Vampirnovelle

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Vampirnovelle
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Impressum

© 2019 Begedia Verlag

© 2019 Frank Hebben

Umschlagbild und Innenillustration – Frank Hebben

Lektorat – Armin Rößler

E-Book-Erstellung – Hardy Kettlitz

ISBN – 978-3-95777-125-4 (EPUB)

ISBN – 978-3-95777-126-1 (Mobi)

Besuchen Sie uns im Web:

http://verlag.begedia.de

Meiner Frau gewidmet.

Just like a gothic girl

Lost in the darken world

My lil’ gothic girl

Darkerside jewel are your razor cuts for real, baby?

— The 69 Eyes

Everything in the world is about sex except sex:

Sex is about power.

— Oscar Wilde

The world is a vampire, sent to drain.

— The Smashing Pumpkins


Es brennt alsdann in mir eine wilde Begierde nach starken Gefühlen, nach Sensationen, eine Wut auf dies abgetönte, flache, normierte und sterilisierte Leben und eine rasende Lust, irgend etwas kaputt zu schlagen, etwa ein Warenhaus oder eine Kathedrale oder mich selbst, verwegene Dummheiten zu begehen, ein paar verehrten Götzen die Perücken abzureißen, ein paar rebellische Schulbuben mit der ersehnten Fahrkarte nach Hamburg auszurüsten, ein kleines Mädchen zu verführen oder einigen Vertretern der bürgerlichen Weltordnung das Gesicht ins Genick zu drehen.

Denn dies haßte, verabscheute und verfluchte ich von allem doch am innigsten: diese Zufriedenheit, diese Gesundheit, Behaglichkeit, diesen gepflegten Optimismus des Bürgers, diese fette gedeihliche Zucht des Mittelmäßigen, Normalen, Durchschnittlichen.

— Hesse: Der Steppenwolf

EINS

Auf meinen Lippen trocknet dein Blut, ein leichtes Ziehen, fast angenehm. Ich trinke den letzten Schluck Wein.

Ach, Mädchen.

Dein Ecstasy rauscht immer noch in mir: Liebe und Glück, für eine Nacht, und schon vorbei, wenn der nächste Morgen graut … danach die Depression, der Durst, bis der nächste Abend kommt.

Am Fenster: rauchend; ich warte, drehe mich um und betrachte dich, deine Schultern, dein Kinn – diese Skulpturen in Rom, Venedig, Paris; das Elfenbein in Nairobi, Perlen in China. Der Mond und die Knochen, und das Meer raunt Worte ohne Sinn, ein:

Bla, bla, bla.

Unter der Laterne, verfroren im Regen, vor diesem Club in den Schatten, hab ich dich gefunden. Deine Haut so blass wie meine, und deine Haare zerzaust, halb vergraben im Kissen. Sie atmet noch. Möchtest du ewig leben? Kannst du das verkraften?

Nein. Ich trete ans Bett, lehne mich vor wie zum Kuss; lege einen Finger auf deine Stirn, kühl, kämme dir eine Strähne hinters Ohr. Deine Kerze ist abgebrannt, eine Stunde, eine Stunde für dich; die Flamme zwischen meinen Fingern. Vorbei.

+

Mann, wo steckst du? Johanns Stimme schlängelt sich durchs Handy, aalglatt und cool; auf Kokain. Wir warten auf dich …

Bin auf dem Weg. Halte das Ding ans andere Ohr, während ich aus dem Mantel eine der Kreditkarten zücke. Zimmer 361, für eine Nacht. Mir ist Rotwein auf den Teppich gekleckert. Ich schlafe aus.

Sehr gern, lächelt die Empfangsdame, und ich schaue ihr zu, wie sie meine Karte durchs Lesegerät zieht. Unterschreibe die Rechnung. Nehme die Quittung und verlasse das Hotel.

Eisig kalt, ein Winter ohne Schnee. Ein Trinkbecher weht über den Asphalt; denke an Filme in Schwarzweiß. Taxi!

