Volkes

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„Versteh’ doch, Sophie! Die Welt deiner Bücher ist nicht die wahre Welt, es ist nicht unsere Welt und frei ist man dort schon lange nicht. Mag sein, dass Max eines Tages so kräftig ist, dass er die ganze Hoppelnase samt Schule und Universitätskasten in die Luft stemmen kann, aber die freie Welt ist das nicht. Entschuldigt, ihr seid Träumer. Mit euch werde ich hier nie wegkommen.“

Anna war eben anders. Und sie konnte sich ihre freche Art leisten. Auch Sophie, die wie ein Kristall von Volkes bewundert wurde, konnte sich das leisten. Aber Max musste unauffällig sein. Er konnte sich das nicht leisten, was ihn zum Läufer zwischen den Fronten werden ließ.

Die Unauffälligkeit war und blieb der beste Schutz in einer einheitlich funktionierenden Masse. Gleichmäßig grau und langweilig. Derart öde, dass es eine Leichtigkeit war, selbst die unauffälligen Wächter auszumachen, die glaubten, unsichtbar zu sein und in Wahrheit wie Glühwürmchen aufleuchteten. Zerrissen vom Mitgefühl für ihre Mitmenschen und dem Pflichtgefühl, Volkes dienen zu müssen.

Aber das war schon wieder so eine Seifenblase. Denn auch die Welt der Wächter erschien wie eine Welt aus Maschinen mit Hebeln und Köpfen. Hoch oben thronte Volkes und bediente, lenkte das alles. Als befände sich da ein Schalter in den Köpfen der Wächter, eingepflanzt, als sie noch Kinder waren.

Max empfand das grausam, aber die Wächter fühlten sich wohl, solange sie in ihrer Gemeinschaft waren. Auch die Wissenschaftler und Studenten bildeten eine Gemeinschaft, aber die hatte mit der der Wächter rein gar nichts zu tun. Mochte Volkes sie ebenfalls als Maschinen betrachten, sie in einer Gemeinschaft arbeiten lassen und einen Zaun drum herumziehen, aber einen Zugang zu ihren Hebeln und Knöpfen hatte er damit nicht. Er glaubte es vielleicht, aber es stimmte nicht.

Die Verbindung fehlte: Diese uniformierte Einheits-Mama mit ihrem Muttermilchersatz war bei den Wissenschaftlern nicht da. Jeder, der an seinen Hebeln und Knöpfen selbst stellen und Verantwortung übernehmen konnte. Ein Handeln, das die Wächter nicht kannten, sodass ihnen gar nichts anderes blieb, als nachzuäffen. Sie machten sich die Sprüche und Gesten der Studenten zu eigen und glaubten, dass es echt wirkte und sie sie für ihresgleichen hielten.

Sie mischten sich mit einer Selbstverständlichkeit unter die Studenten, als gehörten sie dazu. Sie kamen gar nicht auf den Gedanken, dass sie ungewollt, nur geduldet waren, weil sich gegen sie zu wehren, den Studenten nicht möglich war.

Jetzt im Frühling, als die Kirschen blühten und das grüne Blätterrauschen durch das Birkenwäldchen zog, bauten die Wächter Tische und Bänke auf die Wiesen vor der Universität auf. Selbst Sonnenschirme stellten sie hinzu und Kohlegrills auch. Doch egal, ob diese Festlichkeit nun von Volkes befohlen worden war, oder etwas anderes dahintersteckte, sie schafften keine Geselligkeit, alles blieb ungemütlich und kalt. Als wäre Öl ins Wasser geflossen und hätte die Stimmung geglättet. Es blieben zwei Welten, dicht beieinander und doch getrennt.

Aber Anna war das egal. Sie konnte das Necken nicht lassen und schnappte sich einen Wächter, der vor Zerrissenheit wie ein Glühwürmchen leuchtete. Eigentlich sollte es ein Spaß werden, doch sie drückte so fest zu, dass er aufhörte zu leuchten und letztlich im Kerker endete.

Aus Sicht der Studenten war das Verrat und aus Sicht der Wächter war es verboten, sich mit Anna einzulassen. Aber auch das war Anna egal, sie grub den Ärmsten an, bis er ins Rutschen kam und hinfiel. Dann gab sie ihm Bier. Das durfte er zwar keinesfalls annehmen, doch ließ ihn seine Anspannung aus Mitgefühl und Pflichterfüllung bereits so stark aufleuchten, dass er sich kurz vor dem Durchbrennen befand. Und vielleicht befürchtete er aufzufallen, jedenfalls trank er das Bier in großen Zügen und war ganz in der Welt der Studenten zu Hause.

