Volkes

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Max hingegen wäre von Volkes zerbrochen worden wie eine überflüssige Flasche. Denn ganz bestimmt hatte Volkes auch seine Schwierigkeiten mit dem Sehen. Er ließ sich von diesem Kristall blenden, egal, ob er dabei draufging oder nicht. Sophie hatte einmal erklärt, dass sich niemand vor dem Tod zu fürchten brauche, eigentlich gäbe es gar keinen Tod. Der Tod und das Leben seien ein und dasselbe, so wie auf der einen Seite das Licht auf- und auf der anderen unterginge, weil die Erde rund war.

Sogar der Hohe Rat der Wächter hatte das Amulett der Elite nie zu Gesicht bekommen. Es war einer Sage gleich, die schon zu Zeiten von Volkes’ Großvater erzählt worden war. Damals hatte das Amulett der Elite den Segen für eine bessere Zeit verkündet, hatte für einen noch besseren Anführer gestanden. Jetzt war es zum Fluch der Gegenwart geworden. Vielleicht mochte das der Grund dafür sein, dass Volkes die Geschichte vom Amulett vor den Wächtern geheim hielt, denn sie erzählte von der Macht des Wissens und diese Macht sollte nicht die der Wächter sein.

Und die Leute sagten zudem, dass Volkes Großvater ein Held gewesen war, weil er unter die Menschen gegangen war und mit ihnen geredet hatte, dass er beliebt gewesen war, dass er keine Zuchthäuser errichten lassen und sich nicht vor seinen Nachbarn gefürchtet hatte. Gerade das Letzte war allerhand. Kaum einer mochte es glauben, denn schon eine Generation später, war eine Freundschaft mit den Nachbarn undenkbar geworden.

So war es auch Max als Kind erzählt worden. Wer aus dem Land entkommen wolle, müsse Flügel haben und nach oben hinaus. Es gäbe nur diese Richtung.

Schon damals hatte er sich gefragt, warum Menschen fliegen können müssen, um zu leben. Normal fand er das nicht, denn es hieß, zu Volkes’ Vater aufzuschauen und ihm zu folgen, dabei nicht nach rechts oder links zu sehen. Zu Hause zu sein in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter, ohne zu wissen, wer sie eigentlich waren. Nachbarn, die niemand kannte. Nachbarn, mit denen jeder fliegen musste, aber deren Böden, deren Häuser keiner betreten durfte. Denn das war nicht erwünscht. Fragen nach der Herkunft interessierten keinen. Die Persönlichkeit eines jeden entfaltete sich erst im Fluge. Niemand, der noch Boden unter den Füßen hatte, eine Spur hinterließ, verwurzelt war. Ein Leben wie bei den Ameisen, wo die einzelne nichts gezählt hatte.

Oh ja, das wussten sie schon als Kinder: Menschen mussten Flügel haben.

„Nein, Flügel verleiht das Amulett keine“, sagte Sophie, „aber Kraft!“

Volkes’ Züge wurden noch ernster.

„So, Kraft!“, brüllte er los. „Deine Kraft ist Einbildung, Sophie. „Aber mit mir nicht! Ich lasse mich durch eure Spinnerei nicht verrückt machen!“

Volkes Gesichtsfarbe verkehrte sich von rot zu lila. An seinen Mundwinkeln klebte Spucke.

„Ich verstehe euch nicht. Ihr habt alles bekommen: Bildung, Arbeit, seid in Familien groß geworden, könnt wählen, ob ihr Wissenschaftler oder Wächter werden wollt. Die Menschen weltweit beneiden euch dafür. Und – was macht ihr?“

Volkes trat dicht an Sophie heran.

„Was macht ihr?“

Die Spucke riss von seinen Mundwinkeln ab und flog durch die Gegend.

„Ihr huldigt einem Stück Gold, als sei es euer Lebenselixier. Das ist doch krank! Krank, krank!“

Der Widerhall der Schreie tobte durch die Halle.

„Das ist keine Gewalt, Sophie“, fuhr Volkes mit leiser Stimme fort, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. „Es ist Heilung für uns alle. Und die Medizin ist manchmal bitter und das Genesen tut weh! Habt ihr das nicht schon bei euren Eltern gelernt? Selbst Flügel würden euch da nicht helfen.“

Dabei wäre Max gerne einmal zu Sophies Eltern geflogen. Einfach so. Nur um sie kennenzulernen. Aber Sophies Eltern hatte er niemals gesehen. Und er hatte Sophie auch niemals seine Mutter vorgestellt. Selbst für Max war das schwer erklärbar, weil eigentlich nichts dagegensprach. Doch nein. So etwas machte keiner. Max nicht und Sophie auch nicht.