+

Neon, verwaschene Punkte gleiten vorbei. Tropfen an der Windschutzscheibe. Ich sitze hinten, entspanne mich. Die Fahrt ist ruhig, im Radio eine kratzige Stimme, danach ein Geisterlied, dessen Titel ich nicht kenne.

Wer ist das?, frage ich.

Was?

Die Band.

Sagen die gleich noch. Der Taxifahrer dreht den Regler hoch.

Der Schemen einer Kirche. Halten Sie an.

Echo, sagt er.

Was? Ich steige aus, drücke ihm einen Zehner in die Hand.

Die Band.

Ich nicke ihm zu. Gute Fahrt.

+

Laut! Die künstlichen Endorphine kratzen mich auf. Licht, Schatten, Licht. Ein Bass geht mir durch Mark und Bein. Ich steige die Treppen zur Apsis hoch – das Kuppeldach mit Heiligenbildern, aber schnulzig wie die Achtziger. Johann winkt mir zu, ich erwidere sein Lächeln.

Marty, deine Pupillen, beginnt Ruth, als ich mich zu ihnen setze.

Grabkerzen auf dem Tischtuch; das Sakral ist voll von dem Zeug, eine umgebaute Kirche, deren Bänke sie rausgerissen haben. Unten der Altarraum, daneben die Tanzfläche mit den schwarzen Gestalten. Nebel wabert … Ich will brennen!

Bitte, nennt mich Martin. Das hasse ich, und das weißt du. Starre in ihren Ausschnitt; ein Samtkleid, das knapp ihren Arsch bedeckt. Und die Strapse, natürlich. Rotes Haar, gestern blond, keine einzige Sommersprosse. Sieht wie immer umwerfend aus.

Sie stellt unser Getränk vor mich hin und ruft: Neues Jahrtausend, neuer Name.

Was auch immer, Süße. Gegen ihr Lächeln bin ich immun. Na ja, fast. Übrigens ist 2018 …

Das große Millennium!

Ja, der große Wassermann, alle sind voll ausgerastet, damals. Und davor –

Na dann. Sie setzt mein Glas an die Lippen und trinkt: Bloody Mary, ein Gag, der sich Mitte der Neunziger verselbstständigt hat. Auch einen Schluck?

Danke, lehne ich ab.

+

Mann, was hast du genommen? Hast Augen wie … Löcher. Johann, schon ziemlich breit; sogar hier, im Halbdunkel, erkenne ich seine Pockennarben auf Wangen und Kinn. Er grinst.

Die Kleine hatte was eingeschmissen, erkläre ich, leere doch das Glas, schmeckt scheußlich. Eine Kellnerin kommt. Wodka pur, ohne Eis.

… die ganze Welt ist betäubt, philosophiert Ruth. Liebe, Glaube, Wein, alles der gleiche Scheiß. Und wieder die alte Leier, gleich fängt sie mit den Gefühlen im Bauch an. Wie oft habe ich das schon gehört?

Alles für eine warme Empfindung, die irgendwann geht. Sie greift nach ein paar Erdnüssen. Und dann, dann sind sie wieder auf der Suche nach dem nächsten Schuss Sinn.

Ich schaue sie an: Ihr Ohrring funkelt im Kerzenlicht. Tja, sage ich.

Auch Johann kippt seinen Drink: Whisky, der Bowmore von 1964 – scheiß Jahr. Da ist Sara gestorben, seine Frau. Sein Ritual. Tanzen, Freunde?

+

Wir drei auf der Tanzfläche, die alte Show. Ich lasse den Blick durch die Runde schweifen: junge Mädchen und Männer, die am Haken zappeln … Rüschen, Lack und Leder. Eine Eiskönigin. Eine Frau im Hochzeitskleid: weiß wie Schnee, rot wie Blut und schwarz wie –

Scheiße!