Anna reizte unterdessen das Spiel immer mehr aus, im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn Volkes in seinem Reich darauf Wert legte, dass der Rausch und freizügiger Sex ausdrücklich erlaubt waren, so galt das natürlich nicht für die Wächter. Anna aber störte das nicht. Und der Wächter konnte sein Glück gar nicht fassen, als er die schöne Anna in seinen Händen hielt. Schon bis zur Besinnungslosigkeit berauscht, wollte er immer mehr von ihr. Je mehr sie ihn heranließ, desto mehr saugte sie ihn aus. Oder nein, es schien freiwillig aus ihm abzufließen, als hätte er nie etwas anderes gewollt, als hätte er nur darauf gewartet.

So erfuhren sie, dass es bei den Wächtern Schulen gab, auf denen gelehrt wurde, woraus die studentische Lebensart bestand. Unter den Unterrichtsklassen der Wächter gab es Wettbewerbe, welche Klasse am besten im Nachahmen war. Es gab sogar Schulungsvideos, die die Studenten minutiös beim Sex zeigten. Ein Beweis für Max’ ständiges Gefühl, beobachtet zu werden, wozu Sophie aber immer gemeint hatte, dass es nur die Brüder und Schwestern in den Gefängniszellen beträfe, die als lebende Studienobjekte benutzt wurden. Jede einzelne Minute ihrer Gefangenschaft wurde heimlich gefilmt und ausgewertet.

Annas Wächter lag inzwischen zusammengesunken auf dem Tisch, jetzt das Bierglas in den Händen haltend. Sie konnte nichts mehr aus ihm rausholen. Anna hatte viel gewagt und viel an Erkenntnis gewonnen.

Der Wächter wurde gleich am nächsten Tag entlassen und für lange Zeit in den Kerker geworfen. Und das belastete Anna sehr. Sie hatte mit dem Glühwürmchen spielen gewollt, hatte Licht ins Dunkel bringen wollen, aber das Erlöschen war nicht ihre Absicht gewesen. Anna war kühn und direkt, manchmal draufgängerisch in ihrer Art, doch unmenschlich war sie nicht.

Und die Studenten glaubten, vom Tun der Wächter nicht überrascht werden zu können. Aber jetzt, wo das ganze Ausmaß bekannt geworden war, war es doch beängstigend. Nicht, weil sie von den Wächtern heimlich beim Sex beobachteten wurden, nein, weil sie von einem Haufen Trotteln in Schach gehalten wurden.

Es konnte schon sein, dass Volkes Schwert etwas an Schärfe verloren hatte, aber in den Händen hirnloser Dummköpfe war selbst ein stumpfes Schwert gefährlich. Volkes brauchte also nur dafür zu sorgen, dass seine Wächter so blind wie hohl waren, und schon behielt er in jeder Situation die Übersicht, sodass er sich sicher fühlen konnte.

In den Pausen zwischen den Vorlesungen lagen Max und Sophie auf der Hoppelnase im Gras. Die Sonnenschirme spendeten ihnen Schatten und Max dachte an den Wächter, an den Kerker dachte er auch. Er bekam Gänsehaut. Ihm war heiß. Es roch nach Sommerwiese. Alles um ihm herum war so weich, satt und grün. Max sah Sophie in die Augen. Ein tiefes Blau. Er hatte ein schlechtes Gewissen, denn er fühlte sich frei. Einen Moment nur.

„Das ist der Preis, Max!“, sagte Sophie.

„Nein. Die Frage ist doch, wie hoch der Preis sein darf. Anna hat nichts besser gemacht als Volkes. Der Preis war eben nicht nur ein Wächter, sondern auch ein Menschenleben. Wo ist da der Unterschied, wenn du Volkes wegen des Gestankes nach verbranntem Menschenfleisch anklagst und selbst einen Mann in den Kerker wirfst, auf dass er dort vermodert?“

Sophie erschrak. „Und wie willst du mit den Feinden umgehen?“ Ihre Stimme stockte. „Willst du jeden in ein Himmelbett legen, einen Engel danebenstellen, der die Hand hält, sodass sie gemeinsam für eine bessere Welt beten können? Mensch, Max, Volkes mit seinen Wächtern sind unsere Feinde! Das ist wie in der Natur. Das ist wie bei den Tieren: fressen oder gefressen werden!“

Sophie sprang auf, stand aufrecht vor Hochmut und hatte den gleichen Blick aus Überzeugung in ihren Augen, wie er ihn von Volkes her kannte, auf dass es ihn schaudern ließ.