Max wusste aber, dass Sophies Vater Astronom war. Und er bewunderte ihn, ohne dass er ihn kannte. Wobei, etwas kannte er ihn schon, denn Max hatte in der Zeitung einen Artikel gelesen, in dem er berichtete, wie er einen Planeten in einem anderen Sternensystem entdeckt hatte. Sophie konnte damit nicht viel anfangen. Sterne langweilten sie. Aber Max war begeistert.

Vielleicht lag es daran, dass Max auch gerne einen Vater gehabt hätte. Er hatte seine Kindheit mit seiner Mutter allein verbracht und er stellte es sich toll vor, wäre es anders gewesen. Dabei war seine Mutter immer sehr fürsorglich gewesen. Sie hatte ihn immer geschützt. Und dennoch, seine fehlende Bereitschaft zum Risiko, das Weglaufen vor den Dingen hatten ihn zum Läufer werden lassen.

Ganz anders sein Vater, den er zwar nicht wirklich kennengelernt, da er kurz nach seiner Geburt einen Unfall hatte, der ihm aber weit über seinen Tod hinaus mit seinen Ideen in Erinnerung geblieben war. Man sagte, sein Vater hätte nahezu zu allem eine unkonventionelle Idee gehabt, wie die Dinge anders und besser gemacht werden könnten. Es hieß, dafür wäre er im ganzen Land bekannt gewesen, auch bei Volkes’ Vater, der ihn hin und wieder als Berater zu sich gerufen hatte. Und man sagte weiter, dass manche seiner Ideen weit über das Ziel hinausgeschossen seien, soweit, dass sie den Horizont der Regierenden überschritten und als gefährlich gegolten hätten. Und insgeheim sagte man sogar, der Unfall seines Vaters wäre kein Unfall gewesen, nein, da wäre nachgeholfen worden – was seine Mutter hätte fast verstummen lassen, auf ewige Zeit.

Nun ja, Max war noch zu klein gewesen. Und die Leute haben sich viel zu erzählen. Einiges mochte stimmen, anderes nicht. Seine Mutter meinte, dass es Gerüchte seien, pietätlose Gerüchte - so etwas gehöre sich nicht.

Volkes stand noch immer kerzengerade. Aber sein Gesicht war friedlich.

„Diesmal habe ich euch verschont. Nicht nur weil ihr gesund seid. Nein, weil ihr stark seid. Ihr könnt es allein schaffen. Und ihr braucht dafür das Amulett der Elite nicht.“ Er lachte voller Hochmut. „Für die anderen gibt es kein Amulett. Noch nie hat es jemand gesehen. Es gibt nur eine Geschichte!“

„Und der Junge?“, wollte Sophie wissen.

„Was für ein Junge?“ Volkes badete in einer Woge aus Macht. „Der Junge ist noch gesund. Für ihn ist es die Geschichte von einem Stück Gold, das in einem Fass mit Altöl lag. Um den Jungen braucht ihr euch also nicht zu sorgen. Allein um euch solltet ihr in Sorge sein.“

Max und Sophie konnten es kaum fassen. Bisher hatte Volkes alle die verhaften lassen, die es auch nur gewagt hatten, vom Amulett der Elite zu erzählen. Und nun hielten sie etwas in ihren Händen, was es eigentlich nicht gab. Es gab nur eine Geschichte, an die sie glaubten. Der Glaube war es, der diese Geschichte besonders machte und nicht das Stück Gold, das in ihr steckte.

* * *

Sophie wirkte verstört. Das Gewitter war vorüber und die beiden liefen zurück durch das Birkenwäldchen, dem Wohnheim entgegen. Hoch über ihnen thronte die Schule im fahlen Mondlicht. Für Sophie war die Schule wie ein Berg der Heiligkeit. Aber mal davon abgesehen, dass es sich hier tatsächlich um die einzige Erhöhung weit und breit handelte, die nämlich genau 91 Meter über Meeresspiegel erreichte, hatte sie nichts Heiliges an sich. Die Schule war ein nichtssagender Neubaukasten, hinter dem sich ein noch größerer Neubaukasten – die Universität – anschloss. Beide waren sie grau und hässlich.

