Der Stern von Nirada - Band 1

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Der Stern von Nirada - Band 1
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DER STERN VON NIRADA von FELIX VAN KANN Band 1 Die Auserwählten

Impressum

Text Copyright©2015Felix van Kann

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 9783737570138

VORWORT

Die Geschichte

Nirada ist in Not. Der Fürst von Dragon hält die Völker Niradas mit seiner unbezwingbaren Magie in scheinbar unlösbarem Griff. Nur die beiden Auserwählten können laut einer Prophezeiung das Gleichgewicht zurückbringen. Das Problem: Sie befinden sich in zwei unterschiedlichen Dimensionen. Simlon, ein Fünfzehnähriger Halbwaise aus Ankorila, wird eines Tages aus seinem Alltag in Armut fortgerissen und vom Weisen Jomera über sein wahres Schicksal als einer der Auserwählten aufgeklärt. Seine gefahrenreiche Mission besteht darin, den anderen Auserwählten in dessen Dimension zu finden und ihn nach Nirada zu leiten. Die Suche nach dem Dimensionstor führt Simlon und seine Gefährten quer durch das weite Reich des Fürsten und zwingt ihn nicht nur dazu, machtvollen Gegnern und brenzligen Situationen zu trotzen, sondern auch zu entscheiden, wem er sich in einer Welt voller Hindernisse anvertrauen kann. Unterdessen ahnt Jamie, ein englischer Schuljunge unserer Tage, nichts von seiner Berufung. Jedenfalls nicht, bis ihn die dunklen Häscher des Fürsten in seiner Londoner Schule zu jagen beginnen. Mit Hilfe des Verbannten Gwin schlägt er sie in die Flucht und begibt sich auf eine gefährliche Reise durch seine unheilvoll veränderte Welt, bei der er sich mit so unbekannten Wesen wie Dimensionsspringern, Drago-Soldaten und Miranen messen muss. Werden die Auserwählten zueinander finden und sich der Macht des Fürsten stellen können? Und welche Rolle spielt der sagenumwobene Stern von Nirada dabei?

Der Autor

Felix van Kann wurde am 01.09.1993 in Frankfurt am Main geboren. Nach dem Abitur im Jahr 2011 studierte er an der Loyola Marymount University in Los Angeles Kommunikationswissenschaften. Felix ist ein begeisterter Geschichtenerzähler und begann bereits mit 15 Jahren, dieses Buch zu entwickeln und aufzuschreiben. In den Worten dieser Geschichte steckt viel von der Energie und den Gedanken seiner Jugendzeit, genauso wie die Erinnerung an einen geschundenen Ringfinger, den Felix bei der handschriftlichen Fertigstellung der 1054 Seiten offenbar ein wenig überbeanspruchte.