Ruth, nah an meinem Mund. Der Song lässt die Gläser vibrieren. Mein Arm, meine Hand als Metronom im Takt der Musik. Was‽

Ich zeige auf einen Umriss: De Gruyter.

Okay, sagt sie, dicht an meinem Ohr. Sie tanzt. Sicher? Sah der nicht ganz anders aus?

+

Wir sitzen an der Theke, vorne geben sie diese Freigetränke aus: Erdbeerslush mit zu viel Eis. Was willst du hier?, frage ich.

Ein Bier, sagt De Gruyter.

Die Barfrau stellt das Glas hin.

Und?

Und was?, fragt er, nippt am Schaum. Das eisgraue Wolfshaar an den Schläfen, seine gelben Augen. Die Rolex. Er hat den Mantel abgelegt, neben sich auf dem Polsterstuhl.

Ich proste ihm zu. Bist also in der Stadt? Wieso?

Er kramt in seiner Tasche: Ich höre Patronen klimpern, glaube ich, oder Meißel – irgendwo die Haftcreme in der Tube für seine Kieferprothese, die er nachts in ein Glas legt. Seine Schuld. Und das Weihwasser als Spray. Man geht mit der Zeit. Er holt die Kippenschachtel raus, steckt sich eine an. Keine Bange, heute passiert euch nichts.

Hier darf man nicht rauchen …

So?

Okay, wen jagst du?

Nicht euch.

Alles klar, sage ich und stehe auf. Schönen Abend noch.

Er tippt sich an die Stirn. Nacht.

+

Uns nickt der Türsteher zu, als wir, Arm in Arm, über die Stufen der Kirche wanken – wir drei, laufen ziellos durch die Stadt: betrunken, hungrig. Keine Beute gerissen. Verzicht.

Wisst ihr …

Ja? Ruth an irgendeiner Haltestelle, studiert den Busplan, die Nase dicht am Leuchtkasten. Da fährt gar nichts mehr.

Hm, ja.

Was wolltest du sagen?, fragt Johann, der sich hinsetzt: ein orangefarbener Plastiksitz. Er faltet die Hände wie zum Gebet.

Ach nichts.

Er sieht mich an. Sag schon.

Bin … einfach froh, dass ihr da seid. Ich spüre die Droge in mir, leise und warm.

Hört, hört, ruft er in die Nacht hinaus. Endlich gibt er’s zu.

Kitschalarm!, verdirbt Ruth den Moment, und ich stecke die Fäuste in die Taschen.

Du musst es ja wissen, meine ich.

Was soll das denn heißen?

Das mit der Kirche war doch deine Idee …

Ja, und‽

ZWEI

Ruth schläft im offenen Sarg, ich liege auf ihrem Lieblingssofa, das mit den Löwenpranken aus Messing, dem grünen Samtbezug – und starre zur Decke hoch. Stuck. Ein Altbau, hinten ihr Atelier. Auf der anderen Couch schnarcht Johann friedlich vor sich hin. Das Straßenlaternenlicht fällt aufs Parkett, sobald ein Windzug den Vorhang bewegt; das Fenster auf Kipp, die Bäume rauschen, die U-Bahn. Bin schlaflos. Muss an das Mädchen denken. Habe ich aufgepasst? Dann der erste Sonnenstrahl:

 

Ich ziehe die Decke über den Kopf.

+

Vom Entzug kleben mir Schweißflecken unter den Armen: mein Hemd, maßgeschneidert, von Gucci oder von der Stange, vergessen, riecht nach Zigaretten, Alkohol. Nach Sex. Die Krawatte abgebunden, über einen Stuhl gehängt, aber wo? Stehe ratlos im Raum …

Duft von Kaffee.

Ich ziehe den Perlenvorhang beiseite.