„Wie kannst du lange Vorträge zur Gewaltlosigkeit halten und gleichzeitig zur Gewalt aufrufen?“

„Richtig. Gewalt zum Überleben – ja! Gewalt, um zu herrschen – nein!“

„Das ist Quatsch, Sophie!“

Sie sah auf ihn herab, als hätte sie sich verhört.

„Die Tiere wissen doch gar nicht, was Gewalt ist. Sie leben, sie jagen, sie haben Sex. Aber sie üben keine Gewalt aus. Die Gewalt ist ein Produkt deines Wissens, auf das du immer so stolz bist. Dein Wissen, mit dem du uns alle einteilst, das immer alles im Griff hat, das immer weiß, was gut und was schlecht ist. Wissen, das Gesetze und Regeln erschafft, die für alle gleich sind, egal, ob einige daran zu ersaufen drohen, sodass sie sich auf den Kahn der Heuchelei retten müssen. Dein Wissen, das sogar weiß, wen und was man lieben darf und dabei so hoch über den Dingen steht, dass es selbst den Sex zum Clown werden lässt. Dein Wissen, Sophie, hält sich für Gott und wird uns noch alle umbringen!“

Sophies sah ihn mit großen Augen an.

„Was guckst du so?“, fragte Max. „Ich meine nicht, dass die Wächter gute Menschen wären. Ich meine nur, dass wir aufpassen müssen, nicht selbst zu Wächtern zu werden.“

* * *

Nach jeder Pause galt es, die lange Treppe zur Universität hinaufzusteigen. Manchmal wunderte sich Max schon darüber, dass sie überhaupt vorwärtskamen, wo sie doch unterschiedlicher nicht hätten sein können. Vielleicht lag die Antwort am gemeinsamen Ziel. Sie waren fest entschlossen, ihren eigenen Ort zu finden. Einen Ort, an den man selbstbestimmt leben konnte. Diesen Wunsch hatten sie schon damals in der Schulklasse gehabt. Und er wurde immer brennender, je älter sie wurden, immer konkreter, je höher sie auf den Stufen der Bildung vorwärtskamen.

Max blieb stehen und beobachtete Anna und Sophie. Es war eine Treppe von Volkes, auf der er stand. Er konnte nicht verstehen, warum Volkes das tat, eine Treppe zu bauen, die es ihnen erlaubte zu fliehen. Nein, nicht zu den Seiten, da waren Zäune und Wächter, aber nach oben hinaus. Ihr Wissen sollten die Flügel sein. Denn je höher sie kamen, desto mehr Übersicht hatten sie, gewannen Abstand, entfernten sich von Volkes, dessen Wunsch es doch war, immer ganz in ihrer Nähe zu sein.

 

Doch alles, was Max jetzt auf diesen Stufen empfand, war Abstand. Nicht nur zu Volkes, sondern auch zu Anna und zu Sophie. Sie waren keine Kinder mehr, sie waren jetzt anders und wurden es von Stufe zu Stufe mehr. Aber ihr gemeinsames Ziel, das war noch da, das änderte sich nicht.

Max dachte darüber nach, um wen es hier eigentlich ging. Es ging nicht mehr nur um Wächter oder nicht Wächter. Es ging um Menschen und es ging darum, was die Menschen taten. Ob es gute oder schlechte Menschen waren. Und es konnte auch sein, dass es etwas mit Enttäuschung zu tun hatte, mit unerfüllten Idealen, die einfach nicht stimmten, weil sie gar nicht existierten. Selbst Max betrachtete Sophie mit seinen Augen und sah in ihr das, was er sehen wollte – eine heile Welt.

Die Kirschblüten rieselten schon wie Schnee von den Bäumen entlang der Allee, die von der Hoppelnase zum Marktplatz führte. Sophie liebte es, unter dem Blätterdach zu laufen. Das könne sie stundenlang tun, zu jeder Jahreszeit wäre es schön, wie sie meinte. Und Max glaubte ihr das, ohne zu fragen.

Aber Sophie lief nicht, sie eilte! Das Blätterrauschen war ihr egal. Den Duft um sie herum nahm sie nicht wahr. Und für den Blütenzauber hatte sie auch keinen Blick, denn ihr Blick gierte gehetzt einem Ziel entgegen: der Praxis von Frau Dr. Radmann.