Manchmal, wenn es regnete und die Düsternis über das Städtchen hinweg zog, waren auch die Schule und die Universität wie verschluckt, wie aufgelöst. Der Berg stand dann ganz allein da und sah aus wie eine grüne Nase auf grauem Grund. Was ihm auch seinen Namen eingebracht hatte. Er wurde Hoppelnase genannt.

Auf Max’ Haut fühlte es sich schon an wie Frühling. Aber nein, ganz sicher war er sich nicht. Es lag noch Schnee vereinzelt in schattigen Ecken übriggeblieben, der ihn daran erinnerte, wie diese Düsternis von der Hoppelnase bis in das Städtchen hinabgestiegen war. Und auch jetzt im fahlen Mondlicht schien es ihm wie eine Reise in die Vergangenheit. In eine Zeit vor dem quadratischen Neubau, vor der quadratischen Ordnung. Das war komisch. Nicht, weil die Neubauten fehlten, nein, weil alles um ihn herum bunt erschien, wenn auch etwas verblast, so doch bunt, obwohl er inmitten in der Düsternis stand.

Das aber wirkte gespenstisch auf ihn. Denn da waren diese Seifenblasen, die mehr und mehr spürbar wurden und die ihn nie wieder loslassen sollten. Ja, Max fühlte sich, wie in einer Blase gefangen. Auch Sophie war in einer gefangen. Und Volkes. Und Volkes Vater. Alle waren sie in Seifenblasen gefangen und betrachteten die Welt. Jeder auf seine Weise.

Das also sollte die Antwort sein, warum Menschen fliegen können mussten. Da war sich Max sicher. Sie fühlten sich in den Seifenblasen alleingelassen, brauchten Flügel und wollten nach oben hinaus, wollten gemeinsam fliegen und den Boden unter den Füßen verlieren.

Für Sophie war dieser Ort des Fliegens die Schule. Anders jedenfalls konnte Max es sich nicht erklären, warum Sophie oft auch nachmittags die Hoppelnase hinaufstieg. Sie setzte sich auf die Stufen der Eingangstreppe und las ein Buch. Auch im Winter, wenn es kalt war. Von dort aus hatte sie einen guten Ausblick hinunter auf das Städtchen. Gleich am Fuße standen das Wohnheim, die Sporthalle, Mensa und Wächterbaracken. Solange Volkes’ Vater geherrscht hatte, war es nur eine einzige Baracke gewesen, aber als Volkes an die Macht gekommen war, hatten sie begonnen, den gesamten Berg grau zu umfrieden.

Hinter den Sportanlagen folgte der weitläufige Park bis an den Hafen. Obwohl der Hafen eher eine Fabrik zu sein schien, mit Häusern, Hallen, Kränen und vielen Fahrzeugen. Er war so groß, dass er die Hälfte des Städtchens umfasste und das Meer auf Abstand hielt. Strand gab es nicht, nur Beton und Stahl. Gummireifen sollten die Bootsleiber vor der Härte des Stahls schützen.

 

Sophie übrigens mochte das Meer, weil es grenzenlos war. Und wenn sich ihre Augen von den Buchseiten lösten, um auszuruhen, konnte sie auch landeinwärts über das Städtchen sehen. Da gab es die alten Häuser, die einmal bunt gewesen waren, bevor sie verblasten, und es gab die neuen Häuser, die grauen, quadratisch ausgerichteten. Es gab sogar zwei Kirchtürme. Die dienten aber nur als Museen, weil die Religion schon lange tot war. Und Straßen mit Bäumen gab es natürlich auch. Dahinter gab es nichts mehr. Alles verlor sich in einer nicht enden wollenden Weite aus Feldern und Wiesen, die von einer Fernstraße und einer Eisenbahnlinie zerschnitten wurden, die gerade auf den Ort zuliefen, sich dann teilten, ihn einschlossen und am Hafen zusammentrafen.

Die Lehrer fanden es nicht gut, dass Sophie die Nachmittage auf der Hoppelnase verbrachte. Und Max fand es auch nicht gut. Die Lehrer duldeten Alleingänge ihrer Schüler nicht, alles hatte in Gruppen zu erfolgen. Und Max hätte Sophie lieber in seiner Nähe gewusst.