Inhaltsverzeichnis

DER STERN VON NIRADA von FELIX VAN KANN Band 1 Die Auserwählten

Impressum

VORWORT

Prolog - Órafar Normir - 51 Jahre zuvor

Kapitel 1 - Der Weise

Kapitel 2 - Schatten über London

Kapitel 3 - Von Sternen und Vergangenem-

Kapitel 4 - Der Verbannte

Kapitel 5 - Dragons Kälte

Kapitel 6 - Steingräber

Kapitel 7 - Seelenopfer

Kapitel 8 - Silbriges Licht

Kapitel 9 - Die Karte

Kapitel 10 -Hedatha

Kapitel 11- General der schwarzen Wolken

Kapitel 12 - Der Fellhändler und seine Tochter

Kapitel 13 - Platz der Einheit

Kapitel 14 - Narben der Vergangenheit

Kapitel 15 - Fragen über Fragen

Kapitel 16 - Über den Dächern von Eenen

Kapitel 17 - Die Versammlung der Diebe

Kapitel 18 - Nach Norden

Kapitel 19 - Zwischen Angst und Zorn

Kapitel 20 - Die Pläne der Schattenkrieger

Kapitel 21 - Abgründe des Zorns

Kapitel 22 - Der Sturm auf Meesenguard

Kapitel 23 - Dennyls Fehler

Kapitel 24 - Aus den Tiefen des Dorndras

Kapitel 25 - Den Raneem entlang

Kapitel 26 - Marteens Rache

Kapitel 27 - Der Junge aus dem Waisenhaus

Kapitel 28 -Ruhige Tage

Kapitel 29 - Am Hafen

Kapitel 30 - Die fünf Türme

Kapitel 31 - Durm

Kapitel 32 - Der Sohn der Stadt

Kapitel 33 - Seenot

Kapitel 34 - Im Nebel des Berges

Kapitel 35 - Der Plan des Meisterdenkers

Kapitel 36 - Gipfeltreffen

Kapitel 37 - Die Schlacht um Durm

Kapitel 38 - Die Wege vereinen sich

Kapitel 39 - Neue und alte Feinde

NACHWORT

Prolog - Órafar Normir - 51 Jahre zuvor

Wie sieht Trauer aus, wenn niemand mehr übrig ist, um sie zu empfinden? Alles, was übrig war, war Staub. Suppendicker Staub. Er hing als eine Pest über den Trümmern der Stadt, verweigerte mit seiner dämonischen Dichte jegliche Sicht, tauchte die Umgebung in ein schändliches, wüstenrotes Licht wie von einem Filter gedämpft. Wären noch Menschen hier gewesen, so hätte sich der Staub wohl bazillenhaft in ihren Kehlen eingenistet, sie ausgedörrt bis nur noch knöchernes Husten erklang. Doch das war nicht möglich. Denn niemand war hier. Órafar Normir war eingetroffen.

In der Geschichte Niradas war Órafar Normir, die nullte Stunde, erst dreimal vorgekommen. Das erste Mal - so lange vergangen, dass noch niemand die Zeit gemessen hatte – war sie in Form dreier mächtiger Urzeitkreaturen aufgetreten. Das zweite Mal war sie so verheerend ausgefallen, dass die Menschheit jegliche Gedanken daran verbannt und diesen Teil ihrer Geschichte schwarz gelassen hatte. Nur obskure, teilweise gar nicht so fantasielose Gerüchte überlebten in den Büchern.

Das dritte Mal war heute.

Órafar Normir gilt als die schlimmste anzunehmende Katastrophe, ein Tag der alles ändert. Eine Begebenheit, die ganze Familien und Generationen auslöschen kann, oder sogar ganze Zivilisationen wie sich heute erwies. Die Hauptstadt war so unvorbereitet von ihrem Untergang getroffen worden, dass sie schlichtweg davon gespült wurde wie eine Flaschenpost auf stürmischer See. Die einstmalige Pracht, errichtet über viele Jahrhunderte mit Muße, törichter Extravaganz und Herzblut, sie war in einem Hauch vom Gesicht der Erde geblasen worden. Was heute noch niemand zu beurteilen vermochte, war, dass die heutige Órafar Normir vielleicht nicht die schwerwiegendste der drei nullten Stunden war, aber die mit den schwerwiegendsten Folgen. Denn jeder Untergang des einen bringt Gelegenheiten für den Aufstieg eines anderen mit sich. Eine Gestalt, von Kopf bis Fuß in einen schwarzen Umhang gehüllt, trat zwischen den Trümmern auf die Reste der einstmaligen Hauptstraße. Erhaben, unberührt von der Zerstörung um sie herum, setzte sie gemächlich einen Fuß vor den anderen. Ihre Gangart hatte etwas Zerstreutes an sich, als wisse sie genau, wo sie stand, konnte es jedoch nicht begreifen. Die Gestalt sah zu, wie ein gebrochenes Windfähnchen im hilflosen Versuch, das Feuer zu löschen, das es erfasst hatte, verrückt vor sich hin rotierte, während die Flammen es langsam zerlegten wie ein vierblättriges Kleeblatt. Der Matsch auf dem Boden stank widerlich und ließ der Gestalt endgültig klar werden, dass die Stadt gebrochen war. Noch vor wenigen Stunden wäre dieses Zeichen der Verwahrlosung in einer Gesellschaft, die Reinheit und Hygiene beinahe bis zur Besessenheit vollstreckte, umgehend beseitigt worden. Jetzt war das nicht mehr der Fall. Ein gebrochenes Wasserrohr versprühte wie im Wahn seine Füllung. Eine goldene Glocke, einst Aushängeschild der vierten Kapelle, lag gespalten und zur Schmucklosigkeit verdammt auf dem aschfahlen Stumpf einer stattlichen, gefallenen Eiche. Dann sah die Gestalt die Leichen. Drei tote Männer in festlichen, zerfetzten Gewändern mit Rußflecken auf ihren glatt rasierten Gesichtern lagen ehrlos unter den Steinen eines Hauses. In den Überresten einer geplatzten Glasscheibe sah die Gestalt ein junges Mädchen, das schon fast nicht mehr als solches bezeichnet werden konnte. Die Stadt würde sich nie wieder von diesem Unglück erholen. Doch die Gestalt hatte keine Gefühle. All das Elend war ihr vollkommen gleichgültig. Und während unweit von ihr die Reste eines majestätisch angelegten Brunnens in sich zusammenfielen, lächelte sie. Denn die Essenz von Órafar Normir ist und bleibt, dass jeder Untergang des einen Gelegenheiten für den Aufstieg eines anderen mit sich bringt. Und die Gestalt würde diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Ihr Zeitalter sollte anbrechen.