Ihre Praxis am Marktplatz lag etwas abseits in einer kleinen Seitenstraße. Das Haus war alt und marode. Nur ein unscheinbares Schild wies den Weg zur Ärztin für Allgemeine Medizin. Sophie lehnte es stets ab, dass Max sie dorthin begleitete. Was ihn ärgerte, nicht nur, weil er sich von Sophie ausgeschlossen fühlte, sondern auch, weil er wieder diese Machtlosigkeit spürte, als ob es ihm nicht zustünde, da es ihn nichts anginge. Das seien nun mal Frauensachen, sagte Sophie. Und das habe er zu akzeptieren, bei aller Liebe.

Aber Max merkte sehr wohl, dass es etwas mit ihm zu tun hatte. Denn an diesem Punkt angekommen, wurde die Entfernung für ihn spürbar, die zwischen ihnen lag. Ja gut, Sophies Zuneigung ihm gegenüber war echt, auch das spürte er, aber da war noch etwas anderes, das mehr und mehr Raum einnahm und an Bedeutung gewann. Etwas, dem sie sich hingezogen fühlte und wovon Max in den Hintergrund gedrängt wurde, um ihn in dieser Machtlosigkeit allein zurückzulassen. Das war ein scheußliches Gefühl. Es trug Neid und Eifersucht mit sich, die von Angst begleitet wurden. Von der Angst vor dem Tod und dem schlechten Gewissen vor dem Leben.

Frau Dr. Radmann freute sich jedes Mal, wenn Sophie zu ihr kam, so sehr, dass es schwer war zu sagen, ob sie Sophie etwas Gutes tun wollte, oder aber, ob Sophie gut für sie war, um nicht alleine auf die Reise gehen zu müssen.

Aber allein waren die beiden ohnehin nicht. Eine ganze Gruppe von Mädchen kam regelmäßig zu diesen Sitzungen. Sie saßen in einem Kreis auf dem Teppichboden, in der Mitte eine Feuerschale. Alle Augen starrten gebannt in die Flammen, während Frau Radmann die Gläschen mit der Medizin verteilte. Schließlich setzte sie sich dazu – auch ein Glas in den Händen haltend. Sie tranken. Es herrschte totale Stille im Raum und es war dunkel. Nur das flackernde Feuer warf Schatten an die Wände.

Und dabei blieb es. Über Stunden. Kein Wort. Keine Regung. Nur starrende Augen von Flammen gebannt. Sophie spürte eine Konzentration in sich, die es sonst nicht gab. Sie nahm Dinge wahr, die ihr sonst verborgen blieben. Selbst der Tanz der Flammen war für sie hörbar. Sie tauchte in eine andere Welt ein, zu der Max keinen Zugang hatte. Er mochte Frau Dr. Radmann nicht leiden.

* * *

Volkes liebte die Schönheit, aber deshalb war er noch lange kein guter Mensch. Im Gegenteil! Auch das Böse konnte schön sein. Es gab da einen Wächter-Offizier, der sehr gut aussah und verführerischer als Volkes war, vor allem war er sportlich gebaut, also eine Seltenheit unter den Offizieren. Volkes erkannte die Qualitäten dieses Mannes schnell, gab ihm für seine Jugend einen ungewöhnlich hohen Rang, dekorierte ihn mit Orden und stattete ihn mit Vollmachten aller Art aus. So brauchte dieser Wächter keine Uniform zu tragen, er lebte auch nicht in einer Kaserne, sondern mitten unter den Studenten. Keiner ahnte, dass er ein Wächter war.

Aber vielleicht war es gerade das, denn zum ersten Mal fiel Max der Schönling auf, weil der sich so unauffällig verhielt. Max hatte längst verstanden, wie es in einem Studentenwohnheim herging, und er wusste auch, dass ein junger Mann nicht an sich halten konnte. War es ihm gelungen, eine Kommilitonin flachzulegen, so war das noch am gleichen Abend der gesamten Bierrunde im Studentenkeller bekannt. Nicht so beim Schönling! Was auch der Grund dafür gewesen sein mochte, warum sich die Mädchen zum Schönling hingezogen fühlten. Was für ein Mann! Nicht nur schön und stark, nein, er konnte auch etwas für sich behalten!