Das Wohnheim stand bereits dunkel, als Max und Sophie ankamen. Einzig aus dem Studentenkeller zuckte buntes Licht in die Nacht und der Bass lies den Boden vibrieren. Die Wächter machten lange Gesichter. Ihnen passte es nicht, wenn sich die Studenten bis nachts im Städtchen herumtrieben. Aber sie waren machtlos. Denn Volkes selbst hatte es so angeordnet. Er förderte die Paarbildung, wo er nur konnte. Sein Reich sollte wachsen. So gesehen förderte Volkes den Widerstand gegen sich selbst, es war, als würde er es darauf anlegen, was weder Max noch die Wächter begreifen konnten. Der Wächterrat hatte Volkes sogar darauf angesprochen, dass zu viel Freizügigkeit unter den Studenten eine gefährliche Sache sei. Aber nein, Volkes verfolgte seinen eigenen Weg, den zu verstehen niemand in der Lage war. Denn Volkes zu verstehen hatte Max ja schon als Kind versucht – mit aller Gewalt, sozusagen.

Das war noch so eine Geschichte, die Max mit dem Birkenwäldchen verband. Sie spielte in seiner Schulzeit, gleich nachdem er ins Städtchen gekommen war.

Der Vater von Max hatte früher mit dem Vater von Volkes zusammengearbeitet und es erschien Max daher keinesfalls besonders, mit Volkes befreundet sein zu dürfen. Zudem hatte er schon damals den Ärger, dass Volkes ein Auge auf Sophie geworfen hatte. Was aber ganz und gar nur ihm, Max, zustand, wie er sich sicher war. Schließlich war Volkes einige Jahre älter und hatte in seiner höheren Klassenstufe genug eigene Mädchen.

Mangel kannten beide nicht. Verbote gab es für sie auch keine. Die Wächter erschienen ihnen devot. Sie machten sich über sie lustig, weil sie Angst vor ihnen hatten, und wenn nicht, würden die zwei es Volkes’ Vater sagen.

In der Schulklasse versuchte jeder Max’ Freund zu sein, denn er war Volkes’ Freund. Max fühlte sich mächtig. Das hatte er Volkes zu verdanken. Dass sich so etwas privilegiert nannte, wusste er damals noch nicht. Es war ihm auch egal, weil es nicht als Grund ausreichte, um Sophie den Hof zu machen. Ausgerechnet Sophie! Das konnte Max nicht begreifen.

Volkes hatte doch alles bekommen, was er wollte. Selbst die Mädchen. Aber es war, als könne er nichts damit anfangen, als lebe er in einer dieser Seifenblasen, die Max zu sehen glaubte. Volkes’ Blase schillerte sogar in einem viel farbenfreudigeren Licht als die anderen, nur dass er sich nie darüber freute und einsam wirkte, obwohl alle dicht bei ihm waren. Sein Vater hatte darauf bestanden, dass Volkes mit allen anderen zusammen zur Schule gehen musste und dass ihn kein Fahrer bringen noch abholen durfte. Aber das alles half nichts. Volkes blieb unnahbar.

Zum Glück schien Sophie das einzige Mädchen zu sein, das sich schon damals nichts aus anderen Jungs gemacht hatte. Die waren längst nicht so interessant wie ihre Bücher. Doch Max hatte ihr weder in der Schulzeit noch später diese Masche abgekauft.

Eines Tages hatte es ihm dann gereicht. Max war nach der Schule hinauf ins Birkenwäldchen gelaufen. Goldgelbes Laub lag zu seinen Füßen, die Bäume zeichneten ihr schwarzes Gerippe auf den blauen Himmel, sein Atem glitzerte im Spiel mit den Sonnenstrahlen.

Auch Volkes kam herbeigeschlendert. Allein, wie immer. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, zusammengezogene Schultern und hochgeschlagener Jackenkragen.

Max überlegte, zögerte – für einen Moment überfiel ihn ein Hauch von Angst. Nicht vor Volkes, aber vor den Wächtern. Sie würden von der Leine gelassen, sollte er sich mit Volkes prügeln.

Doch Volkes war schon zu nahe. Max hörte seinen Atem durch die kalte Luft dampfen. Jetzt wurden Max die Knie weich. Sollte er Volkes wirklich wegen Sophie stellen und seine geheime Liebe ausgerechnet vor ihm gestehen?

„Ich hab’ die Schnauze voll, du Arsch!“ Max sprang hinter einem Baum hervor und stieß Volkes gegen die Schultern, auf dass er ins Laub stürzte, ohne zuvor seine Hände aus den Hosentaschen zu nehmen.

Volkes glotzte überrascht, war aber kein bisschen ängstlich.

„Was soll das, Max?“, fragte er lächelnd.

Es war ein seltsames Lächeln, wie aus dieser anderen Welt kommend. Max fühlte sich entmachtet, gelähmt. Volkes lag vor ihm und hatte keinen Schimmer davon, worum es hier ging.

Er hatte sich noch nie geprügelt. Er war noch nie verprügelt worden. Dass ihm jemand etwas Böses wollte, lag fern seiner Vorstellungskraft.

Max wurde heiß im Gesicht. Er schämte sich. Volkes kam ihm vor wie ein Behinderter. Und trotzdem warf er sich auf ihn, schnappte ihn und wühlte ihn durchs Laub. Es hatte eher den Charakter eines Spiels denn einer Schlägerei.

„Ich hab’ die Schnauze voll von dir!“, begann Max wieder. „Ich muss pauken wie blöde und dir stecken die Lehrer alles in deinen fetten Arsch.“

„Ich weiß, Max! Ich weiß“

Volkes wühlte sich aus dem Laub hervor und schien regelrechte Freude daran zu haben, dass Max ihn angegriffen hatte. Als wäre endlich einmal etwas passiert, etwas anderes, als sein tagtäglich vorbestimmtes Leben, das ihm langweilig war.

„Wenn du willst, kann ich das ändern. Für dich und Sophie kann ich das machen. Ein Wink von meinem Vater und die Lehrer werden euch lieben!“

Max verstand plötzlich. Es war wie Murmeln spielen, wie der Wurf ins Ungewisse, der ihn immer wieder überraschte, weil die Murmeln oft ganz anders fielen, als er gehofft hatte.

„Lass das, Volkes! Das können wir mit Sophie nicht machen.“

Volkes stand auf und klopfte sich die Blätter von der Jacke.

„Du kannst es nicht machen, Max, ich schon.“

Max sah zu Volkes auf. Der stand vor dem blauen Himmel. In seinen Augen funkelte so viel Macht, dass er nicht zu wissen schien, was er damit anfangen sollte.

Max bekam Angst. Er dachte, Volkes könnte den falschen Knopf drücken und es würde ihn oder Sophie treffen.

„Ja – richtig, Volkes. Du könntest das tun. Aber es bringt nichts und das weißt du. Wer Sophie ärgert, wird nie bei ihr landen. Das ist so schon schwierig genug.“

Stille legte sich über den Park. Volkes stand still, den Blick zum Himmel gerichtet, schweigend. Die Minuten strichen dahin. Es war kalt. Max saß noch immer im Laub. Er wagte nicht aufzustehen, weil es ihm vorkam, als könne er damit etwas Böses auslösen. Als wäre es gefährlich, Volkes jetzt zu stören.

„So, so“, durchbrach Volkes die Stille: „Das Mögliche ruhen zu lassen, ist also die Macht?“

„Richtig.“

Volkes’ Blick riss vom Himmel ab und kam auf Max nieder. Er stützte seine Hände am Boden ab. Das Laub war glitschig, sein Hauch von Freude verflogen.

„Blödsinn, Max! Wer seine Möglichkeiten nicht nutzt, ist feige. Das ist die Feigheit vor dem Leben!“

Max spürte, dass er aufstehen musste. Jetzt.

Er baute sich vor Volkes auf. Sie waren gleich groß. Ihr gemeinsamer Atem hüllte die Gesichter mit Dampf ein.

„Ach Volkes, tu doch nicht so! Du weißt genau, was Sophie mag und was nicht. Du umgarnst sie und nutzt nicht die Möglichkeit, sie dir einfach zu nehmen.“

Mit wuchtigem Zorn wollte Volkes ihn aus der Bahn drängen, doch Max war schneller, wich aus und Volkes trat ins Leere.

„Wenn jeder Mensch die Möglichkeiten nutzen würde, die ihm sein Denken bietet, wäre die Menschheit längst tot. Mächtig zu sein, heißt weise zu sein, denn der Weise erkennt die Möglichkeiten, die den Menschen nützen.“

„Halt jetzt deine Klappe, Max! Was soll das philosophische Gequatsche? Ist dir die Schule nicht bekommen, oder was?“ Volkes machte einen Schritt zurück. Seine Stirn lag in Falten. „Glaubst du wirklich, dass du mit diesen Sprüchen besser bei Sophie landest, als ich mit meinem Vater im Rücken?“

Jetzt grinste er. Sein Blick richtete sich wieder zum Himmel und er sagte: „Na, Max, wie fühlt sich das an? Die Macht ist wie ein Rausch! Also höre auf, über Dinge zu philosophieren, von denen du nichts verstehst. Ist das klar!“