Moin, begrüßt mich Johann in der rustikalen Küche, wie immer als Erster hellwach, wie aus dem Ei gepellt. Ich grunze ein Hallo; er schiebt mir die Tasse rüber, meine Tasse: die mit dem Firmenlogo, und zeigt mit dem Daumen auf die dampfende Kanne. Bedien dich, sagt er, während er im Boulevardblatt raschelt, seine Lesebrille zurechtrückt: der Sportteil, immer nur der Sportteil, dass er mitreden kann auf den Docks, wo er und seine Männer schuften; seit jeher Hafenarbeiter, schwitzende Landratten, die von exotischen Ländern träumen und doch nur die Fracht reinschleppen, rausschleppen – er, seit über hundert Jahren. Heute mit Kränen, mit Computern, und morgen übernehmen Roboter und KIs die Herrschaft.

Brot und Spiele, murre ich.

Alles okay?

Weiß nicht … Das Mädchen hängt mir nach.

Eine blutjunge Schönheit?, grinst er verschmitzt, ohne von den Bildchen aufzuschauen.

Das ist es nicht.

Was dann?

Ich setze mich zu ihm an den Tisch, schütte mir Kaffee ein; nehme und beiße in ein Croissant, das nach Pappe schmeckt, mit einem Hauch von Schweineschmalz und Vanillin. Ich kaue freudlos auf der Masse in meinem Mund. Vergiss es.

+

Ich zupfe den Rest der Zeitung aus seinen Fingern und überfliege die Schlagzeilen, die Artikel über Mord und Totschlag und ein paar Skandale, hier und dort. Korruption. Kein Attentat heute.

Und?, fragt er.

Das Übliche, brumme ich. Ein Promi hat seinen Arsch in die Kamera gestreckt, und ein Diktator dreht gerade durch in –

Ja, ja. Sag mir Bescheid, wenn’s wieder Krieg gibt.

Ich falte die Blätter zusammen. Ist dir alles so egal, was?

Dir etwa nicht?

+

Mau! Ihr mürrischer Kater mit dem räudigen Fell – selbst uralt, weil er Blut wie Milch aus dem Napf schleckt, springt auf den Frühstückstisch und stolziert an mir vorbei, dieses Mistvieh, um von einem Messer die Marmelade oder Butter abzuschlecken oder ein paar Krümel vom Teller; und ich zische ihn an, mit gebleckten Reißzähnen; er zischt zurück, bevor er sich umdreht und aus der Küche stolziert wie ein Rockstar:

Mozart.

+

Hello Boys, gähnt sie verschlafen: dieses zuckersüße Lächeln, für das ich sie heiraten oder erdrosseln könnte. Ungeduscht, ihr Duft, ihr Duft. Sie trägt den ollen Pyjama mit den Fledermäusen, unter dem Stoff sind ihre Nippel steif, und ihr Bauchnabel schaut raus, als sie vom Regal ein Glas runternimmt. Ich hasse sie!

Was denn?, fragt Ruth.

Nichts, stöhne ich. Und doch sieht sie müde aus, die vielen Jahre schimmern durch: diese Bauernmagd von 1648.

Moin, sagt Johann.

Musst du nicht ins Büro?, fragt sie mich.

Welcher Tag ist heute?

Samstag?

Eben.

Als ob ihr eine Gelegenheit auslassen würdet, mehr Geld zu machen, ihr kleinen, fleißigen Bienchen … Sie zwinkert mir zu, und ich verdrehe die Augen. Also, was habe ich verpasst?

Bin irgendwie vom Tisch aufgestanden, starre sie an – bis ich begreife, dass gar nicht ich gemeint war.

Ruth, am Kühlschrank, gießt sich den O-Saft ins Glas wie im Werbevideo, ehe sie mich ansieht. Hast du was angestellt, Marty?

Martin, korrigiere ich; sehe, wie Tropfen am Glas kondensieren, am Rand runterlaufen, fühle die Kälte.

Ja?, hakt sie nach.

Habe vielleicht –

Oh nein, seufzt Johann, nicht schon wieder.