Allerdings konnte Max diese Faszination nicht teilen, denn teilen musste er schon mit ihm, aber zum Glück oder Unglück nur das Zimmer. Zum Glück deshalb, weil die Damenwelt vor ihrem Zimmer Schlange stand, was Max allein nie geschafft hätte. Und wo viel gegessen wurde, da fiel auch etwas für ihn ab. Und zum Unglück deshalb, weil der Schönling so manche Nacht ihr Zimmer allein brauchte und Max in der Badewanne schlafen musste, was ganz schön hart war. Wenigstens wollte ihm der Schönling einen Dauerschlaf in der Badewanne nicht antun, sodass er ein Feldbett neben der Wanne aufstellen ließ.

Eines Tages kehrte Max ungewohnt zeitig auf seine Studentenbude zurück. Er bog zum Studentenwohnheim ab, das der Schönling gerade verließ und, gut gekleidet, mit Aktentasche in der Hand, schnellen Schrittes den Pier entlangeilte, dem Jachthafen entgegen. Doch was machte ein Student im Jachthafen?

Der Schönling verschwand in einer Motorjacht, die nicht an der Leine lag. Sie musste also gerade angekommen sein. Der Motor tuckerte im Leerlauf, dann heulte er auf. Ein kurzes Aufbäumen, ein sich aufstellender Bootsrumpf und die Jacht entschwand auf peitschenden Wellen.

Max beobachtete dieses Spiel fortan Woche für Woche. Er war fassungslos. Seine Träume waren grausam und das Laken jeden Morgen ein einziges Knäuel. Er träumte immer wieder von einer Schlange aus Mädchen in weißen Kleidern und mit weißen Blumenreifen in ihren Haaren. Sie strahlten. Die Luft war von Parfüm erfüllt. Eine nach der anderen traten sie in einen Salon ein, wo der Schönling sie empfing. Das Licht war gedämpft, es standen Kerzen und Weingläser auf dem Tisch. Auch ein in Purpur-Samt gehülltes Sofa wartete schon. Die Mädchen schmolzen dahin. Eine nach der anderen. Doch dann wurden sie vom Schönling an eine Tür geleitet, feierlich, mit nach oben gehaltenen Händen, einem Sich-Zunicken, einem Lächeln, einem Knicks. Er öffnete die Tür, führte sie hindurch und ließ sie ins Nichts fallen. Dieses Nichts war endlos, kalt und dunkel: ein freier Fall in die Fassungslosigkeit. Max schreckte immer wieder aus dem Schlaf hoch und suchte die Orientierung, wollte wissen, ob er wirklich war. Morgen für Morgen. Er fühlte sich mitschuldig. Er labte sich an der Weiblichkeit, die sein Feldbett durchströmte und öffnete damit die Schleuse ins Nichts, um die Mädchen in den Abgrund fallen zu lassen.

Das aber konnte er nicht mehr ertragen. Ihm kam wieder der Gedanke ans Weglaufen in den Sinn. Er wollte es so machen, wie es die meisten machten, wurde etwas schwierig, liefen sie vor der Schwierigkeit davon.

Ein anderes Mal erwischte Max den Schönling dabei, wie der vor dem Spiegel stand, um sich die Augenbrauen zu zupfen. Der Schönling wirkte überrascht, als wäre es ihm peinlich, doch wusste Max längst, dass es des Schönlings Lieblingstätigkeit war. Stunden konnte er vor dem Spiegel stehen und sich selbst betrachten.

Max machte es sich falschherum auf einem Stuhl bequem und sah dem Treiben zu. Der Schönling wirkte seltsam kalt, so ernst, woraufhin Max meinte, ob er schon mal darüber nachgedacht hätte, mit nur einem Mädchen über eine längere Zeit auszukommen, doch der Schönling antwortete, dass Max davon nichts verstünde.

Der Blick des Schönlings ging in den Spiegel. Max wurde mit solcher Härte fixiert, dass er sich wie festgeschnallt fühlte. Unwohlsein stieg in ihm auf. Plötzlich war es, als wollte es ihm die Stimme versagen, als käme ein Befehl vom Spiegel her, dass er es ja nicht wagen solle. Aber Max konnte nicht anders, als von seiner gemeinsamen Zeit mit Volkes zu erzählen. Er erzählte von den Barzillen des Wahnsinns und dass Volkes seinen Kampf niemals gegen die eigenen Leute richten würde, dass hätte er ihm persönlich versichert.

Der Schönling legte die Pinzette beiseite und forderte Max erneut auf, endlich still zu sein.