Dann sah er Max in die Augen. „Was hast du schon zu bieten, außer dass du dir die Zunge verrenken kannst? Mag sein, dass du gut reden kannst und Verständnis für Sophies Bücher hast, aber das allein reicht nicht aus. Auch Sophie liebt schöne Kleider, genießt den Luxus, möchte ausgeführt werden und weiß, dass man dafür Geld braucht. Wach auf, Max! Du bist weder schön noch mächtig noch reich. Du bist ein Nichts. Und nun sage mir mal, warum sich Sophie für ein Nichts entscheiden sollte? Für dich wird Sophie immer ein Traum bleiben. Immer.“

Ein breites Grinsen verzog Volkes’ Gesicht zur Fratze. Mit seinen Blicken ließ er die Macht vom Himmel regnen in Tropfen aus Überheblichkeit. Volkes war hässlich doch schön zugleich.

Max’ Gedanken hingen wieder im Murmelspiel fest. Er musste seine Murmeln hüten, wenn er sie nicht verlieren wollte, denn ein risikovoller Spieler war er nie gewesen. Aber dieses Spiel konnte er nicht gewinnen, weil Volkes die Regeln nicht kannte und er nach seinen eigenen Vorstellungen spielte. Er hatte sich von vornherein als Sieger ausgemacht.

So klopfte Max ihm auf die Schultern und meinte nur: „Komm, lass uns verschwinden! Es ist kalt. Du weißt also, was Sophie für mich bedeutet? Woher?“

„Ach, Max! Die ganze Schule weiß das. Du bist in Sophie verknallt bis über beide Ohren.“

„So, bin ich das?“

„Ja, bist du!“

Sie schwiegen und liefen durchs Laub. Volkes war wieder im Hier und Jetzt angekommen. Die Überheblichkeit war aus seinen Augen verschwunden.

Das war vor langer Zeit gewesen und wurde dennoch zu einer Geschichte, die Max nie wieder loslassen sollte. Er hatte Sophie von dieser Sache nie etwas erzählt. Zum einen, weil es gar keine Prügelei gewesen war, zum anderen zweifelte er, ob sie überhaupt verstanden hätte, worum es ihm ging, dass es um sie gegangen war.

Sophie lehnte es ab, dass man sich um sie prügelte. Es war ihr zu hirnlos, zu tierisch. Max jedoch hätte sich die Knochen aus dem Leib schlagen lassen, um sie zu kriegen. Volkes schließlich nahm sich das, was er wollte, Sophie einmal ausgenommen. Auf die Idee der Freiwilligkeit kam er nicht. Was andere darüber dachten, interessierte ihn nicht.

Das Ganze war wie eine Ohnmacht. Sein Freiheitswunsch schien Max damit für immer verloren. Wie in aller Welt sollte Volkes einen Wunsch erfüllen können, wenn er nicht erkannte, dass es ein Wunsch war?

* * *

Sophie hingegen löste die Sache auf ihre Weise. Wenn sie die Freiheit suchte, nahm sie sich ein Buch und las. Max war das zu abstrakt, zu weit von der Wirklichkeit entfernt.

Er verstand nicht, warum sie sich immer wieder mit der Geschichte der Maya beschäftigte. Was hatten die Maya mit dem Leben in Volkes’ Reich zu tun? Na klar, die Maya! Das alles wurde immer verrückter. Mochte sein, dass Max das nicht verstehen konnte. Aber dennoch war da eine Art von Berührungsstelle, an der er für einen Moment ihre Welt betrat und sich fühlte, als sei er der Mann im Mond, der nicht wusste, wo er war und was er hier sollte. Eine Welt wie eine Wiese im Sommer, weich, satt und grün, voller Blumen und überall der Duft ihres Parfüms in der Luft. Da lag sie, ihren Kopf ins goldgelbe Haar gebettet, das Rot des Mundes lächelnd und die Augen nahmen ihn mit auf eine Reise ganz in Blau. Kein Mensch, der sie dort hätte stören können. Dort waren nur Max und Sophie.

Und plötzlich war da ein Meer in ihren Augen. Max hatte die Sicht in eine andere Welt, in Sophies Welt. Sie nahm seine Hand und ging mit ihm hinein. Wie schön es dort war! Ein Meer, wie er zuvor noch nie eines gesehen hatte. So leuchtend, so seicht, so warm. Alles war ihm neu. Alles wollte er gleichzeitig aufnehmen. Aber es ging nicht. Es war wie ein Karussell. Ein Kreisen ohne Anfang, ohne Ende.

 

Max brauchte Luft zum Atmen, tauchte auf und Sophie erzählte etwas von Zeit, dass die größte Angst des Menschen die Zeit sei, weil die ihn vergänglich mache, das könne auch Volkes nicht ändern.

Aber darum ging es nicht. Frei sein wollte Max. Nur fort von hier. Sich nie wieder eingesperrt fühlen. Einfach laufen, ohne anzukommen. Freiheit war für Max nichts Konkretes. Sie hatte nichts mit einem Ort zu tun, nicht mit Zeit oder mit Menschen. Sie war ein Gefühl, das überall sein konnte, ohne dass er sagen konnte, wo. Er konnte nur sagen, wo sie nicht war, wo sie fehlte! Bei Sophie konnte er die Freiheit nicht finden und bei den Maya fand er sie auch nicht. Er hat es ja versucht, Sophies Welt zu verstehen, und er rief sich immer wieder ihre flammende Rede über die Geschichte der Maya in Erinnerung, als sie meinte: „Die Maya, Max, die haben nicht in so einem Reich gelebt, wie Volkes das macht. Sie haben in Stämmen gelebt und jeder Stamm hatte einen König und jeder König hatte sein eigenes Land.

Unter den Stämmen herrschte ein blutiger Krieg. Jeder kämpfte gegen jeden. Einer der Stämme brachte sogar eine Königin als Anführerin hervor. Sie soll sehr schön gewesen sein. Aber sie war auch um Vieles grausamer, als es die mächtigsten der Stammeskönige je gewesen waren. Die Maya also kannten keinen Frieden. Und sie mögen Vieles erschaffen haben, doch Einigkeit blieb ihnen zeitlebens fremd. Das zumindest hat Volkes verstanden, dass Einigkeit der Schlüssel für den Frieden ist, so, wie es die Geschichte vom Amulett der Elite erzählt. Aber, die Einigkeit kann weder erkämpfet noch kontrolliert werden. Sie hat etwas mit freiem Willen zu tun, der sich nicht vereinheitlichen lässt, selbst von der Wissenschaft nicht.

Auch bei den Maya gab es Orte des Wissens, die Tempelanlagen. Nur dort kannte man den Lauf der Sterne, wusste um das Wetter und konnte die Termine für Saat und Ernte bestimmen. Doch das einfache Volk hatte zu diesen Tempeln keinen Zutritt, sodass ihm die Tempelpriester wie Heilige, ja, wie Götter erscheinen mussten.

So ließ es sich also seit jeher regieren: ein dummes Volk, einheitlich grau und stumm, das seine Regierung für Gott hielt. Dumm war nur, dass ein jeder Stamm diesen Größenwahn für sich beanspruchte und die daraus folgende Machtgier nicht gestillt werden konnte. Es mussten immer neue Kriege her. Und die Kriege brauchten Krieger und Krieger brauchten Mütter. Es steigerte sich sogar soweit, dass unter den Stämmen die Mädchen geraubt wurden. Die jungen Mütter hatten eine Menge Mäuler zu stopfen, bevor sie diese in den Krieg schicken konnten. Also musste der Wald neuen Flächen für Mais weichen. Und der Mais brauchte Wasser. Wasser hatten die Maya in ihren Rückhaltebecken schon, keine Frage. Aber solche Mengen?

Es gibt einen Grund, Max, warum Volkes die Wächter verblöden lässt, so, wie es einen Grund gibt, warum Volkes die Studenten fürchtet. Das Wissen ist die Macht, aus dem die Einigkeit erwacht.“

Max grübelte oft darüber nach, warum sich Sophie ihren Ansporn ausgerechnet bei den Maya holte, einer Hochkultur der Antike, die schlicht und einfach verdurstet war. Er empfand die Geschichte der Maya als brutal und blutrünstig. Und wenn die Zeit irgendwo eine Rolle spielte, dann bei dem beruhigenden Gedanken, dass sie vorbei war und sich hoffentlich nicht wiederholte. Und wenn die Freiheit irgendwo eine Rolle spielte, dann bei dem beruhigenden Gedanken, dass die Verhältnisse in Volkes’ Reich nicht ganz so grausam waren.

