Erhoffte Hoffnungslosigkeit

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17.12.2018

Wittgenstein entwarf das Bild von einer Schachtel mit einem Käfer. Jeder Mensch besitzt eine entsprechende Schachtel, kennt aber nur den eigenen Käfer, von dem er auf die Käfer der anderen schließt. Was aber, wenn ich selbst nie in meine Schachtel geschaut habe? Etwa aus Angst, keinen Käfer in meiner Schachtel vorzufinden. Aus Angst habe ich meine Schachtel nie geöffnet und tue nur so, als wüsste ich über meinen Käfer und damit auch über die Käfer der anderen Bescheid, während ich in Wirklichkeit keine Ahnung habe und diese Unsicherheit, nie zu wissen, wovon die anderen sprechen, mit mir herumtrage. Aber vielleicht haben die anderen aus derselben Angst heraus auch nie in ihre Schachtel geschaut. Ich bekomme eine Schachtel, über deren Inhalt bereits alle reden und die zum allgemeinen gesellschaftlichen Kulturgut gehört, sodass ich nicht meiner eigenen Erfahrung traue, vielmehr gleich mitrede, ohne zu verstehen, um was es überhaupt geht. So wie ich bislang über Wahrnehmungen gesprochen habe und jetzt noch einmal dazu gezwungen werde, anders über Wahrnehmungen nachzudenken, quasi aus einem Anliegen, einem Mangel heraus, weil mir etwas in der Selbstverständlichkeit meiner Wahrnehmung abhandengekommen ist. Ich habe das Gefühl, nur Worthülsen zur Verfügung zu haben, simulierte Begriffe, die ich mir irgendwann einmal mimetisch angeeignet und mit denen ich ein Leben lang auszukommen gemeint hatte. Vielleicht bleibt einem gerade die Muttersprache auf immer fremd, und es ist die Tragik des menschlichen Ausdrucks, sich gerade auf sie zu verlassen und sie für alle anderen Sprachen zum Vergleich heranzuziehen, während ich gerade dort, wo ich nach Worten suchen, um Worte ringen muss, viel eher zu einem wirklichen sprachlichen Ausdruck gelangen könnte. Das Eigenartige, beinahe schon Beängstigende aber ist der Umstand, dass ich gemeint hatte, »die« Sprache nicht unbewusst oder nachlässig zu benutzen, sondern, allein schon wegen meines Berufs, zu reflektieren. Jetzt erscheint sie mir als Fremdsprache. Das Fremde aber an ihr ist, dass ich mich in ihr zu gut, zu fließend ausdrücken kann. Diese Sprache fließt mir aus dem Mund und aus der Hand und reißt mich in ihrem Strom davon.

Die Wörter erscheinen mir als eine Reihe kleiner leerer Schachteln. Der Käfer ist das Behauptete.

Weil wir ohnehin imitieren, weil wir ohnehin so tun, als kennten wir den Käfer in unserer Schachtel, weil ohnehin alles Nachahmung ist, unsere Begierde nur mimetisch erzeugt wird, ist die bewusste Imitation, so wie die Imitatio Christi, womöglich der einzig gangbare Weg: mich bewusst dazu entscheiden, zu imitieren, damit ich nicht auf eine falsche Authentizität hereinfalle. Nicht im Sinne des popkulturellen Diskurses, der etwas Richtiges meint, es dann aber falsch zu einer reinen Oberflächenaffirmation verkürzt, sondern aus der schlichten Erkenntnis heraus, dass mich das vermeintlich Echte zwangsweise überfordert, überfordern muss, diese Suche nach einem identischen, authentischen Leben, das es nicht geben kann, schon deshalb unter Umständen nicht geben kann, weil mir schlicht und einfach die Möglichkeiten fehlen, seine Existenz wahrzunehmen – auch und gerade, weil ich im Strom meiner Sprache darüber hinwegrase.

Wenn ich aber sage, ich imitiere mein Leben, dann nicht, um eine Persona, eine Maske, eine Hülle, um das Eigentliche herum zu erstellen, einen Kokon, sondern um eine Annahme zu formulieren. Um etwas annehmen (akzeptieren) zu können, muss ich annehmen (vermuten), was es ist. Aber ich kann nur dann annehmen (vermuten), was etwas ist, wenn ich es zuvor annehme (akzeptiere). In diesem Vorgang ist die Imitatio bereits eingeschrieben.

Der Schwindel weist mich darauf hin, dass körperliche Zustände sich nicht imitieren lassen. Der Körper beantwortet meine Frage, löst sie aber nicht. Was aber ist der Grund, dass der (Dreh-)Schwindel (Vertigo) seine Bezeichnung mit der unwahren Aussage oder Handlung teilt? Wird mir schwindlig, wenn ich einen Schwindel entdecke? Weshalb?

Ähnlich wie der Schwindel ist auch der Schmerz eine Gnade. Die Vorstellung, ohne Schmerzen, aber bei Bewusstsein zu sterben, erscheint mir schrecklicher, als mit Schmerzen zu sterben. Schwindel und Schmerz befreien mich von dem, was mich wirklich schwindeln lässt (und zum Schwindeln veranlasst) und schmerzt: dem Diktat des Bewusstseins.

Ich weiß nie, wohin ein Werden führt, gebe mich aber im Allgemeinen einer Art nützlichem Irrtum hin, indem ich so tue, als wüsste ich, worauf etwas hinausläuft, oder könnte es zumindest vermuten. Wahrscheinlich ist es noch nicht einmal ein Irrtum, sondern eine Lüge, eine nützliche Lüge, weil jedes Werden natürlich letztlich ein Werden zum Tod ist, weil es lediglich eine Illusion ist, irgendein Zwischenziel auf diesem Werden zum Tod als Endziel anzusehen, um sich damit über die im Werden angelegte Verunsicherung hinwegzutäuschen.

Ferit Güven: »We will see that madness is that which cannot be spoken or written about in its own terms. One cannot correct this situation by trying to give a voice to madness, because madness would thereby become something other, something rational. Hence, one has to distinguish two seemingly different questions concerning the relationship between madness and rationality. One can say that madness itself does not have a truth, that the madman is quite simply wrong concerning the external world. Yet there is also a truth to madness, one that is accessible only to reason. Unfortunately, the difficulty is that these questions cannot be easily separated. What we designate as truth seems already to be defined by what we designate as rational. This is not as strong a claim as Hegel’s statement that what is rational is the real. It only suggests that the terms of rationality seem to be parallel to the terms of truth. It is rational to believe what is true, and it is not rational not to believe in what is true – unless of course one’s judgment concerning what is true is mistaken. Hence, even if the mad establishes the truth of madness this truth does not belong to madness; one cannot explain the truth of madness if one is mad.«

Derrida: »Je ne philosophe que dans la terreur, mais dans la terreur avouée, d’être fou.«

18.12.2018

Es gibt einen Gedanken, der mich seit sehr vielen Jahren begleitet: Ich stelle mir vor, mich mit einem einzigen Buch zu begnügen, einem umfangreichen beziehungsweise komplexen Buch natürlich, und über einen längeren Zeitraum nur noch dieses Buch zu lesen, langsam, sehr langsam, sehr genau, bis ich seine Sprache und seinen Inhalt völlig verinnerlicht habe, weil ich hoffe, dadurch einen anderen Zugang zur Welt, die mich umgibt, oder meinem Leben in mir und bestenfalls beidem gleichermaßen zu finden. Es erscheint wie eine leichte Übung, doch sobald ich damit anfange, stoße ich auf andere Autoren, Bücher, Begriffe, und meine, zuerst diese klären zu müssen, um das eine Buch auch wirklich in seiner ganzen Tragweite verstehen zu können. Zumindest sage ich mir das, auch wenn ich weiß, dass es sich dabei nur um eine Ausrede handelt. Natürlich habe ich mich immer wieder über Monate mit einem einzigen Autor beschäftigt, aber diese wirkliche Beschränkung auf das eine Buch ist mir nie über einen längeren Zeitraum gelungen. Eher konnte ich Zeit mit einer Suite von Bach, einem Satz daraus, ein, zwei Takten daraus, verbringen, und je länger und langsamer ich sie übte, desto befriedigender war das Gefühl, was ich dabei empfand, weil es sich immer weiter von dem Gedanken an ein Resultat entfernte. Auch darin liegt bei diesem imaginierten eingeschränkten Lesen natürlich meine Hoffnung: mich von einem Resultat, überhaupt einem Verstehen-Wollen, weg- und auf etwas zuzubewegen, das von mir bislang gar nicht oder nur in dürftigen Ansätzen erfahren wurde. Eher war es mir gelungen, über einen längeren Zeitraum hinweg gar nicht mehr zu lesen, nur noch dazusitzen und meine Atemzüge zu zählen. Auch hier hoffte ich, etwas Grundlegendes in meinem Leben zu ändern, und tatsächlich gab es auch eine Änderung, die sich über ein halbes, einmal sogar über ein ganzes Jahr erstreckte, um mich dann doch wieder zu dem zurückkehren zu lassen, was ich zu verlassen versucht hatte. Die Frage, die sich natürlich unmittelbar aufdrängt, ist die, warum ich nicht alles beim Alten belasse, es einfach so laufen lasse, wie es ohnehin läuft.

Das erinnert mich an eine Stelle bei Kierkegaard: »Der Pharisäer im Evangelium ist ein Heuchler, sofern er sich über den Zöllner und andere Menschen erhebt; wie er das aber im Gebet zum Ausdruck bringt, ist komisch. Man denke sich: er spricht mit Gott, und sagt zu Gott, daß er dreimal die Woche faste und von allem was er habe, bis auf Kümmel und Minze hinaus, den Zehnten gebe. Man sieht leicht, daß er nicht mit Gott spricht, wie er meint, sondern mit sich selbst oder einem anderen Pharisäer.« Auch wenn es kein Gebet ist, bin ich insofern ein Pharisäer, weil ich so tue, als spräche ich zu mir, obwohl ich in Wirklichkeit zu einem anderen spreche, oder eigentlich noch genauer: vor mir, oder später, wenn ein anderer das liest, so tue, als spräche ich zu mir oder zu ihm, wo ich lediglich einer Vereinbarung folge, weder mich selbst noch den anderen anspreche, sondern ein Konstrukt vor dem errichte, was Lacan den großen Anderen genannt hat. Ich befinde mich beinahe automatisch in diesem Spannungsfeld, und selbst innerhalb eines persönlichen Textes wie dem eines Tagebuchs gelingt es mir nicht, etwas an dieser Rollenverteilung zu ändern.

Wie man an den beiden Abschnitten sehen kann, versuche ich gerade wieder, in mein »normales« Denken zurückzukehren. Aber noch funktioniert es nicht so ganz, denn zumindest fällt mir gleich, nachdem ich es hingeschrieben habe, auf, dass ich hier Denken simuliere, dass ich etwas reproduziere, auch wenn ich meine, es zu produzieren. Ich höre mich mit einer fremden Stimme sprechen, die doch meine eigene ist. Diese Stimme sagt etwas auf, was sie irgendwann einmal auswendig gelernt hat. Gleichzeitig ist es beinahe rührend, wie ich mir auch inhaltlich eine Lösung anbiete: »Das eine Buch, die paar Takte Bach. Eigentlich könnte ich es doch so einfach haben. Eigentlich läuft doch alles. Ein paar Gedanken, ein paar Texte. Niemand würde etwas merken. Selbst ich nicht.« Aber ist es nicht verständlich, dass ich die Beschäftigung mit meinem vermeintlichen Wahnsinn nicht dauerhaft durchhalte, weil sie selbst die Form des Wahnsinns anzunehmen scheint?

 

Selbst dem Verrückten gelingt es nicht immer, verrückt zu sein.

Dazu fällt mir ein Witz ein. In einem Varieté treten sowohl der angeblich größte Mann der Welt als auch der kleinste Mann der Welt auf. Ein Verehrer des Riesen möchte ein Autogramm von ihm und klopft nach der Vorstellung an dessen Garderobentür. Als zu seiner Überraschung nicht er, sondern der kleinste Mann der Welt öffnet, sagt er unwillkürlich: »Ach, sind Sie nicht der größte Mann der Welt?« »Doch«, antwortet der, »aber wissen Sie, nach Feierabend mache ich es mir gern etwas bequem.«

Was aber ist dieses Gefühl des Wahnsinns im Vergleich zu dem eigenartigen Tick, der mich seit einigen Tagen verfolgt und mir mehrfach am Tag eine Textzeile eingibt, nämlich: »I know a happy place where I must go.« Es ist eine Zeile aus dem Song Good Side of June von den Lords. Die Lords, der Inbegriff des Uncoolen, wie ich sie schon mit 12 empfunden habe. Allein der Name, der aus dem Schlager (Lord Leicester aus Manchester), der Vorabendserie (Lord Percy Stuart vom Excentric Club) und der Zigarettenmarke meiner Tante stammte, und die Angewohnheit der Bandmitglieder, sich Spitznamen zu geben, die sie dann auch noch mit dem Adelstitel versahen (Lord Ulli, Lord Max usw.), von dem Kellner-Livree, in dem sie auftraten, einmal ganz abgesehen. Ästhetisch unsicher wurden sie nie ihre Skiffle-Vergangenheit los, auch wenn sie ein paar Beat-Nummern coverten und daraus einen einzigen eigenen Hit destillierten: »Poor Boy«. Unergründlich und verschlungen bleiben die Wege des Unbewussten, das mir eine Textzeile auf die Lippen zwingt, die ich, wo schließlich auch?, seit mehreren Jahrzehnten unter Garantie nicht mehr irgendwo gehört habe und die sich mir dennoch eingeprägt hat, obwohl mir das Lied selbst nie gefiel. Ist es ähnlich wie mit dem Fluchen, dass der Schlager eben nicht über das ästhetische Empfinden, sondern über andere Wahrnehmungskanäle verarbeitet und entsprechend gespeichert wird? Was kommt als Nächstes? »Gloryland«? »Have a Drink On Me«?

19.12.2018

Das, was man seit Erfindung des Films die Zeitlupe nennt, existiert auch im wirklichen Leben. Es ist die Aufhebung der Zeit in Momenten völliger Panik. Im Gegensatz zum Film, in dem ich im Nachhinein verlangsamt anschauen kann, was geschah, findet diese Wahrnehmung im Moment des Geschehens statt. Zusammen mit dieser Zeitlupe existiert das, was man analog eine Raumlupe nennen könnte – und was im Film vielleicht »Zoom« hieße. Die Raumlupe ist aber etwas anderes als der Zoom, weil die Raumlupe ähnlich wie die Zeitlupe funktioniert, das heißt der Raum, so wie ich mich in ihm zu befinden meine, wenn ich ihn lediglich als Voraussetzung meiner Wahrnehmung begreife, besteht weiterhin, nur dass ich ihn bewusst wahrnehme, er nicht länger Hintergrund ist, vor dem, oder Bedingung, durch die etwas geschieht. Die Raumlupe vergrößert nicht, sondern macht sichtbar, ähnlich den Röntgenbrillen, die in meiner Kindheit in Zeitschriften angeboten wurden und vorgaben, mit ihrer Hilfe durch die Kleidung von vorzugsweise Frauen schauen zu können. Mit der Raumlupe kann ich durch die Dinge hindurch den Raum sehen, der sie ermöglicht. Ähnlich existiert bei der menschlichen Zeitlupe die Zeit als Voraussetzung meiner Wahrnehmung weiterhin, nur meine ich, die Zeit in ihrem Verlauf (besser: die Zeiten in ihren Verläufen) selbst zu erkennen und nicht wie sonst das Vergehen der Zeit im Moment dieses Vergehens nicht wahrzunehmen, sondern nur im Nachhinein. Raum und Zeit verschieben sich zueinander (man könnte etwa meinen, dass zum Raum hier die Zeit wird oder umgekehrt), werden in ihrer gegenseitigen Bedingtheit fühlbar und rufen in mir, der ich durch diese innere Zeit- und Raumlupe schaue, einen Schwindel hervor, ein Gefühl zu stürzen, zu fallen, orientierungslos zu schweben. Es sind Zustände, die einer Möglichkeit zur Wahrnehmung, noch dazu einer so genauen, zu widersprechen scheinen. Ich meine sogar, und genau das bewirkt eine zusätzliche Desorientierung, das Denken setze aus, bemerke aber in Wirklichkeit, was Denken unter anderem auch ist, nämlich ein beständiges Einordnen und Filtern.

Die oft postulierte Trennung von Denken und Fühlen existiert erst in dem Moment dieses Schwindels, existiert vor allem erst dadurch, dass ich wahrnehme, dass mein Fühlen und Denken gar nicht, wie ich anfänglich meinte, getrennt sind, sondern mein Fühlen permanent durch das Raster meines Denkens läuft und für mich allein auf diese Weise gefiltert wahrgenommen wird. Dazusitzen, um über etwas nachzudenken, ist eine sinnlose Tätigkeit, die sich immer an eine andere Tätigkeit koppeln muss, zum Beispiel das Schreiben, das Sprechen, das Arbeiten, um sich vollziehen zu können. Das Denken nämlich ist sprachlos, auch wenn ich meine, dass es sprachlich stattfindet, weil Anfänge von Sätzen, Wortfetzen, Sprachfragmenten in meinem Inneren aufzutauchen scheinen, die aber lediglich die Geräusche sind, die bei der Tätigkeit des Denkens, das heißt des sprachlosen Einordnens von Empfindungen entstehen, etwa so wie eine Tür quietscht, wenn man sie öffnet oder schließt, und man kaum auf den Gedanken verfallen würde, das Auf- und Zumachen geschehe lediglich, um dieses Geräusch hervorzurufen und nicht, um jemanden hereinzulassen oder selbst hindurchzugehen.

In der Panik lösen sich die Bezüge voneinander, werden die Gründe unscharf, weshalb man diesen Zustand auch als ein Außer-sich-Sein bezeichnet. Ich bin in der Panik jedoch nicht außer mir, sondern in mir, eins der seltenen Male höchstwahrscheinlich. Das Außer-mir-Sein lässt mich erfahren, dass das Denken tatsächlich sprachlos ist, ein Filter, durch den Raum und Zeit in mir abgebildet werden und der nicht mehr auf gewohnte Art und Weise funktioniert, sondern wie bei einer Kamera, die sich nicht mehr scharf stellen lässt, einem Bandgerät, dessen Geschwindigkeit nicht mehr zu regulieren ist, nur noch ein Gefühl von Unschärfe und Ungewissheit in mir hervorruft. Diese Momente dauern in der Regel nicht lange, sind für viele Menschen Ausnahmesituationen, die sie oft traumatisieren, zumindest schockieren, zumindest für eine Zeit lang desorientiert zurücklassen. Aber noch etwas anderes scheint sich zu beweisen: Raum- und Zeitempfinden scheinen doch keine angeborenen Grundlagen der Wahrnehmung zu sein, vielmehr erlernte Konstruktionen (vielleicht: erlernte Apriori). Mein Gefühl des Wahns bestand wahrscheinlich allein darin, dass mir diese angeblichen Grundlagen für einen Moment verloren gegangen waren, und aus nichts weiter.

20.12.2018

Ich meine zu verstehen, warum ich mich im ersten Tagebuch immer wieder geweigert habe, gewisse Ereignisse zu schildern. Es lag nicht allein an einer Scham, es war nicht nur der Versuch, eine Intimität zu bewahren, sondern war Ausdruck einer Weigerung, meine Erfahrung aufzugeben. Eine Erzählung, und genau das ist ihr grundsätzliches Problem und auch der Grund, warum sich viele Stoffe ihrer Bearbeitung zu verweigern scheinen, überschreibt die Erfahrung. Während die Erfahrung ambivalent bleibt, legt die Geschichte fest. Und ich kann nicht anders, als mit immer neuen Erzählungen auf diese Festlegung zu reagieren. Bestenfalls, nur geschieht das sehr selten, wird das komplette Leben zu einer Erzählung umgeformt wie bei Proust. Da mir das für mich nicht möglich scheint (Warum?), suche ich im Schreiben immer auch etwas, das über das Erzählte hinausgeht, mich von seiner Zwanghaftigkeit befreit und in das Leben zurückführt.

Vielleicht ist alles Schreiben ein Anschreiben gegen das Schreiben, der Versuch, sich aus dem Schreiben hinauszuschreiben.

Und weil ich dachte, Theorie sei keine Erzählung, hoffte ich, mit ihrer Hilfe der Erzählung zu entkommen, und bohrte meinen Kopf immer tiefer in sie hinein, während der Körper allerdings draußen blieb.

Ich muss mich entscheiden zwischen dem Narrativ, das mich trösten, aber auch einschläfern kann, und der Erfahrung, die mich wund, aber wach hält.

21.12.2018

Es ist die Normalität, die den Wahnsinn ausmacht. Die Normalität wird als Normalität sichtbar. Wird jedoch etwas sichtbar, ist es nicht mehr normal. Es ist ähnlich wie die Erfahrung von Raum und Zeit, das, was ich zeitweise für eine »apriorilose« Wahrnehmung hielt, während es sich wahrscheinlich genau umgekehrt verhält, der Raum durch alles, was sich in ihm befindet, hindurchscheint, die Zeit nicht länger unauffällig vergeht oder erst im Nachhinein in ihrem Vergangensein erkannt wird, sondern in einer ständigen Unruhe in allem nach vorne drängt.

Binswanger beschreibt die Schizophrenie als »Unmöglichkeit eines ungestörten Aufenthalts bei den Sachen«. Aber wie soll man sich »ungestört« bei ihnen aufhalten können, wenn sie ihr Vergehen beständig zur Schau stellen, indem sie unsichtbar im Raum werden, vielmehr der Raum sichtbar durch sie hindurchscheint, sie unsichtbar in der Zeit werden, vielmehr die Zeit sichtbar aus ihnen herauspulsiert?

Binswanger ist der Meinung, dass sich die Fähigkeit (des Nicht-Verrückten), sich bei den Dingen aufhalten zu können, darin zeigt, »daß wir das Seiende, alles Seiende, sein lassen, wie es an sich selbst ist«. Diese Fähigkeit aber kann nur der haben, der umgekehrt vom Seienden sein gelassen wird. Das genau aber ist das Problem des Wahnsinnigen, der von den Dingen, vielmehr von den durch die Dinge durchscheinenden Apriori seiner Wahrnehmung bedrängt wird und gezwungen ist, sich diesen Dingen gegenüber zu verhalten, weshalb er immer aufs Neue versucht, und wohl meist vergeblich, sie in eine Ordnung zu bringen. Das ist der Grund, warum sich Unica Zürn an das »Einmaleins mit der 9« klammert und es von 1 bis 9 aufzählt, nicht aber, logischerweise, zur 10 gelangt. Einen Text widmet sie sogar diesem Einmaleins und ihrem Sohn, er beginnt mit dem Satz: »Meine Augen sind weitsichtig geworden: das entfernte Objekt sehen sie deutlich.« Ja, allein das entfernte Objekt kann noch deutlich wahrgenommen werden, weil es in der Ferne des Raums liegt, weil es in diese Ferne versetzt werden musste, um überhaupt deutlich werden zu können, da der »ungestörte Aufenthalt bei den Sachen« unmöglich geworden ist. Das entfernte Objekt, auf das sich die Begierde richtet, die gleichzeitig weiß, dass eine Annäherung unmöglich ist.

Binswanger scheint allerdings diese »Konsequenz der natürlichen Erfahrung«, der die »Inkonsequenz« der Geisteskrankheit gegenübersteht, für eine Form der Leistung zu halten, die erbracht werden muss, um die geistige Normalität zu erhalten: »Dieses Seinlassen ist aber keineswegs das Selbstverständliche und Bequeme, vielmehr stellt es, wie gerade unsere Fälle, und zwar auf defiziente Weise, zeigen, die allerpositivste Tätigkeit dar.« Ich vermute, dass Binswanger mit »allerpositiv« kein Werturteil formuliert, sondern auf den Positivismus verweist, allerdings widerspricht er sich insofern, als er einmal davon spricht, dass das »Seinlassen« nicht selbstverständlich oder bequem sei, dann aber die Erfahrung des Seinlassens als »natürlich« beschreibt. Ist es nun eine Art kulturelle Leistung des Menschen, das Seiende sein lassen zu können, während der »inkonsequente« Wahnsinnige die Rolle des verrückten Wilden annimmt, der aus der Kultur herausgefallen ist, oder entfernt sich der Wahnsinnige mit seiner »Kultur« von der »natürlichen« Gemeinschaft der Normalen?

Handelt es sich hier um ein Problem der positivistischen Weltanschauung, die von einer allgemeingültigen Wahrnehmung objektiver Befunde ausgeht und den Wahnsinn in den Bereich der Metaphysik verweist? Aus der Sicht des Wahnsinnigen ist es ja nicht die eigene Unruhe, die seinen »ungestörten Aufenthalt bei den Sachen« verhindert, sondern die Sachen selbst, die unruhig sind.

Das Ding an sich ist das, was den Raum sichtbar macht.

Die Ordnungssysteme der Wahnsinnigen, das ist natürlich nur eine Annahme, sind ein Versuch, den »natürlichen« Ordnungssystemen etwas entgegenzusetzen. Unwillkürlich und unabsichtlich parodieren sie dabei diese Ordnungssysteme und legen den Wahnsinn frei, der unserer Normalität innewohnt.