+

Vorhänge filtern das Licht, nur ein Strich auf dem Boden, den sie meidet wie eine Pfütze – Ruth läuft im Atelier auf und ab, noch das Glas in der Hand. Dort stehen ihre schönen, alten Bilder aus verschiedenen Epochen, die sie alle miterlebt hat: die Blüten in schwindsüchtigen Farben auf einer Leinwand; eine Plastik aus Ton, eine aus Bronze, dann abstrakter: eckige Formen und Kanten, ein Puzzle aus Flächen, die ein Gesicht bilden, dann surreal – dann wie Comics oder so; schließlich Neonreklame, mit intelligent dummen Sinnsprüchen, die sich aber gut verkaufen, in roter Leuchtschrift. Man geht mit der Zeit, alle versuchen es. Und jetzt?, fragt sie.

Ich zucke die Schultern.

Nachschauen, schlägt Johann vor. Welches Hotel?

Lieber nicht.

+

Ihr Smartphone klingelt; sie sieht die Nummer, flucht, ehe sie auf den Balkon hinaustritt. Wir beobachten sie durch die Vorhänge: Sie steht da, die nackten Beine überkreuz, das Glas in der Linken, das Gerät rechts, unter dem Sonnenschirm; sehen, wie das Licht durch den Stoff glitzert. Ruth, lässig telefonierend, dann schmerzverzerrt; muss sich aufs Geländer stützen, wo der Rost am grünen Jugendstil nagt.

Verblühte Astern in einem Topf, die Gießkanne. Links eine Hollywoodschaukel mit quietschenden Federn, rechts Bierkästen, leere Weinflaschen – und diese Grabfigur, die sie mit sich rumschleppt wie eine Reliquie, von Stadt zu Stadt zu Stadt. Immer muss es eine Wohnung mit Balkon sein, in Barcelona, Madrid; wo wir auch sind:

Der Vogel im offenen Käfig.

Sie kommt zurück. Santana will dich sprechen. Und legt mir das Ding in die Hand, blickt mich an, mit Sorgenfältchen.

Ja?, hebe ich es ans Ohr.

Ich habe dein neues Kind gefunden, sagt er. Ein hübsches Mädchen.

Was?

Was, was? Hol sie dir ab.

Nein, setz sie ins nächste Taxi; und sag dem Fahrer, er soll sie zur Tür begleiten, weil sie … einen Schwächeanfall hat. Wir bitten ihn dann rein.

Euer Wunsch sei mir –

Danke auch.

Dafür nicht, Kumpel. Echt nicht! Hat aufgelegt.

+

Auf dem Sofa, im Zwielicht, wirkt die Kleine hager – ihre Korsage, ihr verschmierter Lippenstift und ihre Tattoos, wie mit Filzstift auf die Haut gekritzelt. Die Haltung steif wie Puppen sitzen, im Schoß die schwarze, teure Lacktasche. Und traurig verweinte Augen. Keinen Stil, die Kleine.

Hey, flüstert sie. Die Unterlippe zuckt. Na? Wo warst du noch?

Ich schaue weg, wieder hin – mein Blick fliegt über die herzförmigen Risse im Nylon ihrer Strumpfhose. Hab das Interesse längst verloren. Was willst du‽

Nichts.

Hast du gefressen?

Was?

Du weißt, was ich meine …

Ich hab’s versucht. Sie streckt die Hände vor: Unter den Nägeln klebt Blut. War schwierig, so ganz allein.

Wasch dich. Und zieh dir diesen Müll aus! Meine Stimme hallt im Atelier nach. Dann legst du dich in ihren Sarg, ich zeige drauf, und verhältst dich still. Versuch zu schlafen.

Gut, sagt sie.

Muss los. Wir reden später.

DREI

Erst zu mir, kurz umziehen, danach ins Büro, wo sie auf mich warten, nicht, weil es was Dringendes zu tun gäbe, sondern weil ich ihr Boss bin, und sie meine Ratten im Versuchslabyrinth. Ein Anruf genügte.