 

Kapitel 1 - Der Weise

„Wir schaffen es einfach nicht mehr!“, sagte Tringard entschieden. Zustimmendes Gemurmel machte sich breit.

Es waren acht Männer in der Burg. Das Licht der Fackeln schimmerte matt in der Dunkelheit des glanzlosen Raums mit nackten Steinwänden. Alle scharten sich um den Weisen Jomera. Auf seinem Gesicht lag ein nachdenklicher Ausdruck, während er sich ruhig anhörte, was die Horde unruhig durcheinander rufender Männer ihm zu sagen versuchte. Erst jetzt ergriff er das Wort, und sofort kehrte absolute Stille ein. Seine Stimme klang alt und ein wenig zittrig, doch sie enthielt eine Würde und Autorität, die die Männer verstummen ließ.

„Bleibt ruhig.“ Falls man sich mehr von dem hageren Alten erhofft hatte, wurde man enttäuscht. Das merkte auch Tringard, doch er wollte nicht locker lassen.

„Bleibt ruhig?“, wiederholte er schnaubend. Seine Stimme bebte. „Wir sind jahrelang ruhig geblieben und haben zugesehen, wie der Fürst über unser Land hergezogen ist! Wir haben jahrelang den Schutztribut zahlen müssen, den er uns aus den Rippen wringt als wären wir nasse Waschlappen! Jahrelang! Bald ist er wieder fällig, und ich frage Euch, was wir dann tun sollen, Jomera. Wir haben keinen Za (einheimische Währung) mehr übrig, und Ihr wisst genauso gut wie wir, dass er das nicht akzeptieren wird. Der Fürst wird ganz Imigenien in Schutt und Asche legen. Wir werden alles verlieren- das wisst ihr genauso gut wie wir- aber Ihr gebietet uns, ruhig zu bleiben?“ Einige der Männer nickten zustimmend und grummelten unverständliche Worte in ihre Bärte. Der Weise sah Tringard durchdringend an. Dann erfüllte die Ehrfurcht gebietende Stimme wieder den Raum.

„Nun, Tringard. Du hast einmal mehr bewiesen, dass du vielleicht heißblütig, aber keineswegs klug bist.“ Tringard blickte beschämt zu Boden und lief rot an. „Einen guten Krieger macht aus, dass er Weisheit und Kraft zu vereinen weiß. Sei es drum, du bist noch sehr jung, und es sei der Jugend verziehen, sich auch einmal im Ton zu vergreifen.“ Er klang nicht unfreundlich, doch es schwang ein merklich tadelnder Unterton in seinen Worten mit.

„Verzeiht mir, Jomera“, sagte Tringard kleinlaut, obwohl er auch ein wenig trotzig dreinblickte. Der Alte ging nicht darauf ein.

„Nein, wenn ich sage, bleibt ruhig, meine ich selbstverständlich nicht, dass ihr tatenlos zuschauen sollt, wie der Fürst von Dragon unser Imigenien in Kummer und Armut versenkt.“

„Sondern?“, fragte Kigror, Statthalter von Imigenien, der Hauptstadt des Landes Ankorila. Er blickte von seinem Sohn Tringard zu dem Weisen, der nun mit außergewöhnlich gradem Rücken vor den Männern auf- und abschritt.

„Ich meine damit, dass der, der eine Lösung sucht, die Antwort nur finden kann, wenn er auf sich selbst hört.“ Die Männer schauten sich verwirrt an, als habe Jomera plötzlich eine fremde Sprache gesprochen.

„Aber, verzeiht Herr“, sagte Simlon, der Kleinste und Jüngste der Gruppe, offensichtlich nervös. Sein weiches, jungenhaftes Gesicht färbte sich in ein aufgeregtes Rot unter dem dunkelblonden mittellangen Haar, von dem ihm eine dünne Strähne in die Stirn fiel. In seinen runden, schimmernden Augen standen Unschuld und Erfahrungslosigkeit geschrieben, aber nichts von der Engstirnigkeit und Furcht vor Veränderung, die alle anderen Anwesenden mit sich trugen. Es war nicht unbedingt Abenteuerlust, aber die Begierde nach Wissen über alle Facetten des Lebens, der Wille die Welt zu sehen, wenn sich nur jemanden erübrigte, sie ihm zu zeigen. „Ich verstehe nicht. Was meint Ihr mit 'auf sich selbst hören'?"

„Schweig, Simlon“, fuhr Kigror ihn an, „du bist nicht befugt das Wort an…“ Doch der Weise ließ ihn mit einer weiteren Geste verstummen und betrachtet den Jungen vor sich genauer. Er wirkte ganz aufgeregt und sein leicht schräger Mund zuckte unwillkürlich. Jomera lächelte geduldig, und seine gütigen Augen leuchteten in einem fantastischen Azurblau über die habichtartige Nase hinweg.

„Es ist ganz einfach, Simlon. In Ruhe liegt Kraft. Wer sich selbst kennt, kann sie finden." Ohne dass irgendjemand richtig folgen konnte, fuhr er fort. „Ich hätte euch nicht ohne Grund aus der Stadt zu mir gebeten. Ich weiß ganz genau, was es zu tun gilt.“

„Könnt Ihr uns dann an Euren Plänen teilhaben lassen, Weiser?“, fragte Kigror vorsichtig. Der Alte schüttelte ruckartig den Kopf.

„Nein, heute wollte ich mich nur davon überzeugen, dass meine Vermutungen zutreffen.“ Er ließ offen, ob dies geschehen war. „Ich denke, in drei Tagen werde ich mir zurecht gelegt haben, wie es weitergehen soll. Doch das kann ich nur alleine und in äußerster Ruhe, deshalb bitte ich euch nun zu gehen.“ Verwundert öffnete Kigror den Mund, und auch Tringard schien sich nicht damit abfinden zu wollen.

„Geduld, Kigror, sie schadet dir nicht. Schon bald wird die Macht des Fürsten auf die Probe gestellt werden. Geht nun, und vergesst nicht, euch Zeit zu nehmen, einmal auf euch selbst zu hören. Vielleicht findet einer von euch die Antwort ja dann selbst.“

Eine dürre Frau stand über einem kleinen Feuer und rührte in einem Suppenkessel, aus dem ein wohlriechender Duft strömte, als Simlon aufgeregt die kleine Hütte betrat. Verwirrt schaute sie auf.

„Simlon, du bist schon zurück?“, fragte sie und schob sich ihr buschiges, zerzaustes schwarzes Haar aus dem Gesicht, das sehr hübsch sein musste, wenn man die Armut davon abwaschen würde. Simlon setzte sich an den robusten Holztisch und schnaufte durch.

Die Hütte bestand aus einem einzigen, kargen Raum: Neben dem Holztisch machten zwei Betten, ein rostiger Ofen und die glühende Feuerstelle das gesamte Inventar aus. Damit war der spärliche Platz auch fast vollkommen ausgefüllt. Die Hütte selbst war erbaut aus einer Mischung aus unbehauenem Stein und morschem Holz, und der Schnee und die Kälte, die die eisige Winternacht mit sich brachte, kroch schleichend durch kleine Ritzen in den Wänden.

Die Frau trug den Suppenkessel unter einiger Anstrengung zum Tisch hinüber und stellte ihn vor Simlon ab.

„Was ist das?“, fragte er geistesabwesend.

„Eintopf“, sagte die Frau kurzatmig und setzte sich auf den zweiten von drei alten Stühlen, der trotz ihres Fliegengewichts zu knarren begann. Sie füllte einen Teller mit einer grünlichen Pampe aus Bohnen, Lauch und anderem Gemüse, dessen Duft Simlon nicht zu deuten wusste.

„Danke, Mutter“, sagte Simlon knapp und nahm den Holzlöffel in den Mund. Während er aß, herrschte Stille in der Hütte, nur die unregelmäßigen Windzüge sangen eine schräge Melodie. Erst als Simlon fertig war, begann seine Mutter zu reden.

„Und wie ist es gelaufen? Der Weise lädt die Krieger Imigeniens nur so selten in seine Burg ein, und du bist gerade einmal fünfzehn.“ Simlon fand, dass sie ein wenig ungesund aussah und ihre Stimme war während seiner Abwesenheit noch heiserer geworden. Er schwieg. „War es aufregend, so ganz alleine mit den Erwachsenen? Ich weiß noch, wie sehr sich dein Vater immer auf die Treffen mit Jomera gefreut hat. Dieses stolze Leuchten...ich kann mich bis heute daran erinnern." In ihrer Stimme lag ein leichtes Zittern.

„Hast du dir sehr große Sorgen um mich gemacht?“ Simlons Frage schien sie völlig unvorbereitet zu treffen und ihr enthusiastisches Lächeln fiel enttarnt in sich zusammen. Sie zögerte einen Moment, doch dann kicherte sie in einer untypisch hohen Stimmlage.

„Nein, natürlich nicht. Wie kommst du darauf?“

„Du weißt schon“, sagte Simlon vorsichtig, „weil er damals nicht zurückgekehrt ist.“

„Das mit deinem Vater war ein Unfall. Ein tragischer Unfall. Und überleg dir nur, wie stolz er heute auf dich wäre. Du musst ihnen wirklich etwas bedeuten, wenn sie dich schon so früh mitnehmen.“ Sie stand abrupt auf, und der Stuhl scharrte über den Boden. Simlon dachte für einen Moment an seinen Vater. Als er drei Jahre alt gewesen war, war er auf dem Weg von der Stadt zur Burg des Weisen von einem Schneesturm überrascht und nie gefunden worden. Simlon besuchte sein leeres Grab auf dem weißen Friedhof gemeinsam mit seiner Mutter einmal die Woche.

„Ich bin ja wieder da“, sagte er tonlos und blickte prüfend auf den Rücken seiner Mutter, während sie den Suppentopf in eine Ecke räumte. Er sah ihre spitzen Schulterblätter durch den dünnen Stoff ihres Oberteils arbeiten, als sie das Feuer löschte.

„Ich lege mich hin“, entschied sie, „und das solltest du auch tun.“

„Willst du nicht wissen, was der Weise gesagt hat?“, fragte er sie verwundert, während sie nun auch die Kerzen auspustete, die auf dem Tisch brannten.

„Erzähl es mir morgen, ja?“, sagte sie und schenkte ihm ein so liebevolles Lächeln, wie nur sie es konnte. Dann legte sie sich in ihr hartes Bett, hustete erst für einige Minuten und dann war nur noch ihr gleichmäßiger schnaubender Atem zu vernehmen.

Auch Simlon war müde, der Tag war sehr lang gewesen, immerhin dauerte der Weg von Imigenien bis zum Schloss des Weisen an die drei Stunden, und der Rückweg war noch mal genauso lang. Aber er war zu aufgewühlt um zu schlafen. Was würde der Weise ihnen verkünden? Simlon hatte das Gefühl, der kalte Wind würde ins Innere dringen, denn plötzlich hatte er eine Gänsehaut.

Eisige Kälte riss Simlon aus einem unruhigen Schlaf. Er war auf dem Tisch eingeschlafen, und als er den Kopf aus den Armen hob, erblickte er Tringard, der mit missbilligendem Blick in der offenen Tür stand. Neben ihm stand Kigror, die beiden sahen sich so ähnlich, dass sie Zwillinge hätten sein können, wenn in Kigrors Gesicht nicht einige feine Falten zu sehen und sein Haar nicht etwas schütterer gewesen wäre. Sie sahen ohne Zweifel deutlich gepflegter als die Mehrheit der Bevölkerung aus. Hastig erhob sich Simlon aus seiner unwürdigen Haltung, wischte sich grob einen Speichelfaden aus dem Gesicht und verbeugte sich tief.

„Guten Morgen, Herr!“ Er sah, dass Tringard überheblich den Kopf schüttelte, und Wut überkam ihn. Er konnte diesen Kerl nicht ausstehen.

Kigror nickte ungeduldig. „Der Weise hat am Morgen Kontakt zu mir aufgenommen und mir verkündet, dass er uns schon heute wieder auf der Burg erwartet. Dieselben Männer. Dich eingeschlossen. Also, mach dich bereit, wir treffen uns in einer halben Stunde hinterm Südtor“, sagte er ohne jede Herzlichkeit, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand.

„Bist du dir sicher, dass du die da allein lassen kannst?“, sagte Tringard und nickte abfällig zu dem Bett, in dem Simlons Mutter schlief, „Sieht krank aus.“ Simlon machte einen Schritt zur Seite vor das Bett seiner Mutter.

„Sie wird bestimmt zurecht kommen“, sagte er, bemüht nicht unfreundlich zu klingen. Er hatte genug davon, dass Tringard ihn schikanierte, doch er wusste auch, dass er es sich nicht erlauben konnte, respektlos zu sein, immerhin war Tringard zwei Jahre älter als er und der Sohn des Statthalters.

„Das wage ich zu bezweifeln, sie sieht aus als würde sie sich mit den Hunden das Essen teilen. Und um ehrlich zu sein, weiß sowieso niemand, warum wir dich überhaupt mitnehmen. Es wäre für alle das Beste, wenn du zu Hause bleiben würdest.“

 

„Das würde ich tun, wenn Euer Vater es mir gebietet“, entgegnete Simlon ruhig. Er musste sehr darauf bedacht sein, was er sagte, denn ihm war klar, dass Tringard nur nach einem Grund suchte, ihn da zu lassen. Den Gefallen werde ich ihm nicht tun, sagte er sich entschlossen. Tringard schien verstimmt, aber gab nicht nach.

„Mein Vater hat auch keinen Schimmer, aber Jomera will es so. Er muss senil geworden sein, unser Weiser, schließlich bist du nicht mal dazu in der Lage, durch Magie Wasser zu erhitzen.“ Im selben Moment entflammte eine kleine Stichflamme unter der Feuerstelle und die darüber baumelnde Teekanne begann schwach zu summen.

„Vielleicht habt Ihr Recht“, entgegnete Simlon und schaute ihm direkt in die Augen. Tringard schien irritiert, doch er entschied offenbar, dass es Zufall gewesen sein musste.

„Respekt! Als Hausfrau wärst du sogar eine Bereicherung für diese Welt. Ich muss los, aber du kannst mir später gerne noch ein paar Tricks zeigen.“

„Es wäre mir eine Ehre“, sagte Simlon. Tringards Umhang flog durch die Luft, und er stapfte seinem Vater hinterher, ohne die Tür zu schließen. Simlon ließ die Schultern sinken und atmete aus. Normalerweise war er nicht besonders schlagfertig, man konnte ihn gar als konfliktscheu bezeichnet. Er war ein stiller Junge, manch einer mochte seinen Charakter gar als unterwürfig oder demütig ansehen, aber Simlon selbst sah das anders. Er trug lieber stumme Verantwortung, und handelte lieber als zu sprechen. