Old Shatterhand, das bin ich

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Old Shatterhand, das bin ich
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Frederik Hetmann

Old Shatterhand, das bin ich

Die Lebensgeschichte des Karl May

FUEGO

- Über dieses Buch -

Seine Leser hat Karl May (1842-1912) in die exotische Welt des Orients und des amerikanischen Westens versetzt, als wäre er selbst auf den Spuren von Winnetou und Old Shatterhand, Hadschi Halef Omar und Kara Ben Nemsi gewandelt. 33 Bände "Reiseerzählungen" hat er verfasst und ist doch so gut wie nie aus seiner sächsischen Heimat herausgekommen. Abenteuerlich war sein Leben trotzdem - Gefangenschaft, Geheimnis und Zweikampf im Namen der Ehre sind darin immer wiederkehrende Situationen. Aufgewachsen mit 13 Geschwistern in einer bescheidenen Weber-Familie, wird er aus materieller Not straffällig. Eine hart urteilende Justiz und seine schon da überschwängliche Phantasie treiben ihn immer tiefer in kriminelle Verstrickungen: Was mit einem Kleinstdiebstahl begann, endet in Amtsanmaßung und Hochstapelei. Im Zuchthaus entdeckt Karl May, 32-jährig, seine erzählerische Begabung. Er schreibt Dorfgeschichten und sentimentale Romane, bevor er die "Reiseerzählungen" zu seinem eigentlichen Motiv macht.

Frederik Hetmann erzählt den sozialen und kulturhistorischen Hintergrund von Mays Schaffen und stellt dessen wichtigste Werke in pointierten Rezensionen vor.

Dieses Buch ist Henner Grube gewidmet.

»Ich bin wirklich Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi und habe erlebt, was ich erzähle.«

Karl May

»Das Leben dieses Märchenerzählers war selbst wie ein Märchen – so phantastisch, so bedeutungsschwer. [...] Seine persönliche Schuld, seine Reue, sein innerer Widerspruch, sein Kampf mit sich selbst spiegeln die ›Menschheitsklage‹, die scheinbare Heillosigkeit des menschlichen Daseins überhaupt.«

Hermann Wohlgschaft

»Es gibt nur Hegel und Karl May.

Alles dazwischen ist eine unreine Mischung.«

Ernst Bloch


Karl May [Aufnahme Erwin Raupp, 1907]

Prolog

»Im Bett zu liegen, krank zu sein, nicht in die Schule zu gehen und Karl May lesen zu dürfen hat ja stets seine trostreichen Reize in diesem Leben gehabt.«

Hermann Broch

Es ist um diesen Mann Karl May ein Geheimnis. Ernst Bloch, der Philosoph der Hoffnung und Utopie, nennt ihn einen der besten deutschen Erzähler.1 Für Hermann Hesse ist Karl May »der glanzvollste Vertreter eines Typs von Dichtung, [...] die man etwa Dichtung der Wunscherfüllung nennen könnte«.2

Es gibt auch andere Stimmen: Max Brod beispielsweise hat Karl Mays Bücher bedeutungslos und fad gefunden.

Klaus Mann schreibt die Tatsache, dass Adolf Hitler Karl May gelesen hat, dass ihm sogar Einzelheiten aus dessen Leben vertraut gewesen sind, den rassistischen, nationalistischen und sadistischen Tendenzen bei May zu und findet, das Dritte Reich sei Mays »äußerster Triumph, die schaurige Verwirklichung seiner Träume gewesen«.3

Einige Nationalsozialisten hingegen hielten Karl May für einen Marxisten, Pazifisten und Befürworter jeder Rassenmischung.

Lange hält sich in der Öffentlichkeit der Vorwurf des »Schundautors«, des »Verführers der Jugend«, des Schriftstellers, der ein Verbrecher war.

Von Arno Schmidt wird in Sitara und der Weg dorthin Mays ganzes Werk vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der erotischen Verdrängungen eines Homosexuellen entziffert.

Bis schließlich 1965 Hans Wollschläger durch einen psychoanalytischen Ansatz der komplexen Persönlichkeit Karl Mays verständnisvoll, aber ohne Beschönigung gerecht zu werden versucht.

Allein schon diese Auswahl teils empfehlender, teils abwertender Beurteilungen, in denen auch eine gewisse Überschätzung des Phänomens Karl May klar zu erkennen ist, macht neugierig und regt dazu an, sich näher mit Karl May zu beschäftigen, um sich eine eigene Meinung zu bilden.