+

14:02 Uhr. Ich gehe durch die Straßen … erinnere mich an diese Mädchen mit den leichten, flatternden Kleidern; mit rosig angehauchten Wangen, mit ihren Schwanenhälsen, duftend nach Parfüm, warm nach Schweiß, nach Kaugummi, Lutschbonbons, dass ich fast ohnmächtig werde von ihrer rauschhaften Schönheit, ihrer Jugend, ihrem Lebensglück; ein Gewächshaus voller Rosen, so üppig, dass ich – aber es ist Winter: In grimmigen Kokons aus Mänteln mit Kunstpelz starren sie mich an, und ich rieche gar nichts, außer Frost.

+

Im obersten Stockwerk liegt mein Apartment, ein Loft, meine eigenen vier Wände aus Backsteinmauern, aber keine Bilder aufgehängt, voller Umzugskartons; nur eine Gruft, die nach Zigarettenrauch stinkt – mit bester Aussicht auf die Altstadt, wären meine Jalousien nicht unten. Ich setze mich auf den einzigen Stuhl, den ich habe, und die Stille rauscht in mir.

+

Badezimmer, wasche mich mit einem Lappen – lasse die Haare fettig, gele sie bloß zurück; im Spiegel meine Fratze. Ein blütenreines Hemd, Hose und Krawatte und das Jackett, wie eine Rüstung angelegt, prüfe jede Falte, dann den Wintermantel, dann meine Sonnenbrille, bevor ich die Haustür hinter mir schließe, die Stufen runterlaufe. Ich lasse den Firmenwagen stehen, gehe zum Kiosk und decke mich ein. Nehme die Regiobahn.

+

Sinnlos beheizt, dafür leer: In der ersten Klasse trinke ich mein Bier, während hinter den Scheiben der Kurzfilm abläuft: rote Ampeln, kahle Bäume; Strommasten rauschen vorbei; eine Stahlbrücke, auf der jemand winkt. Radfahrer. Eisgraue Wiesen, dann wieder Wohngebiet: kaputte Fenster, Kneipen, Billigläden … die Säufer im Park; ein Flaschensammler, und dann Reihenhäuser und Villen, ein seelenloses Neubaugebiet, wo man sich im Wohnbunker eingesargt hat, mit der ganzen Familie; dann neue Parzellen, alles wie kopiert und eingefügt in einer Aufbau-Simulation für Spießer: der gleiche Rasen, der gleiche hohe Nachbarszaun mit Sichtschutz; und natürlich das Trampolin für die Kids mit den Platzwunden am Kopf.

Ich höre ihre Stimme im Ohr; als wäre sie an der letzten Haltestelle eingestiegen und würde jetzt neben mir sitzen, Ruth: Aber, sieh doch, wie viel Spaß die Kinder haben.

Sollen sie, diese kleinen Anarchisten. Aber ihre Eltern sind so … stumpf, eine konforme Masse: Für alle die gleiche Zufriedenheit!

Kinder geben dem Leben einen Sinn.

So wie Arbeit oder Krieg?

Du bist herzlos. Selbstgerecht. Und neidisch. Außerdem liegst du falsch.

Aha?

Ja! Nur, weil man etabliert ist, sich als Mitglied, als Teil der Gesellschaft versteht, sich deshalb einbringt –

Dass ich nicht lache! Die haben sich längst abgeschottet, mit Toren, Mauern und Gehaltsklassen.

… wie die Kaufleute, damals, oder der Adel, fährt sie unbeirrt fort. Oder wie deine Familie es tut: ihr alten Aristokraten.

Geschichtsstunde? Echt jetzt?

Auf wessen Seite stehst du eigentlich?

Sie sind die lebenden Toten!

Ruth prustet los, stelle ich mir vor. Dabei bist du derjenige, der gerade ins Büro fährt.

Für mich ist das ein Spiel.