Doch Max ließ nicht locker. Er warf ihm vor, sehr wohl zu wissen, was mit all den Mädchen passieren würde, nachdem er sie flachgelegt und über sie berichtet hätte.

Der Spiegel zitterte und der Schönling brüllte: „Das ist vergiftete Brut, die man im Keim ersticken muss, bevor sie groß wird!“

Max lief es kalt den Rücken hinunter. Stille stand im Raum. Er hatte das Gefühl, als würde er nackt einem Panzer mit Kanone gegenüberstehen. Also brüllte er zurück: „Und du bist ein Schwein, das kein Erbarmen kennt.“

Aber der Schönling wurde ruhig. Er betrachtete Max und erklärte fast väterlich: „Diese Arbeit muss nun mal gemacht werden – fürs Vaterland. Da sind Gefühle fehl am Platz, da ist Nüchternheit gefragt. Sicher, ich verbinde das Angenehme mit dem Nützlichen, und wo geht das besser, als im Bett? Ganz zu schweigen davon, dass auch du deine Auslegungen von Moral hast. Denk nur an Sophie, was sie wohl zu den Geschichten im Feldbett sagen würde? Aber davon weiß sie doch gar nichts, oder?

Für einen Moment war Max sprachlos. Er sah sich zu allen Seiten um, wurde verlegen, als wäre etwas angesprochen worden, worauf er selbst noch nie gekommen war.

„Nein, nein, Sophie hat damit nichts zu tun. Schon in der Schulzeit ist sie meine Freundin gewesen, bis heute. Aber, als das mit dem Feldbett war, habe ich noch nicht mit ihr geschlafen. Habe es auch nicht im Sinn gehabt. Das ist eine völlig andere Ebene, die nichts mit Sex zu tun hat.“

Der Schönling nickte und klopfte sich dabei mit der Pinzette gegen die Stirn. „Schon klar, eine völlig andere Welt“, meinte er und bezeichnete Max als einen Spinner. „Genau darin liegt nun mal der Unterschied, und um den zu erkennen, braucht es einen kühlen Kopf. Schließlich geht es hier nicht ums Flachlegen, sondern um eine Auswahl. Und ich garantiere dir, nicht alle der Mädchen stelle ich an den Pranger.“

Es knisterte in der Luft. Die Spannung war am Zerreißen. Max’ Herz jagte und jagte und er spürte, dass der Schönling eine Entscheidung von ihm erwartete. Noch ließ er ihm die Wahl, noch hoffte der Schönling, ihn mit seinem Reden überzeugt zu haben.

Aber Max schwieg und das Lächeln des Schönlings verschwand endgültig. Für einen Moment dachte Max, der Schönling käme darüber ins Grübeln. Also hakte er nach: „Denk daran, wie schnell sich die Zeiten ändern können. Alles, was jetzt klein ist, wird eines Tages groß werden. Und dann musst du erklären, warum du das Kleine zertreten wolltest. Was glaubst du, wer du bist – Gott?“

Max wandte sich von ihm ab und wollte sich gerade richtigherum auf den Stuhl setzen, als ein Knacken seine Ohren zu sprengen schien.

Das letzte klare Bild war eine Stiefelspitze vor seinen Augen, die eilig nach Orientierung suchten, sie aber nicht fanden. Alles zitterte, schaukelte und bebte. Zeit für Schmerzen war keine. Doch bemerkte er seinen dumpfen Aufprall auf den Boden. Die Vibrationen begannen zu verschwimmen. Einzelne Bilder gingen ineinander über. Sie wurden eins. Eins, das er nicht mehr erkennen und zuordnen konnte. Alles, was er sah, war diese Stiefelspitze. Sie war auf Hochglanz geputzt, mit einigen Flecken seines Blutes darauf. Sie glitt wie in Zeitlupe durch den Raum seinem Bauch entgegen und schlug ein. In seinem Mund machte sich ein süßlicher Geschmack breit. Dann wurde es dunkler und dunkler und schwarz und still.

Er hatte sich dem Schönling gleich stark gefühlt, wenn nicht sogar überlegen. Eine körperliche Gefahr hatte er in ihm nicht erkennen können. Wie auch? Bei einem Mann, der vor dem Spiegel mit einer Pinzette in der Hand sich die Brauen zupfte und nur an Weiber dachte. Also hatte er ihm den Rücken zugewandt und weder einen Schlag noch einen Tritt erwartet. Wenn Max beim Judo auf die Matte stieg, wusste er, was kam. Er wusste, er würde angegriffen werden. Und sein Körper wusste es auch – alles war vorbereitet.

 

Doch jetzt nicht. Genau in jenem Moment, wo er ihn stellen wollte, weil er die Täuschung den Mädchen gegenüber erkannt hatte, war er selbst der Täuschung erlegen. Und das mit einer Wucht, die es ihm unmöglich machte zu erfassen, was eigentlich los war. Max versuchte es. Sein Körper versucht es. Er suchte Orientierung und seine Augen eilten, ein klares Bild zu finden. Doch der Schönling ließ ihm keine Zeit dazu. Seine Stiefelspitze setzte sofort nach, wieder und wieder trat er ihm auf den Kopf und in den Bauch. Statt rascher Bilder zur Orientierung bekam Max eine Zeitlupe. Das Gesicht des Schönlings war hassverzerrt, seine Lippen glänzten dick geschwollen und es tropfte die Spucke von ihnen ab, langsam und langsamer werdend in einem zähen Faden auf die Stiefelspitze, um sich dort mit den Flecken aus Blut zu vereinen. Max hatte den Kampf verloren.

Seit einigen Tagen lag er nun schon in der Universitätsklinik und wurde von Frau Dr. Radmann betreut. Und egal, ob es nun Frauen-Sachen waren, von denen Max nichts verstand, so verstand er aber, dass sie ihn immerfort auf eine Reise schickte, die zu schön war, um wahr zu sein. Mehr noch, jedes Mal nach seiner Rückkehr spürte er diese Leere in sich. Es war unbeschreiblich, es fühlte sich an, als blicke er auf ein weißes Blatt Papier, wo die Augen erstarrten, da es nichts zu sehen gab.

Max weinte, dass die Binden unter seinen Augen nass wurden. Eine Neonröhre brummte ihn an. Gnadenlos, ohne Pause. Ihr grelles Licht durchdrang seine geschlossenen Lider. Max wollte den Kopf drehen, aber das ging nicht. Sein Kopf war hart wie ein Helm, war durch Binden steif gebunden. Alles roch nach Medizin.

Frau Dr. Radmann war eine kleine, dünne Gestalt mit knittriger Haut und trüben Augen. Es war der Kummer, der ihr ins Gesicht geschrieben stand. Max verstand, dass sie oft und lag auf Reisen gewesen war. Er musste an Sophies zart-weiße Haut denken und an das klare Blau in ihren Augen. Er bekam Angst, dass er Sophie verlieren könnte.

Dieser Gedanke ließ ihn den Boden unter den Füßen schwinden und in die Verzweiflung fallen, er war wieder enttäuscht, weil er wieder seine Machtlosigkeit ertragen musste, hinein bis in die letzte Faser seines Seins. Seit klein auf war er Judoka gewesen. Aber einen solchen Kampf hatte es noch nie gegeben. Er hatte nicht einen einzigen Schlag gegen den Schönling absetzen können. Und er dachte an die Mädchen zurück, wie sie sich fühlen mochten, wenn sie noch die Wärme des Schönlings in sich trügen, während sie im freien Fall durch das Nichts ihrem Ende entgegenrasten. Kaum, dass die Wärme erloschen war, fänden sie sich in einem Kerkerloch wieder.

Als er nach einigen Tagen aus dem Krankenhaus zurück ins Wohnheim kam, war der Schönling nicht mehr da. Keiner hatte etwas dazu zu sagen. Er habe sich auch nicht verabschiedet. Das Feldbett fehlte und Max wohnte fortan allein auf dem Zimmer. Den Schönling sah er nicht wieder. Und kein Mädchen wartete mehr vor der Tür.

Ab nun war es anderes, wenn Max und Sophie während der Pausen auf der Hoppelnase im Gras lagen. Denn Max schien es, als würde die blaue Weite aus Sophie Augen verschwinden. Ganz langsam.

„He, Max! Träumst du?“, fragte sie ihn.

Max war in seinen Gedanken gefangen. Sophie stützte sich vom Rasen auf. Die Sonne ließ ihre Lider blinzeln. Eigentlich war alles wie früher. Und doch war es anders. Sophie hasste die Gewalt und hatte dennoch dazu aufgerufen. Weil es nur Wächter waren. Nur!