Das vorliegende Buch ist für jugendliche Leser gedacht, jedoch soll es auch der erwachsene Leser, der mit dem Leben und Werk Karl Mays nicht fachmännisch vertraut ist, als eine Art Einführung zur Hand nehmen können.

Als Kind bin ich selbst ein eifriger Karl-May-Leser gewesen. Was mich damals für seine Romane einnahm, war nicht so sehr die Vermittlung von geographischem Wissen, das ihm selbst - jedenfalls in seinen so genannten »Reiseerzählungen« – sehr wichtig war. Vielmehr war es der traumhafte Zustand, in den diese Geschichten, nicht zuletzt durch die Fähigkeit des Autors, in ihnen Spannung zu erzeugen, den Elf- oder Zwölfjährigen versetzten. Bestimmt hat mir aber auch ihre moralische Eindeutigkeit, der immer gewährleistete Sieg des Guten über das Böse, gefallen.

Die Perspektive, unter der ich mich nun fünfzig Jahre später der Person und dem Werk von Karl May annähere, ist eine völlig andere.

Sie ergibt sich aus einem Erlebnis 1968, das vielfältige Nachwirkungen auf meine Tätigkeit als Autor hatte. Damals bereiste ich mit einem Stipendium die USA. Ich recherchierte für eine Sozialgeschichte des Schwarzen Amerika4 bei den Bürgerrechtsorganisationen und in den Gettos der Afro-Amerikaner. In Washington meinten meine amerikanischen Gastgeber, ich solle nun auch einmal das Bild des anderen, »sauberen«, eindrucksvoll-schönen Amerika zu Gesicht bekommen, wohin ich denn wolle? Dabei dachten sie wohl an touristische Attraktionen wie die Niagarafälle, Hollywood oder Disneyland. Ich aber sagte, ich wolle zu den Indianern.

Diese Antwort versetzte meine Gastgeber in Verlegenheit. Offenbar interessierte sich damals in Regierungskreisen niemand besonders für die indianische Minderheit im Land, obwohl Anhänger der Red-Power-Bewegung gerade eben in Washington das Bureau of Indian Affairs, jene Abteilung des US-Innenministeriums, die für die Reservationen zuständig ist, besetzt hatten, um auf ihre Probleme hinzuweisen. Auch möglich, dass man einen Gast aus dem Ausland nicht gerade mit den Problemen der Native Americans konfrontieren wollte. »Warum denn ausgerechnet zu den Indianern?«, fragte man mich kopfschüttelnd.

Wahrscheinlich nur, weil mir keine andere Begründung einfiel, erzählte ich, dass in Deutschland die meisten Jugendlichen irgendwann einmal Karl Mays Romane gelesen haben, dass Karl May bekanntlich erst nach Abfassung seiner Romane in den USA gewesen und nie in den amerikanischen Westen gekommen sei. Ich wollte das anders angehen: Erst der Augenschein, dann das Schreiben.

Schließlich führte meine Bitte dazu, dass ich einem Arzt, der Navajo-Kinder gegen Tuberkulose zu impfen hatte, zugeteilt wurde. Mit ihm reiste ich zwei Wochen durch die größte Indianerreservation der USA, die der Navajo in Arizona und New Mexico. Meine Vorliebe für die archaische Bildwelt der indianischen Mythen und Märchen wurde dabei mit der indianischen Lebensweise im 20. Jahrhundert konfrontiert. Ich bin dann wiederholt im Südwesten und Mittelwesten in indianischen Reservationen gewesen, und es sind im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von Sammlungen indianischer Mythen und Märchen entstanden, auch Erzählungen und Sachbücher für Jugendliche wie für Erwachsene.5

Ich teile also, wenn man so will, die Indianerbegeisterung Karl Mays.

Ein weiterer Ansatz ergibt sich aus meiner Lust und Neugier, das Wesen umstrittener Personen zu erkunden. Da blickt man bei Karl May, was die verschiedenen Rollen angeht, die er im Laufe seines Lebens verkörpert, auf ein weites Feld: Kind armer Leute, angehender Lehrer, Hochstapler, Zuchthäusler, Arbeitssklave eines Schundverlages, Großschriftsteller und Selbstdarsteller, betrogener Betrüger, Reisender und schließlich nach leidenschaftlich betriebener Sinnsuche: Weltbürger und Pazifist in Zeiten eines chauvinistischen Nationalismus und deutscher Großmannssucht.

Einer von Mays Biographen hat erklärt, seine Person sei für viele seiner Leser hinter den Millionenauflagen, den Gesammelten Werken, den Taschenbuchausgaben, hinter Festspielen und Filmen verschwunden.6 Deshalb scheint es mir wichtig, den »unbekannten« Karl May vorzustellen, und zwar in engem Bezug zu seinem Werk, denn in fast allen Texten Mays lassen sich verschlüsselte Darstellungen und Lösungsversuche seiner eigenen Lebensprobleme erkennen.

Würde mich jemand fragen, weshalb dies eine Geschichte ist, die junge Menschen heute angeht, so würde ich antworten: Weil man an ihr miterlebt, wie ein vom Schicksal benachteiligter und verletzter Mensch sich am Ende am eigenen Haarschopf aus dem Sumpf, in den er durch seine Torheiten hineingerät und zu versinken droht, herausarbeitet, sich einen Beruf wählt und Erfolg hat. Wie also dieser kriminell gewordene junge Mann zu einer sinnvollen Lebensaufgabe gelangt, jener nämlich, andere Menschen zu unterhalten, indem er Geschichten erzählt. Schon das allein, denke ich, wäre Grund genug, um Leben und Werk dieses rätselhaften Menschen, über den die Urteile seiner Zeitgenossen und der Nachwelt so weit und schroff auseinandergehen, genau zu betrachten und sein faszinierendes Schicksal zu rekonstruieren.

I. Armer Leute Kind

»In meinen Büchern identifiziere ich mich mit der Menschheit, der es genau ebenso ergeht, wie es damals mir ergangen ist: sie hat ihre Seele verloren; infolgedessen ergeht sich ihr Geist in Irrtümer, die nicht eher behoben werden können, als bis ihre Seele sich wieder zurückgefunden hat.«

 

Karl May

Karl Friedrich May wird am 25. Februar 1842 gegen 22 Uhr in der erzgebirgischen Kleinstadt Ernstthal in Sachsen als fünftes Kind des Webers Heinrich August May (1810-1888) und seiner Frau Christiane Wilhelmine geb. Weise (1817-1885) im Hause Niedergasse 11 (später 122) geboren.

Als er zur Welt kommt, lebt von seinen vor ihm geborenen Geschwistern nur noch die vierjährige Auguste Wilhelmine. Drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, sind der zu dieser Zeit äußerst hohen Säuglingssterblichkeit zum Opfer gefallen. Die Mutter wird zwischen ihrem neunzehnten und fünfundvierzigsten Lebensjahr vierzehn Kinder gebären. Neun davon sterben schon in frühester Kindheit.

Die Vorfahren Mays sind fast alle Bauern, Handwerker und Weber gewesen. Über die dramatischen Todesumstände der beiden Großväter ist Genaueres bekannt. Der Großvater mütterlicherseits, Christian Friedrich Weise, hat sich 1832 eines Nachts im Keller eines Nachbarn erhängt. Über den Tod des Großvaters väterlicherseits erzählt Karl May:

»Er war zu Weihnacht nach dem Nachbarort gegangen, um Brot zu holen. Die Nacht überraschte ihn. Er kam im tiefen Schneegestöber vom Weg ab und stürzte in die damals steilste Schlucht des Krähenholzes, aus der er sich nicht herausarbeiten konnte. Seine Spuren wurden verweht. Man suchte lange Zeit vergeblich nach ihm. Erst als der Schnee verschwunden war, fand man seine Leiche und Brote.« (Karl May: Mein Leben und Streben, Hildesheim u.a. 1997, S.9)

Freilich ist das nicht die ganze Wahrheit: Der Großvater kam vom Weg ab, weil er betrunken war. Das Totenbuch vermerkt in seinem Falle: »Unordentliche Lebensart.«

Anhand von zeitgenössischen Statistiken kann man sich ein genaueres Bild von der sozialen Lage der Bevölkerung von Ernstthal, einer kleinen Stadt in der Nähe von Zwickau, machen: »Von den 2630 Einwohnern ernähren sich 80 Prozent von der Heimweberei, die seit der Blütezeit zu Beginn des Jahrhunderts unaufhaltsam niedergegangen ist und zum Existenzminimum jetzt wenig über ein Drittel beiträgt; ›Nebenberufe‹ müssen aushelfen. Schmuggel und anderes; in Scharen verlassen Auswanderer die kümmerliche Heimat, hinüber ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten; die öffentlichen Einrichtungen – etwa das Schulwesen – sind durch Schulden in Unordnung; 84 Haushalte zählt 1845 eine Akte zu den Ärmsten der Armen. Mangelkrankheiten bestimmen Leben und Sterben: Das, was man gegenwärtig diskret als Unterernährung zu bezeichnen pflegt, ist wohl auch Ursache für die Erblindung des Kindes kurz nach der Geburt; sie wird erst – lange von törichten Kuren verpfuscht – im fünften Lebensjahr durch Eingreifen Dresdner Ärzte behoben. Bei schimmligen Brötchen, Unkrautsuppe und Kartoffelschalensud gedeiht nicht eben mehr als ein ›Kellerkeim von Junge‹, ein krankes, schwaches Kind, welches noch im Alter von sechs Jahren auf dem Boden rutschte, ohne stehen und laufen zu können, aber umso mehr das Verlangen nach dem Anderen, das hinter solcher Wirklichkeit wäre, nach der besseren Welt, die mit Gedanken zu erreichen, in der mit Gedanken frei zu schalten sei: Ich habe in meiner Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und in die Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt.«7

Ob Karl May in den ersten Lebensjahren vollständig blind gewesen war, ist mittlerweile umstritten. Der in Berlin lebende Arzt Johannes Zeilinger überprüfte akribisch alle möglichen zeitgenössischen Krankheitsursachen einer Erblindung, dazu die Sehfähigkeit Karl Mays anhand seiner Brillen, die im Museum in Radebeul aufbewahrt werden. Nach alledem kommt er zu dem Schluss: »So ist in doppelter Hinsicht die Blindheitsepisode des jungen May eine ophthalmologische Unmöglichkeit.«8 Es scheint demnach durchaus denkbar, dass es sich vielmehr um eine der zahlreichen Mystifikationen handelt, mit denen May in späteren Jahren sein Leben zu umgeben pflegte.

War nicht auch der Sänger der Antike, Homer, blind gewesen? Das Motiv der Blindheit taucht immer wieder in den Romanen Karl Mays auf.

Karl Mays eigene Aufzeichnungen sind das einzige direkte Zeugnis, das über seine Kindheit vorliegt. Gegenüber seinen Lebenserinnerungen mit dem Titel Mein Leben und Streben (später enthalten in dem Band Ich) sind, bei aller Anschaulichkeit gerade der Passagen über Kindheit und Jugend, gewisse Vorbehalte angebracht. Es hat sich herausgestellt, dass der Phantasiebegabte nicht unbedingt die Wirklichkeit nachgezeichnet hat, sondern häufig der Versuchung erlag, Wunschträumen nachzugeben und die Situation zu erklären.

Bei allem Elend und der materiellen Not der Familie scheint das kleine Haus, das die Mutter – freilich samt der auf ihm liegenden Schulden – geerbt hatte, wenigstens in den Augen der Kinder ein Ort der Geborgenheit, ja sogar einer gewissen Behaglichkeit gewesen zu sein.

Karl May erzählt: »Mutter hatte ganz unerwartet von einem entfernten Verwandten ein Haus geerbt und einige kleine, leinene Geldbeutel dazu. Einer dieser Geldbeutel enthielt lauter Zweipfennigstücke, ein anderer Dreipfenniger, ein dritter lauter Groschen. In einem vierten steckte ein ganzes Schock Fünfzigpfenniger, und im fünften und letzten fanden sich zehn alte Schafhäuselsechser, zehn Achtgroschenstücke, fünf Gulden und vier Thaler vor. Das war ja ein Vermögen! Das schien der Armut fast wie eine Million. Freilich war das Haus nur drei schmale Fenster breit und sehr aus Holz gebaut, dafür aber war es drei Stockwerke hoch und hatte ganz oben unter dem First einen Taubenschlag, was bei anderen Häusern bekanntlich nicht immer der Fall zu sein pflegt. Großmutter, die Mutter meines Vaters, zog in das Parterre, wo es nur eine Stube mit zwei Fenstern und die Haustür gab. Dahinter lag ein Raum mit einer alten Wäscherolle, die für zwei Pfennig pro Stunde an andere Leute vermietet wurde. [...] Im ersten Stock wohnten die Eltern mit uns. Da stand der Webstuhl mit dem Spulrad. Im zweiten Stock schliefen wir mit einer Kolonie von Mäusen und einigen größeren Nagetieren, die eigentlich im Taubenschlage wohnten und des Nachts nur kamen, uns besuchen. Es gab auch einen Keller, doch er war immer leer. Einmal standen einige Säcke Kartoffeln darin, die gehörten aber nicht uns, sondern einem Nachbar, der keinen Keller hatte. Großmutter meinte, daß es viel besser wäre, wenn der Keller ihm und die Kartoffeln uns gehörten. Der Hof war grad so groß, daß wir fünf Kinder uns aufstellen konnten, ohne einander zu stoßen. Hieran grenzte der Garten, in dem es einen Hollunderstrauch, einen Apfel-, einen Pflaumenbaum und einen Wassertümpel gab, den wir als ›Teich‹ bezeichneten. Der Hollunder9 lieferte uns den Tee zum Schwitzen, wenn wir uns erkältet hatten, hielt aber nicht sehr lange vor, denn wenn das Eine sich erkältete, fingen auch alle Anderen an zu husten, und wollten mit ihm schwitzen. Der Apfelbaum blühte immer sehr sehr schön und sehr reichlich; da wir aber nur zu wohl wussten, dass die Äpfel gleich nach der Blüte am besten schmecken, so war er meist schon Anfang Juni abgeerntet. Die Pflaumen aber waren uns heilig. Großmutter aß sie gar zu gern. Sie wurden täglich gezählt, und niemand wagte es, sich an ihnen zu vergreifen. Wir Kinder bekamen doch mehr, viel mehr davon, als eigentlich auf uns fiel.« (Leben und Streben, S.13f.)

Der Alltag in den zwei dicht beieinanderliegenden Städtchen Hohenstein und Ernstthal, »deren Gäßchen sich stellenweise wie die Finger zweier gefalteten Hände ineinanderschoben«, wie May es ausdrückt, wird in seinen Lebenserinnerungen höchst anschaulich abgebildet. Hier ist nichts geschönt oder verklärt. Ja, man erhält bei diesen eingesprengten Milieuschilderungen eine Vorstellung davon, wie es in einer Kleinstadt in den entlegeneren Landesteilen Deutschlands im sonst als so behaglich gerühmten Biedermeier zugegangen sein mag:

»Die Hauptbeschäftigung bildete die Weberei. Der Verdienst war kärglich, ja oft überkärglich zu nennen. Zu gewissen Zeiten gab es wochen-, zuweilen monatelang wenig oder gar keine Arbeit. Da sah man Frauen in den Wald gehen und Körbe voll Reisig heimschleppen, um im Winter Feuerung zu haben. Des nachts konnte man auf einsamen Pfaden Männern begegnen, welche Baumstämme nach Hause trugen, die noch während der Nacht zu Feuerholz zersägt und zerhackt wurden, damit wenn Haussuchung kam, nichts gefunden werden konnte. Es galt für die armen Weber fleißig zu sein, und den Hunger abzuwehren. Am Sonnabend war Zahltag. Da trug ein jeder sein ›Stück zu Markte‹: Für jeden Fehler, der sich zeigte, gab es einen bestimmten Lohnabzug.« (ebenda, S.82)

Am Wochenende wird viel getrunken und es werden Glücksspiele gemacht, bei denen nicht selten ein ganzer Wochenverdienst den Besitzer wechselt. Der Pfarrer, der Arzt, der Rechtsanwalt sind die einzig gebildeten Personen am Ort. Die Häuser sind klein, die Gassen eng. Jeder beobachtet jeden. »Man wußte alles, aber man schwieg. Nur zuweilen, wenn man es für nötig hielt, ließ man ein Wörtchen fallen, und das war genug. Man kam dadurch zur immerwährenden, aber stillen Hechelei, zur niedrigen Ironie, zu einem scheinbar gutmütigen Sarkasmus, welcher aber nichts Reelles an sich hatte.« (ebenda, S. 83f.)

Es ist zu bedauern, dass Karl May diese Atmosphäre und die Menschen, die sich in ihr bewegten, in keinem seiner Romane ausführlich dargestellt hat. Eine Ausnahme bildet der Schlussteil von Der verlorene Sohn, einer der Kolportageromane, von denen noch zu reden sein wird.

Karl May kannte sich im Kleinstadtmilieu gut aus. Es weht Mief durch diese Stadt und da ist viel kleinbürgerliche Gemeinheit, die ihn empört: »So hatte sich aus den sonnabendlichen Kartenspielen ein lichtscheues Unternehmen gebildet, welches den Zweck verfolgte, verbotenes, ja sogar betrügerisches Kartenspiel zu pflegen. Die Betreffenden kamen zusammen, um sich in der Zubereitung und im Gebrauch flacher Karten zu üben. Sie etablierten sich in einer vor der Stadt gelegenen Wirtschaft. Sie schickten Zubringer aus, um Opfer einzufangen. Da saß man nächtelang und spielte um hohe Einsätze. Mancher kam da mit vollen Taschen und ging mit leeren fort. Man erzählte sich von jedem neuen Coup, der gemacht worden war. Man sprach von den erbeuteten Summen, und man freute sich darüber, anstatt daß man sich diese Betrügereien vorwarf. Man verkehrte mit den Falschspielern wie mit ehrlichen Leuten. Man leistete ihnen Vorschub. Ja man achtete, man rühmte ihre Pfiffigkeit, und man verriet nicht das geringste von allem, was man von ihnen wußte. Daß hierdurch eigentlich das ganze Städtchen an dem Betruge gegen die herbeigeschleppten Opfer beteiligt wurde, und Jedermann, der von diesen Gaunereien wußte, sich streng genommen, als Hehler zu betrachten hatte, das leuchtete keinem Menschen ein.« (ebenda, S. 84)

Selbst wenn man unterstellt, dass durch die moralisierende Polemik manch eigene Verfehlungen Mays in ein milderes Licht getaucht werden sollen, muss die Atmosphäre einer solchen Kleinstadt beklemmend gewesen sein. Gewiss war jenes soziale Klima auch eine Konsequenz der politischen Zurücksetzung und Enthaltsamkeit des Bürgertums: Weil man politisch nicht oder nur eingeschränkt mitreden durfte, wetzte man seine Zunge desto heftiger an den menschlichen Schwächen der Nachbarn.

Von seinem Vater berichtet May, er sei aufbrausend, jähzornig, unbeherrscht und gegenüber den Kindern gewalttätig gewesen, »ein Mensch mit zwei Seelen. Die eine Seele unendlich weich, die andere tyrannisch, voll Übermaß im Zorn, unfähig sich zu beherrschen. Er besaß hervorragende Talente, die aber alle unentwickelt geblieben waren, der großen Armut wegen. Er hatte nie eine Schule besucht, doch aus eigenem Fleiß fließend lesen und sehr gut schreiben gelernt. Er besaß zu allem, was nötig war, ein angeborenes Geschick. Was seine Augen sahen, machten seine Hände nach. Obgleich nur Weber, war er doch imstande, sich Rock und Hose selbst zu schneidern und seine Stiefel selbst zu besohlen. Er schnitzte und bildhauerte gern, und was er da fertig brachte, das hatte Schick und war gar nicht so übel. Als ich eine Geige haben mußte und er kein Geld auch zu dem Bogen hatte, fertigte er schnell selbst einen an. Dem fehlte zwar ein Wenig an schöner Schweifung und Eleganz, aber er genügte vollständig, seine Bestimmung zu erfüllen. Vater war gern fleißig, doch befand sich sein Fleiß stets in Eile. Wozu ein anderer Weber vierzehn Stunden brauchte, dazu brauchte er zehn; die übrigen vier verwendete er dann zu Dingen, die ihm lieb waren«.

Für die Kinder und wohl auch für die Ehefrau hatte solch konzentriertes Arbeiten auch eine Schattenseite, die May nicht verschweigt.

 

»Während dieser zehn anstrengenden Stunden war nicht mit ihm auszukommen; alles hatte zu schweigen; niemand durfte sich regen. Da waren wir in steter Angst ihn zu erzürnen. Dann wehe uns! Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte ›birkene Hans‹, vor dem wir Kinder uns besonders scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor Züchtigungen im großen ›Ofentopfe‹ einzuweichen, um ihn elastischer und also eindringlicher zu machen. Übrigens, wenn die zehn Stunden vorüber waren, so hatten wir nichts mehr zu befürchten; wir atmeten alle auf, und Vaters andere Seele lächelte uns an. Er konnte dann geradezu herzgewinnend sein, doch hatten wir selbst in den heitersten und friedlichsten Augenblicken das Gefühl, daß wir auf vulkanischem Boden standen und von Moment zu Moment einen Ausbruch erwarten konnten.« (ebenda, S. 9f.)

Die Vermutung, dass die Begeisterung Hadschi Halef Omars für Peitschenhiebe und die Abneigung gegen solche Abstrafung bei Kara Ben Nemsi in den Orientromanen Mays hier ihren Erfahrungsgrund hätten, geht bestimmt nicht fehl.

Die vom Sohn gerühmten Fähigkeiten des Vaters hat Claus Roxin in einer biografischen Skizze näher betrachtet. Er schreibt: »Das einzige erhaltene Schriftstück von seiner [des Vaters] Hand, eine aus dem Jahr 1856 stammende Bitte an das Armenkomitee zu Ernstthal um Unterstützung für seine Mutter, zeigt freilich, dass er die Regeln der Orthografie und des Satzbaus höchst unzulänglich beherrschte. Dagegen neigte er – und hierin war er seinem Sohn am ähnlichsten – zu fantastischen Unternehmungen. Die kärglichen Geldmittel der Familie verschleuderte er durch dilettantische Versuche, mit Hilfe eines Taubenhandels zu Reichtum zu kommen; und anlässlich der Revolution von 1848 übte er sich im ›höheren Kommando‹, indem er Offizier und General spielte und seinen kleinen Sohn als ›sächsische Armee‹ exerzieren ließ. [...] Immer wieder drängte es ihn aus der sozialen Deklassierung zu öffentlicher Wirksamkeit. Er gehörte 1834 zu den Gründungsmitgliedern der Bürgergarde in Ernstthal, einer von den Bürgern selbst organisierten Hilfspolizei, zu deren ›Vertrauensmann‹ er auch gewählt wurde. Ob er im April 1848 am Sturm auf das Waldenburger Schloss des Fürsten von Schönburg mitgewirkt hat, wissen wir nicht; es ist unwahrscheinlich. Doch beteiligte er sich 1849 an der Gründung des Ernstthaler Vaterländischen Vereins, einer linksdemokratischen Gruppe. Auch der erwähnte Brief an den Armenverein ist nicht frei von provozierenden Tönen. Doch ist Heinrich August May – anders als sein weit begabterer Sohn – nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen.«10

Komplizierter stellt sich das Bild der Mutter und das Verhältnis Karls zu ihr dar. Er verherrlicht sie als »Märtyrerin«, die still ihre Pflicht tut und sich für die Familie aufopfert. »Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus ihrem Mund gehört. Sie war ein Segen für jeden, mit dem sie verkehrte, vor allen Dingen ein Segen für uns, ihre Kinder. Sie konnte noch so schwer leiden, kein Mensch erfuhr davon.« (Leben und Streben, S. 9)

Auch das ist eine idealistische Stilisierung. Karls Mutter war überfordert. Nicht nur durch die wahnwitzige Zahl der Geburten und Kindstode. Schließlich ist sie es auch, die die bedrohliche materielle Situation der Familie einigermaßen stabilisieren hilft, nachdem der Vater durch seinen missglückten Taubenhandel das bisschen Geld, das durch die Erbschaft der Mutter ins Haus gekommen ist, vertut und dann gar noch einen ebenso verlustreichen Handel mit Lebensmitteln beginnt.

Dass das Verhältnis der beiden Ehepartner nicht konfliktfrei war, schildert Karl May selbst ausführlich: »Dieses unstäte, unnütze Leben [des Vaters] forderte nicht, sondern fraß das Glück des Hauses; es fraß sogar auch noch die übrigen Leinenbeutel. Mutter gab gute Worte vergeblich. Sie härmte sich und trug still, bis es Sünde gewesen wäre, weiter zu tragen. Da faßte sie einen Entschluß und ging zum Herrn Stadtrichter Layritz. [...] Sie stellte ihm ihre Lage vor. Sie sagte ihm, daß sie zwar ihren Mann sehr, sehr lieb habe, aber vor allen Dingen auch auf das Wohl ihrer Kinder achten müsse. Sie verriet ihm, daß sie außer den bisher erwähnten Beuteln noch einen besitze, den sie ihrem Mann noch nicht gezeigt, sondern verheimlicht habe. Der Herr Stadtrichter Layritz solle doch die Güte haben, ihr zu sagen, wie sie das Geld anlegen könne, um sich und ihre Kinder zu sichern. Sie legte ihm den Beutel vor. Er öffnete ihn und zählte. Es waren sechzig harte, blanke, wohlgeputzte Taler. Darob großes Erstaunen! Der Herr Stadtrichter Layritz dachte nach; dann sagte er: ›Meine liebe Frau May, ich kenne Sie. Sie sind eine brave Frau, und ich stehe für Sie ein. Unsere Hebamme ist alt; wir brauchen eine jüngere. Sie gehen nach Dresden und werden für dieses Geld Hebamme. Ich werde das besorgen! Kommen Sie mit der ersten Zensur zurück, so stellen wir Sie sofort an. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Kommen Sie aber mit einer niedrigeren Zensur, so können wir Sie nicht gebrauchen. Jetzt aber gehen Sie heim, und sagen Sie Ihrem Mann, er solle sofort einmal zu mir kommen; ich hätte mit ihm zu reden.‹

Das geschah. Mutter ging nach Dresden. Sie kam mit der ersten Zensur zurück, und der Herr Stadtrichter Layritz hielt Wort; sie wurde eingestellt.« (ebenda)

May bringt seine medizinische Behandlung in Dresden, die zur Aufhebung seiner »Blindheit« führt, mit dem Aufenthalt der Mutter dort und ihrer Bekanntschaft mit einer ärztlichen Kapazität in Verbindung, die sie mit dem Kind schließlich konsultiert. Zwischen den Zeilen steht: Ohne diese zufällige Verbindung, die sich durch die Ausbildung der Mutter zur Hebamme bei Professoren in der »Großstadt« ergab, hätte es sich die Familie nicht leisten können, den Sohn von einem Facharzt in Dresden behandeln zu lassen.

Das Haus in der Niedergasse ist 1837 an die Mutter vererbt worden. Es ist aber mit einer Hypothek und – was den heutigen Leser erstaunen mag – mit Fronabgaben an den Grafen von Schönburg-Hinterglauchau belastet. Außerdem müssen immer 20 Gulden und 5 Groschen bereitliegen, die bei dessen eventueller Heimkehr aus der Fremde an den Schwager der Erblasserin, Christian Gottlob Klemm, auszuzahlen sind.

1845 muss die Familie May dieses geerbte Haus für 515 Reichstaler verkaufen und wohnt ab da in einem Haus am Markt zur Miete. Ein Teil des Verkaufserlöses dient dazu, die Hebammenausbildung der Mutter in Dresden zu bestreiten.

Während der Abwesenheit der Mutter erkranken die daheim unter der Obhut der Großmutter zurückgebliebenen Kinder an Blattern. Aus Mays Darstellung der Krankheit, bei der sich der Kopf seiner Schwester in einen unförmigen Klumpen Fleisch verwandelt und der Arzt die Lippen freischneiden muss, damit man dem Kind etwas Milch einflößen kann, erfährt man, wie wenig die Medizin damals bei dieser Seuche den Menschen zu helfen vermochte, vor allem, wenn es sich um arme Patienten handelte.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit hängt die bedrängte Lage der Mays auch mit der Verschärfung der Berufssituation der Handweber zusammen. Aus England, wo die Industrialisierung früher begonnen hat als in Deutschland, kommt billigere Ware auf den kontinentalen Markt. Die Not der als Heimwerker arbeitenden Weber nimmt unerträgliche Formen an. Das führt 1844 zu dem großen Weberaufstand in Schlesien, den Gerhart Hauptmann in seinem Drama Die Weber geschildert hat.

Auch in der Heimat Mays kommt es im April 1848 zu Unruhen, die der kleine Karl wohl wahrgenommen haben dürfte. Beim Sturm auf die Residenz des Fürsten Schönburg-Waldenburg wird von der erregten Volksmenge, unter der sich viele Weber und Strumpfwirker befinden, das Schloss in Brand gesteckt und geplündert.

Offenbar haben die Ereignisse zur Folge, dass die Mutter in ihrer Funktion als Hebamme versucht, endlich ihre Forderungen nach einem Mindestlohn und einer Entschädigung bei Arbeitsausfall durchzusetzen. Die Eingabe wird beim Glauchauer Amt gemacht. Das erklärt sich für nicht zuständig und verweist die Bittstellerin an den Gemeinderat von Ernstthal, der den Antrag ablehnt. Ihr Insistieren und das Hin und Her bei den Behörden in Glauchau und Ernstthal haben schließlich nur zur Folge, dass man sich daran erinnert, Heinrich May habe sich bei der Anstellung seiner Frau bereit erklärt, auf die Almosenzuwendungen für seine Mutter zu verzichten, die bis dato immer noch gezahlt wurden. Diese Zahlungen werden jetzt gestrichen.