Wie du meinst, mein Lieber … wird ihre Stimme leiser. Ganz wie du meinst.

+

Nicht durch den Haupteingang, sondern durch die Tiefgarage gehe ich zum Aufzug: noch der klebrige Geruch, den sie absondern, schlecht kaschiert mit Deo und Rasierwasser – vom Stress der letzten Woche. Ich kann das Alter riechen, ihr Geschlecht; den Alkohol, ihre Tablettensucht; ihre leichten und schweren Krankheiten.

Kein Jagdrevier.

Achtundzwanzig, neunundzwanzig – und der dreißigste Stock, ein Leben aus Zahlen, sauber sortiert. Schnurgerade Gänge, diskrete Wandfarben: Pastell- und Sandtöne; unter meinen Sohlen glänzt das Parkett. Eine Büroklammer neben der Kaffeemaschine wie ein totes, weißes Insekt.

Hallo, begrüßt mich meine Assistentin, deren Namen ich vergessen habe, während ich die Milchglastür aufschließe und mich, an ihr vorbei, an den Eichenholztisch setze: ein Telefon, ein Tablet, mehr nicht. Das antike Sofa. Kronleuchter hängen; und ein Bild vom Papst als Pop Art in Rosa und Veilchenblau. Von Ruth. Ich lasse die Sonnenbrille auf, die Jalousien schräg geöffnet.

Ja? Sie wartet auf Anweisungen.

Die Verträge von Mittwoch bis Freitag …

Gern, sagt sie, zu Boden blickend; diese scheue, anämische Frau mit den großen, verzweifelten Augen, als Schoßhund darauf dressiert, mich bedingungslos zu lieben. Ihre teuren Kostüme, mit dem wenigen Geld gekauft, das wir ihr bezahlen, weil sie mir so gern gefallen will; heute: ein bordeauxroter Rock, der ungebügelt ist, genauso wie ihre Bluse. Zu wenig Zeit nach meinem Anruf.

Die Kollegen sitzen sicher schon brav im Konferenzraum, übermüdet, verkatert, aufgekratzt; die Augen entzündet vom ständigen Schlafentzug, der sie gefügig macht: eine Foltermethode. Was ist bitte so furchtbar wichtig?, wird mich ihr Leitwolf fragen. Wir haben Samstag! Bei dem Gedanken blecke ich die Zähne.

Wie?, herrsche ich sie an.

Sie haben da einen Fleck, am Kragen: Ist das Blut?

Nein.

Die Sekretärin nickt.

Die Unterlagen, rufe ich, und sie zieht den Kopf ein. Aber natürlich. Bitte entschuldigen Sie.

+

Sie bringt mir zwei Aktenordner und zieht hinter sich die Tür zu; endlich allein. Muss nachdenken. Drehe den Sessel, um auf die Großstadt hinauszublicken: hoch oben dieser warme, gedämpfte, goldene Schein eines Nachmittags, der langsam verblasst. Die Schatten der Häuser, Autos wie Käfer, unten. Ich fühle mich besser. Leicht. Stark. Es geht um Präsenz! Ich beuge mich vor, nutze die Gegensprechanlage:

 

Rufen Sie mir ein Taxi.

Aber, Sie haben doch ein Meeting …

Stornieren Sie das.

Wie Sie wünschen, Herr –

Habe den Knopf losgelassen.

+

Sonnenuntergang um 16:41 Uhr, täglich geprüft wie Aktienkurse: Gleich wird die Beklemmung von mir abfallen. Gut gelaunt, den Schlüssel klimpernd in der Hand, steige ich die Treppen hoch; schön, wieder hier zu sein, bei ihnen – doch am Türrahmen klebt ein Zettel:

Dein Problem!

Wir sind feiern.

Ruth & Jo

Öffne … Dieses Frösteln im Nacken, weil ich weiß, was mich erwartet: Ich straffe die Schultern. Hallo?

Hallo, sagt sie.