der gärt und quält? Manchmal vergiftet er durch seine Zersetzung die Träume, die ersten Stunden des nächsten Tages, am Abend ist er stets noch da, und es können drei, vier, fünf Nächte vergehen, bis wieder Ruhe herrscht. Es hat mich immer verwundert, warum scheinbar ganz nebensächliche Dinge immer wieder auftauchen, warum die schillernden Blasen, die sie bilden, die geschlossenen Augen blenden, so, als habe man die Lider geöffnet und starre in die Sonne. Nebensächliche Dinge … Und doch wirken sie weiter, bis endlich der letzte, der große Schlaf uns erlöst.

Sie wirken und ändern uns. Sie führen uns Wege, die wir nicht gern gegangen wären. Sie machen uns krank bisweilen, unzufrieden, ängstlich. Eine Theorie hat sich gebildet, eine Therapie eher – eine Kunst, gesund zu machen –, die möchte die Erinnerungen abtöten, verklären, nützlich machen. Es gelingt selten … Oft, wenn wieder eine farbig-schillernde Blase aufsteigt, denke ich an die Menschen, die uns führen. Und dann weiß ich, dass auch sie gequält werden, dass auch in ihnen der Sumpf brodelt; wenn sie dann, die Menschen, die uns führen wollen, schiefe Wege gehen, kann ich sie nicht verurteilen. Denn ich denke, dass auch sie gequält werden in den Nachtstunden, da sie schlaflos liegen oder unter der Lampe ein Buch zu lesen versuchen – und jeder Satz, den ihre Augen aufneh men, prallt ab, dringt nicht ein, denn zwischen Satz und Aufnehmen macht sich breit die schillernde Blase, und farbig tanzen auf ihrer Oberfläche die Erinnerungen. Und manchmal geschieht es, dass die Wangen rot werden, weil wir an eine Tat denken, von der uns viele Jahre trennen, die vergangen ist und vergessen. Und doch lebt sie weiter …

Ich bin in Wien geboren, in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts. Mein Vater hatte seine Frau in Aussig kennengelernt – Aussig, jener merkwürdigen kleinen Stadt in Deutschböhmen, von der man jetzt manchmal hört –, und vor einigen Jahren, als er schon alt war, erzählte er mir, er habe meine Mutter kennengelernt beim Eislaufen. Er schnallte ihr die Schlittschuhe an, kniete vor ihr, dann fuhren sie zusammen über das Eis, und ein paar Tage später waren sie verlobt. Da aber meine Mutter die Tochter des Direktors der Schule war, an der mein Vater lehrte, musste er eine andere Stelle suchen und wurde bald darauf Professor an der Handelsakademie in Wien.

Meine Eltern mieteten eine Wohnung in der Starhemberggasse, und dort habe ich meine ersten Jahre verbracht. Die Starhemberggasse liegt im vierten Bezirk, läuft parallel der Favoritenstraße, in der es das berühmte Theresianum – eine Art Kadettenschule – gab, und ganz in unserer Nähe war der Südbahnhof. Als erste Erinnerung ist in mir das Pfeifen der Züge haften geblieben, und fast hat es mich froh gemacht, dass nun die Bahnen elektrisch betrieben werden. Die Pfiffe der Maschinen weckten immer zu viel alte Dinge in mir auf.

Da ist die Erinnerung an das Mädchen Frieda, das eines Morgens im Speisezimmer weint, weil es entlassen worden ist. Ich hocke in einem kleinen Stuhl, der mit einem Tischlein verbunden ist, und dieses Gestell besitzt an seinen sechs Beinen winzige Röllchen, auf denen es weitergeschoben werden kann. Das Ganze ist eigentlich ein kleiner Wagen, und ich sitze darin, bearbeite mit einem Suppenlöffel eine feuchte Semmel, bis sie wie ein kleiner Kuchen auf dem Holze klebt. Die Mutter aber geht herum im Zimmer, trägt einen roten Schlafrock und wischt den Staub von den vielen Möbeln.