Die Vorlesungspause war zu Ende. Sie mussten in den Hörsaal zurück. Die Dozenten achteten auf Pünktlichkeit. Denn die passte zu Volkes’ Reich, so sehr, als wäre sie dafür erschaffen worden, sie ließ sich quadratisch machen, sorgte für Ordnung durch Gleichheit, schuf Überwachung durch Kontrolle. Alle Studenten standen vom Rasen auf, alle im selben Moment, wie auf Kopfdruck. Das wirkte so unreal, so künstlich, dass Max ein Schauer über den Rücken lief. Er fühlte sich kalt und mechanisch wie eine Maschine. Gleichzeitig wusste er, dass er da irgendwie mitmachte, weil auch er ein Rädchen in dieser Maschine war.

Max stieg neben Sophie die Stufen zur Universität hinauf. Sophies Kleidchen wellte sich über die Haut und die Luft wehte einen Hauch von Parfüm in die Ferne. Sophie war zum Greifen nah. Max konnte sie sehen, anfassen und mit ihr sprechen. Doch er hatte sich nicht geirrt und er war auch kein Spinner. Denn Sophie war in einer anderen Welt zu Hause. Und selbst wenn sie sich zu ihm ins Feldbett gelegt hätte, wäre er ihr nicht nähergekommen, wäre nicht ein Teil ihrer Welt geworden.

* * *

Von nun an zog es Max an sein Wohnheimfenster. Er blickte stundenlang auf den Jachthafen und wartete auf Jachten, die sich auffällig verhielten. Doch Jachten gab es hier viele. Und wenn er wollte, ließ sich jede von ihnen mit einer Geschichte versehen. Nur, dass ihn dabei stets ein Unbehagen begleitete, fehlte ihm doch das Wissen. Träume allein reichten nicht aus. Kaum also, dass sich seine Augen in der Ferne des Hafens verfangen hatten, geriet er ins Träumen: die tollsten Geschichten der Welt.

Er fragte sich immer wieder, wo Sophie ihre Disziplin hernahm. Sophie konnte unermüdlich lernen. Man hätte sie in einen Raum mit Stuhl, Tisch und Büchern sperren können und sie wäre zufrieden gewesen. Sie hätte vielleicht noch geschimpft, dass es zu wenige Bücher wären!

Volkes ließ im Schulunterricht den Satz „Nur die Gedanken sind frei“ analysieren. Gleich mehrere Unterrichtsstunden galten diesem Satz und die Lehrer hatten den Schülern beizubringen, wie falsch er war. Am Ende musste jedem Schüler klar sein, dass es freie Gedanken gar nicht geben konnte. Und wehe dem, der diesen Satz je wieder über seine Lippen brachte. Da wunderten sie sich schon, wieso Volkes solch eine Angst vor der freien Meinung hatte. Und hier ging es nur um Bilder, Gedanken und Vorstellungen. Einen wirklichen Aufruhr gegen Volkes gab es nicht. Dennoch, die Wächter hatten alles im Griff. Denn nur, was sich greifen ließ, ließ sich auch einsperren.

Volkes wollte das Denken verbieten, doch einsperren und verhindern konnte er es nicht. Es musste für ihn eine grauenhafte Vorstellung sein, dass da etwas war, das er nicht kontrollieren konnte. Ein Horrorgedanke für ihn als Machtmenschen, der über alles um sich herum informiert sein wollte, von sich selbst aber nichts preisgab. Und sobald er das Gefühl hatte, die Kontrolle über die Informationen zu verlieren, wurde er unsicher, nervös, hektisch. Von da an war es immer nur ein kleiner Schritt und er wandte Gewalt an, bis die Kontrolle wiederhergestellt war.

Volkes wusste durch seine Wächter längst von den Studententreffen in den Hallen unten am Hafen. Wahrscheinlich kannte er jeden einzelnen Satz, der dort gesprochen wurde.

Den Studenten wiederum war klar, dass die Wächter unter ihnen waren, sodass sie glaubten, die Sache gut steuern zu können. Die Frage war nur, warum Volkes nun doch Gewalt angewandt und er die Studenten hatte verhaften lassen. Dass er Max und Sophie dabei als Rädelsführer angesehen hatte, konnte Max verstehen, das hatte etwas mit ihrer gemeinsamen Kindheit zu tun. Vielleicht war es Volkes sogar selbst gewesen, der sie in diese Rolle gedrängt hatte, weil es ihm angenehm war, weil er sie kannte, weil er sie kontrollieren konnte. Doch etwas passte nicht ins Bild: Was hatte diese Darbietung eines Stücks vom Amulett der Elite in einem Fass mit Altöl zu bedeuten?

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