Nur das eine konnte er mit Sicherheit sagen: Die Geschichte vom Amulett der Elite hatte nichts mit den Maya zu tun. Nein, dafür war die Kultur der Maya zu alt. Wenn es eine Verbindung zwischen den Maya, dem Amulett und Sophies Welt gab, dann hatte die etwas mit dem Wissen zu tun, das in der Geschichte steckte, was sie zeitlos, ja grenzenlos werden ließ. Sophie hasste Grenzen. Sie konnte Zäune nicht leiden, nicht einmal die Berge mochte sie. Weitläufig sollte alles sein, mit nicht endender Sicht. In völliger Klarheit. Denn es kränkte und verletzte Sophie, wenn sich ein anderer anmaßte, sie eingrenzen zu wollen.

Das also musste die Lösung sein. Dieser kleine Schritt besseren Lebens zwischen den Maya und Volkes’ Reich, vom Kindersoldaten über das geraubte Mädchen bis zu den Stufen der Schule, dieser kleine Schritt, der für Sophie die Freiheit war. Wo Zeit keine Rolle spielte.

Dennoch! Das konnte nicht stimmen. Wenn die Menschen früher versklavt worden waren und nun Volkes zu dienen hatten, mögen das andere Worte, mögen das andere Verhältnisse gewesen sein. Aber mit Freiheit hatte das nichts zu tun, da war Max sich sicher.

* * *

Ach ja – und wenn es um Freiheit ging, dann ging es auch um Anna. Anna war Sophies allerbeste Freundin, und damit die Dritte im Bunde, dem Dreigespann, wie es schon damals in der Klasse und auch jetzt an der Universität genannt wurde.

Anna war anders als Sophie. Beide verfolgten sie dasselbe Ziel, doch waren ihre Wege unterschiedlicher, als sie nur sein konnten. Schön war sie ja, die allerbeste Freundin. Kein Wunder, dass sie es immer wieder schaffte, die Wächter aufs Feld des Verbotenen zu ziehen, um sie dort um den Verstand zu bringen. Denn anders als bei Sophie waren nicht die Bücher ihre Freunde, sondern die Menschen. Selbst die Wächter.

Erreichte Sophie ihre Ziele durch das Denken, so war Anna frech – frech bis zum Anschlag. Ihrer Keckheit konnte sich niemand entziehen. Mit ihr erreichte sie alles, was sie wollte.

Und sie war nicht blond, sie war schwarzhaarig, hatte kein Meeresblau, dafür warmes Braun in ihren Augen. Sie hatte nicht die zartweiße Haut von Sophie, sondern einen orangenen Samt wie aus Feuer. Kein Duft aus Parfüm begleitete sie, doch sie roch nach Karamell. Dazu dieser Körper, diese Geschmeidigkeit!

Ja, die drei waren schon verschieden in ihrer Art, und doch gehörten sie zusammen. Sie bildeten eine Gruppe, wie es von Volkes erwünscht war. Aber innerhalb der Gruppe hielten sie ihre Individualität beschützt, an die niemand herankonnte. Und das war zu bemerken, zumindest zu erahnen. Alle spürten, dass da etwas war, etwas, dass sich nicht erkennen ließ, aber das von ihnen ausging. Denn die drei waren fast immer gemeinsam anzutreffen. Selbst in der Schlange an der Essenausgabe der Mensa stellten sie sich nicht hintereinander an, nein, sie waren zusammen, als gäbe es in ihrer Mitte etwas zu verstecken.

Anna ärgerte sich über diese Schlangen fürchterlich. Und Max mochte es, wenn sie gereizt war. Sie wurde dann so leidenschaftlich.

„Max!“

Er bekam einen Stoß in die Rippen und spürte Sophies Ring.

„Ihr und euer Sport, ihr könnt mich mal“, sagte Anna mit einer plötzlichen Ernsthaftigkeit, die für sie ungewöhnlich war. „Der Fußballplatz ist nicht die Welt und was auf der Welt los ist, steht auch nicht in Sophies Büchern.“

Der Streifen auf Sophies Stirn begann, sich rot zu färben. Das hätte Anna besser nicht sagen sollen. Sophies Bücher waren heilig.

„Was soll das heißen?“

Sophie war mehr erstaunt als böse. Widerstand gegen ihre Bücher war ihr fremd.

„Mensch, Sophie, du träumst doch! Das sind nur Bücher, Geschichten“, platzte es aus Anna hervor. „Max will raus hier und ich will es auch. Irgendwohin – egal wo.“

Ein Schauer durchzog Max’ Körper. Anna wollte dasselbe wie er. Dabei hatte er immer gedacht, sie stünde den Wächtern näher als ihm.