Da betritt Frieda das Zimmer und ist angekleidet zum Ausgehen – sonntäglich eigentlich. Das ist merkwürdig, denn ich habe die Frieda nie so gesehen, ein großer Hut, auf dem Blumen kleben, schwankt auf ihrer Frisur, die ein ‹Chignon› ist – und dann nimmt Frieda Abschied von mir.

«Mama! Warum muss die Frieda fort?»

«Darum!»

Die Antwort wundert mich, denn sonst spricht meine Mutter nie in so verärgertem Tone zu mir. Frieda aber hat verweinte Augen und schneuzt sich in ein großes Taschentuch.

«Bist du traurig, Frieda?»

Da nickt das Mädchen, und ich spüre, dass sie mir etwas erzählen will. Aber sie wagt es nicht, weil die «gnädige Frau» (wie man in Wien sagt) im Zimmer ist. Frieda kommt ganz nahe zu mir, beugt sich über mich und sagt: «Leb wohl, junger Herr …» Das sagt sie laut, dann schielt sie zur Seite, um zu wissen, ob die «gnä’ Frau» sie hören kann, und flüstert mir dann zu: «Weil ich einen lieb hab, muss ich fort.»

«Gehen Sie jetzt!», sagt meine Mutter. Und das Mädchen geht zur Tür, ihr Hut schwankt auf ihrem Kopf, der lange Rock schleift auf dem Boden nach. Draußen pfeift ein Zug.

«Weil ich einen lieb hab, muss ich fort …»

Warum sind diese Worte in den Teich gefallen, als seien sie ein einziger großer Stein? Warum bleibt dieser Stein auf dem Grunde liegen, wendet sich bisweilen, lässt Blasen aufsteigen, schillernde Blasen …? Kaum dreijährig, hab ich sicher nicht gewusst, was das heißt: «Weil ich einen lieb hab …»

Und doch. Ich weiß gut, dass nach dem langen Pfiff des Zuges von der Südbahn drunten ein Fiaker über die Pflastersteine gefahren ist. Es war kein Gummiradler, ich hörte die Räder klappern, die Hufe der Pferde – ich weiß sogar noch, dass es sicher ein Zweispänner war – klopften, klopften … Und dann fiel die Gangtüre zu.

Meine Mutter aber hält das Staubtuch in der Hand und steht mitten im Zimmer. Sie starrt zu Boden. Dann schreckt sie auf, blickt mich an und geht zum Schreibtisch. Dort fängt sie wieder an, mit dem Staubtuch zu wischen, denn dieses Möbel ist wichtig. Es ist der Tisch, an dem mein Vater arbeitet, den ich «Patschika» nenne – warum, weiß ich nicht, es ist eine Erfindung wie eine andere auch – und mit dem ich französisch spreche, während ich mit der Mama nur deutsch rede.

Nach einer Weile fragt mich die große Frau: «Was hat dir die Frieda zugeflüstert, Bub?»

Ich schweige. Die Mama putzt weiter am Schreibtisch; er hat viele Säulchen und ist aus hellbraunem, maseriertem Holze gebaut. Sie dreht sich nicht um, wischt und wischt.

Und da ich nicht antworte, schweigt auch sie. Ein paar Minuten später beginnt sie mir das Märchen vom «Schatzhauser im grünen Tannenwald» zu erzählen. Von der Frieda haben wir nie mehr miteinander gesprochen.

 

Manchmal, am Abend, wenn ich im Gitterbett lag, blieb die Tür vom Schlafzimmer zum Nebenraum, dem Speisezimmer, geöffnet. Denn ich hatte Angst vor der Dunkelheit, und obwohl mein Vater mit dem langen Barte der Meinung war, man müsse mich abhärten, fand meine Mutter, ich sei noch zu klein. Vielleicht hat sie mir später deshalb so gefehlt – denn sie starb, als ich viereinhalb Jahre alt war –, weil niemand mehr diese meine Angst verstand.

Die Angst ist überhaupt etwas Unerklärliches. Jener Mann, der, sitzend in einem Lehnstuhl mir zu Häupten und Zigaretten rauchend, jener Mann, der dachte, mir helfen zu können, indem er mich sprechen ließ und meine Träume erzählen, war der Überzeugung, Angst entstehe aus «Verdrängungen». Ich glaubte ihm eine Zeitlang – halb und halb. Denn zu Beginn jener Kur, welche man die psychoanalytische nennt, hatte er mir Folgendes eingeprägt: Die einzige Bedingung dieser Kur sei ein wohlwollender Skeptizismus – mit andern Worten: Ich sei nicht verpflichtet, seinen Auslegungen zu glauben und seine Erklärungen für wahr anzusehen. Immerhin …

Immerhin wird der «Glaube» doch verlangt, unter der Hand, «didaktisch», wie dies schöne Wort heißt – denn ohne Glauben ist eine Änderung der Seele, welche in unserer Zeit die «Psyche» genannt wird, weil dies bequemer ist, unmöglich. Glauben also …

Ich erinnere mich, dass oft und oft, während ich auf dem Ruhebett lag, die gefalteten Hände unter dem Hinterkopf, meine Mutter erschien. Sie erschien in ihrem roten Schlafrock und erzählte mir Märchen, sie erschien in einem weißen Pierrotkostüm, das sie einmal für einen Ball angezogen hatte, als wir die Ferien in Rasberg verbrachten … Und der Mann, der mir helfen wollte, versuchte eine Deutung; er sagte: «Noch nie habe ich eine so scharfe Trennung der beiden Muttersymbole erlebt wie bei Ihnen. Die Mutter in Rot ist das Symbol für die Böse, die Frau in Weiß das Bild für die Gute. Wie Sie es formuliert haben, klingt es noch genauer: Die Rote ist in der Hölle, die Weiße im Himmel. Verstehen Sie?» Ich nickte, denn etwas anderes hätte ich wohl nicht tun können. Aber glauben? Nicken ist noch lang nicht glauben.

Damals, als meine Mutter noch lebte, kam die Zeit, da ich nicht mehr auf dem Boden herumkroch, sondern durch die Stuben lief. Bei Tisch saß ich auf einem Stuhl, und da ich klein war, lagen auf dem Sitz ein paar dicke Bücher. In der Nacht aber schlief ich immer noch im Gitterbettchen und hörte, wie meine Mutter mit meinem Vater Nathan den Weisen las. Denn mein Vater war in der französischen Schweiz aufgewachsen, das Deutsche machte ihm Mühe, und seine Frau wollte ihm helfen.

Ich hörte damals – und später, als ich das Stück selber las, stieg sie wieder in mir auf – jene schöne Geschichte von den drei Ringen. Sicher verstand ich sie damals nicht, doch ich sah, dass meine Mutter zwei Ringe trug, mein Vater einen, und die Geschichte, die da am Abend laut gelesen wurde, erhielt Wirklichkeit. Bisweilen auch kam Besuch, denn mein Vater war ein fleißiger Mann und arbeitete mit einem Kollegen an einer französischen Grammatik, die für die Schüler der Handelsakademie bestimmt war. Oft schrieb meine Mutter, und ihr Schreiben war eigentlich ein Übersetzen, denn, wie schon gesagt, das Deutsche fiel meinem Vater schwer.

Den Mann mit dem langen Barte fürchtete ich ein wenig und konnte diese Furcht nur dann loswerden, wenn er mich auf den Arm nahm und mir oft und oft wiederholte, ich sei «un citoyen de la libre Helvétie» – «ein Bürger der freien Schweiz». Ich wusste weder, was ein Bürger war, noch kannte ich das Land, dem ich angehören sollte, und doch war ich stolz, dass ich in einer in Wien unverständlichen Sprache etwas sagen durfte.

Manchmal blieb der Mitarbeiter meines Vaters länger als sonst, und dann sang meine Mutter ein Lied und begleitete sich selbst. Es war ein französisches Lied, im Bette, hinter dem Gitter aus dunklem Stricke, kam es mir süß vor. Es enthielt ein langes Wort, das ich nicht verstand: «Plein d’une ombre amoureuse», ja, dies war ein Wort, ein rätselhaft-schönes Wort – und erst als ich zehn Jahre alt war, erinnerte ich mich wieder an diese Worte und verstand sie endlich.

Es gab auch wüste Szenen. Wir hatten eine Näherin, die hieß Frau Macht. Zu dieser Frau sagte ich stets: «Böse Frau Macht, ich mag dich nicht, dort in die Ecke werf ich dich!» und hatte Freude an diesem Reim, Freude, die vergrößert wurde durch den Hass, den mir diese bucklige, dünne Alte einflößte. Meine Mutter verbot mir oft, diese Worte zu sagen, sie seien beleidigend, meinte sie. Einmal aber kam mein Vater heim, früher als sonst – es war in der Mitte eines Frühlingsnachmittags. Da holte ich aus der Schublade der Kredenz jenen Schleifer, der sonst auf dem Eßtisch lag und an dem mein Vater das Tranchiermesser wetzte, weil er gerne selber das Fleisch zerschnitt; ich nahm also dies spitze Instrument, hielt es wie einen Dolch und ging auf die alte Näherin zu, die ahnungslos am Fenster saß: «Böse Frau Macht …» Die Frau schrie auf vor Angst, mein Vater sah mich in dieser Stellung und ward sehr böse. Er wollte mich verprügeln; doch meine Mutter war dagegen, sie wollte nicht, dass ich Schläge erhielte. Mein Vater aber sagte zu seiner Frau: «Du wirst sehen, dass du deinen Sohn verdirbst!» Dieser Ausspruch kam mir merkwürdig vor. Ich war also plötzlich nicht mehr der Sohn meines Vaters, sondern nur der meiner Mutter. Darüber war ich froh, denn ich liebte meine Mutter. Und diese Liebe ist mir geblieben.

Der Sommer in Rasberg, da ich viereinhalb Jahre alt war, gehört zu jenen Steinen, die auf dem Grunde des Moores liegen. Eine große Wiese war dort, und sie war frisch gemäht, sodass die Stoppeln mich in die Sohlen meiner nackten Füße stachen. Ich hustete viel, und oft übertrieb ich dies Husten, weil dann meine Mutter mich pflegte. Mein Vater war in der Stadt geblieben. Von den späteren Jahren weiß ich, dass damals die Mittelschulen in Wien Mitte Juli Ferien machten – und diese dauerten dann bis Mitte September –, und darum glaube ich, dass wir schon Anfang Juni nach Rasberg gefahren sind. Wir waren nicht allein, Kollegen meines Vaters hatten sich mit ihren Familien im gleichen Dörflein eingemietet. Einmal hing der Mond am Himmel und war groß und dick, weil er noch [dicht] über dem Hügel war. Er schien mir gerade in die Augen, und ich saß auf dem Boden, den Rücken gegen die steinerne Hauswand gelehnt, die noch die Hitze des Sommertages verströmte. Über meinem Kopfe stand ein Fenster offen, und die Töne eines Klaviers strömten in die Nacht. Menschen tanzten auf der Wiese. Die weißen Kleider der Frauen waren lang und wehten hin und her, obwohl der Abend still war, weil der Nachtwind wohl schon schlief.

Ich weiß genau, dass meine flachen Hände auf dem warmen und sandigen Boden lagen, dass irgendwo Blumen blühen mussten, die ich nicht sah. Außer den weißen Kleidern, die im Takte wehten, gab es noch andere Gestalten, dunkle, deren Gesichter merkwürdig aussahen, wenn der Mond sie beschien. Denn dann sah man, dass die Wangen und das Kinn überwuchert waren mit Haaren. Jeder trug damals einen Bart.

Eine Frauenstimme sang leise, und ich erkannte die Stimme meiner Mutter. Sie besaß einen andern Klang als sonst, es war, als fehle es ihr an Atem, als sei der Tanz schuld an dem leisen Klang.

Dann packten mich plötzlich zwei Hände, hoben mich hoch.

«Nun muss mein Bub auch mit mir tanzen. Mein Bub hat doch keinen Bart, wenigstens …» Mit den Fußspitzen berührte ich den Boden, die Hände meiner Mutter waren heiß, ich machte kleine Schritte, und die große Frau passte sich ihnen an. Schwarze Flecken trug der Mond, dann kam eine Wolke, das Gestirn bekam eine rötliche Farbe. Trotzdem ich schwieg, hörte ich eine Stimme sagen:

«Hat der Bub wieder Angst?» Und ich wusste nicht, woher meine Mutter dies wusste. Ich wusste damals auch nicht genau, was Angst war, ich brauchte dies Wort, um von dem unangenehmen Gefühl zu sprechen, das mich auch des Tags bisweilen überfiel, wenn eine Wolke die Sonne verdunkelte. Dann fiel mir das Atmen schwer, ein unsichtbares Geschöpf saugte an mir, wuchs, hockte in der Magengrube … Ich habe nie verstanden, warum dies Gefühl mich immer gepackt hat, wenn Ruhe und Sicherheit mich umgab. Und nie habe ich unter ihm gelitten, wenn der Tod in meiner Nähe war. Ich denke noch jetzt oft an jenen Kampf in Marokko, als ich hinter dem Maschinengewehr saß und eine Räuberbande unsere Sektion stürmte. Damals hab ich gepfiffen und gesungen, ich war glücklich, weil die Angst ganz ferne war, so ferne, dass sie überhaupt nicht mehr bestand. Auch als ein Freund in Colomb-Béchar mich in einem Militärflugzeug mitnahm und wir drei Mal fast abgestürzt wären, weil die steinernen Berge der Wüste bedeckt waren mit Luftmoränen, über die das Flugzeug abrutschte und nicht mehr zu halten war – auch damals wurde mein Kopf kühl, und mein Mund spitzte sich zum Pfeifen.

Niemand wird wohl erklären können, warum die Angst plötzlich wächst und uns aussaugt, da Sicherheit uns umgibt.

Zwei Tage nach diesem Abend, an dem ich getanzt hatte unter dem blutroten Mond, kam uns mein Vater besuchen, sodass ich glauben muss, dass jener Tag ein Sonntag gewesen ist. Ich ging ihm entgegen und sagte ihm: «Maman est au lit …» – «Die Mutter ist im Bett …»

Am Morgen [zuvor] war die große Frau nicht aufgestanden, in der Nacht hatte ich sie stöhnen gehört, denn ich schlief mit ihr im gleichen Zimmer. Gegen Mitternacht flammte die Lampe auf, und der Glaszylinder schepperte leise, während der Geruch von Petroleum das Zimmer erfüllte. Ich wollte fragen, ich wollte sprechen – und brachte den Mund nicht auf und schloss die Augen. Die Mutter sollte nicht wissen, dass ich wach im Bette lag. Ich hörte sie aufstehen, in der Küche gurgelte Wasser in ein Glas, ich hörte, wie meine Mutter trank, und wusste, dass sie wieder ein oder zwei weiße Täfelchen geschluckt hatte. Diese Sache kannte ich gut, denn jedes Mal, wenn etwas derartiges vorging, runzelte sich die Stirn meines Vaters, und er fragte in seinem merkwürdig fremdklingenden Deutsch, das er bis an sein Lebensende beibehalten hat: «Du hast wieder Migräne, Friderike?» Dann versuchte meine Mutter ein Lächeln, das ihr schwerfiel, weil man fühlte, dass es nur mühsam die dicke Schicht durchdringen konnte, die sie einhüllte.

Am Tage, bevor mein Vater kam, stand die große Frau auf und half mir, wie immer, beim Anziehen. Sie hatte sich nicht gekämmt wie sonst; ihre langen Haare, die ihr bis zu den Hüften reichten, lagen auf ihrem Rücken, und über dem Nacken wurden sie von einem Bande zusammengehalten.

«Mama, hast du Schmerzen?», fragte ich.

Ihr Gesicht hatte eine gelbliche Farbe, sie antwortete mir nicht, sondern ihr Mund verzog sich. Sie, die vor mir kniete, um mir die Schuhe anzuziehen, sprang plötzlich auf und lief hinaus. Nach dem Mittagessen legte sie sich ins Bett und bat mich, die Läden zu schließen. So blieben wir allein im verdunkelten Zimmer, ich hockte auf dem Fußende des Bettes und blickte nur immer auf den Kopf, der im weichen Kissen versank.

Auch in der folgenden Nacht – früher diesmal, lange vor Mitternacht – klirrte das Glas der Petroleumlampe, und bis zum Morgen brannte das Licht auf dem Nachttisch. Von Zeit zu Zeit hörte ich die Seite eines Buches knistern. Dann lag wieder angstvolles Schweigen über dem Raum. Das Buch fiel mit einem leisen Knall auf die Marmorplatte des Nachttisches, ein leises Stöhnen, es ächzten die Federn des Bettes, Schritte tappten über den Holzfußboden, Wasser floss in der Küche.

Viel habe ich in jener Nacht wohl nicht geschlafen.

Als ich am nächsten Tage meinem Vater gesagt hatte, die Mutter liege im Bett, sah ich, dass der große, breitschultrige Mann mit der hohen Stirne – und der Bart, der bis zur Mitte der Brust fiel, machte das Gesicht noch größer –, ich sah also, wie die Gesichtshaut des großen Mannes plötzlich ganz weiß wurde. Mein Vater ließ mich stehen, es knarrten die Holzstufen, die hinauf in den ersten Stock führten. Ich setzte mich auf eine Bank neben der Haustür. Der Himmel war schwarz, hin und wieder zerschnitt ein Blitz die Dunkelheit. Doch der Donner schwieg.

Auf der Straße klapperten Wagen vorüber, die Hufe der Pferde dröhnten. Nun begannen langsam einzelne Tropfen zu fallen und wirbelten den Staub auf, wenn sie sich in ihn vergruben. Weit sprang das Dach des Hauses vor und schützte mich; über meinem Kopfe aber stand ein Fenster offen, und ich hörte zwei Stimmen. Eine klagende hohe, eine tiefe sorgenvolle. Dann knarrten wieder die Stufen, mein Vater trat aus dem Haus, streckte die Hand aus, schüttelte den Kopf, drückte den Hut in die Stirne und eilte dann davon. Ich sah, wie er zu unserm Nachbarn ging, in den Stall; gar oft war er dorthin gegangen, denn es machte ihm Spaß, dem Nachbarn beim Melken zu helfen. Ich durfte ihm zuschauen und war stolz auf ihn. Denn ein Professor, der melken konnte, war eine Seltenheit. Mein Vater aber hatte dies und das Mähen in seiner Jugend gelernt; denn mein Großvater, der jahrelang in Kalifornien eine Quarzmühle besessen hatte, war nach Europa zurückgekehrt, hatte geheiratet, sich am Genfersee ein Landgut gekauft und als Bauer gelebt. Doch von meinem Großvater will ich später erzählen.

 

Ich sah, wie mein Vater den Stall betrat, nach einer Weile kam er wieder heraus und hielt ein gesatteltes Pferd am Halfter. Er stieg auf und ritt davon. Nach einer halben Stunde kehrte er in Begleitung eines zweiten Reiters zurück. Immer noch bedeckte den Himmel eine schwarze Schicht, doch es fehlten die Tropfen, welche vor einiger Zeit den Straßenstaub aufgewirbelt hatten.

Mein Vater blickte mich nicht an. Er ließ sich vom Pferde gleiten, band den Zügel an die Dachtraufe, sein Begleiter tat das gleiche. Dann knarrten die Holzstufen wieder unter den schweren Schritten der beiden Männer.

Ich blieb auf der Bank sitzen; sie war hoch, darum konnte ich meine Füße nicht auf den Boden stellen. Ich lauschte, ich hörte eine fremde Stimme: «Guten Abend, gnä’ Frau! Schließen Sie das Fenster, Herr Professor!» Die Flügel quietschten, die Feuchtigkeit der Luft hatte sicher das Holz aufgetrieben, mein Vater hatte Mühe, das Fenster zu schließen.

Im Stalle drüben brüllte eine Kuh. Der Bauer stand in der Tür und blickte hinauf in den schwarzen Himmel, senkte den Kopf, betrachtete den Horizont und schien zu lauschen. Da hörte auch ich das Rollen des Gewitters, das noch fern war. Und so leise war dies Rollen, dass es mich an den gestrigen Morgen erinnerte. Genau so hatten die laufenden Tritte meiner Mutter getönt, als sie von mir weg über den Holzboden der Kammer hinausgeeilt war.

Die Blitze kamen näher, näher. Lauter wurde das Rollen. Nun erinnerte es an die Hufschläge eines galoppierenden Pferdes; plötzlich bleibt es stehen – vielleicht, weil der Reiter den Zügel zurückgerissen hat –, es bäumt sich auf, zwei-, dreimal noch klappern die Hufe der Hinterbeine auf der Straße. Dann Stille …

Und oben im ersten Stock wurde knarrend das Fenster wieder geöffnet. Die fremde Stimme sagte:

«Heut Abend noch lass ich den Krankenwagen kommen, gnä’ Frau. Und wenn Ihr Herz es aushält, wird alles gut gehen …»

Die nächsten Tage wohnte ich in einem andern Haus. Der Kollege meines Vaters hieß Husserl und besaß außer seiner Frau noch zwei erwachsene Töchter, die tagsüber mit mir spielten. Ich weiß noch gut, wie lange die Nächte waren, die ich allein in einem kleinen Zimmer verbringen musste. Immer war der Himmel bedeckt, der Mond konnte nicht mit seinem Licht durchs kleine Fenster leuchten; darum war es dunkel, und ich konnte nicht schlafen.

Vielleicht hätte die alte Frau Professor Husserl mir ein Nachtlicht auf den Nachttisch gestellt, aber ihr Mann war dagegen. Ich hörte ihn sagen: «Flora, denk doch, dass man den Buben abhärten muss. Jetzt, wo er wahrscheinlich keine Mutter mehr hat.»

Ich verstand die Worte, aber nicht ihren Sinn. Warum sollte ich keine Mutter mehr haben? Bis an einem Nachmittag mein Vater kam und ich ihn kaum wiedererkannte. Seine großen blauen Augen waren gerötet, sein Bart ungekämmt und sein Haupthaar wirr. Er trug keinen Kragen, keine Krawatte. Niemand hatte mir gesagt, dass er heute kommen würde. Doch stand ich trotzdem am Fenster der kleinen Kammer, in der ich nachts im Dunkeln schlafen musste – und auch nach dem Mittagessen musste ich mich aufs Bett legen, aber ich blieb nicht lange liegen, sondern stand auf und lehnte mich an die Mauer unter dem Fenster. Dann konnten meine Augen die Straße überblicken, die von Wiener-Neustadt nach Rasberg führt. So geschah es, dass ich den bärtigen Mann kommen sah; er schritt auf der Straße und stolperte bisweilen, wie ein müdes Pferd. Seinen breitrandigen Hut trug er in der Hand. Sonst war er schwarz gekleidet.

Die Treppen lief ich hinunter und ihm entgegen. Denn wenn der müde Mann auch nicht meinem Vater glich, so wusste ich doch, dass nur er es sein konnte. Ich lief die Treppen hinunter und traf niemanden, ich lief weiter auf die Straße – und dann stand ich plötzlich vor dem, der von weither kam. Ich stolperte, und der Mann fing mich auf, hob mich in die Höhe. Nun saß ich auf seinem Arm.

Früher konnte ich an dieser Stelle ruhn und wissen, dass ich nicht schwerer war als eine Feder. Heute spürte ich, dass der Mann mich nur mit Mühe trug.

«Soll ich laufen, Patschika?», fragte ich. Und der Mann schüttelte den Kopf und drückte mich an seine Brust. Wir kamen an einem alten Hause vorbei, über dessen Tür ein Tannenzweig hing.

«Komm, wir gehen hier hinein …», sagte der müde Mann. Und stellte mich auf den Boden. Und ergriff meine Hand. Die seine war kalt wie Eis.

Wir traten ein. Wir setzten uns an einen Tisch, auf eine Bank und kehrten dem Fenster hinter uns den Rücken zu.

Es kam eine Frau, hinten aus der Dunkelheit des Raumes, und fragte nach unsern Wünschen. Die Stimme des Mannes, der neben mir saß und meine Hand nicht losließ, tönte merkwürdig dumpf, wie aus einem hohlen Fass. Ich hörte nicht, was der Mann bestellte. Doch dann stand ein Fläschchen auf dem Tisch, gefüllt mit einer wasserklaren Flüssigkeit, und daneben ein kleineres Glas. Die Frau blieb vor dem Tische stehen, füllte das Gläslein, der Mann leerte es mit einem Zuge, die Frau füllte es sogleich wieder, der Mann trank wieder; wohl sechs Mal schlürfte er die wasserklare Flüssigkeit, die scharf roch. Und dann fragte ich, wieder auf Deutsch – und auch die Antwort kam in dieser Sprache:

«Was macht die Mama?» – «Mama? Sie ist beim lieben Gott …» Der Müde räusperte sich, zog ein Taschentuch, wischte seine roten Augen. «Vers le Bon Dieu …», wiederholte der Mann französisch.

Manchmal hätte ich gerne gewusst, von welchem Augenblick an wir beginnen, die Zeit zu messen; an welchem Tage, zu welcher Stunde beginnen wir zu sagen: «Dies ist vor einem Jahre, jenes vor drei Monaten, das Dritte genau vor vierundzwanzig Stunden geschehen.» Wann beginnen wir zu messen, wann wird es uns bewusst, dass die Jahre vergangen sind, die Monate, die Wochen, die Tage, die Stunden, dass wir deshalb älter geworden sind? Nur wenige Menschen habe ich getroffen, die sich nicht um den Ablauf der Zeit kümmerten. Gewöhnlich besaßen diese Leute eine merkwürdige Sicherheit, die tief in ihnen steckte. Sie waren gewappnet und fühlten nur Gleichgültigkeit für jene beiden Tatsachen, die in den meisten Sorge hervorruft, wenn sie an Reue, Sorgen, Kummer, Altern denken, oder an den Tod.

Die wenigen Menschen, bei denen ich jene Gleichgültigkeit für Dinge entdeckte, die für die Mehrheit so wichtig waren und so quälend, hatten alle in ihrer Kindheit die Mutter verloren oder den Vater. Daher ist ihnen wohl der Kummer und der Tod nicht etwas Fremdes, sondern etwas, das zum Leben gehört – zur Familie meinetwegen. Der Tod, der Kummer taucht nur als Schatten auf, ein Schatten, der die Gestalt des verstorbenen Elter[nteil]s angenommen hat. Dies scheint mir so selbstverständlich – denn war der Tod in meiner Nähe, so hatte er sich in die Mutter verwandelt, und ich konnte ihn nicht fürchten – im Gegenteil, ein Glücksgefühl stieg in mir auf: ‹Nun werde ich die Verschwundene endlich wiedersehen!› Denn in einem darf man sich nicht täuschen: Auch der Erwachsene sieht, wenn er allein ist, wenn er sich gehen lässt, die Außenwelt, wie er sie zum ersten Mal als Kind erkannt hat. In vielen Dingen hat die sogenannte Psychoanalyse – jene Kur, von der ich erzählt habe – falsche, überspannte Theorien aufgebaut. In einer Sache aber behält sie recht: Auch der reifste Mensch erlebt Augenblicke, in denen er die Wirklichkeit sieht, wie er sie als Kind erkannte. Und da die andern Menschen, die nur die Folgen solcher erlebten Augenblicke sehen, seine Handlungsweise nicht verstehen können, zucken sie die Achseln und behaupten – in unserer Heimat besonders –: Der Mensch spinnt …

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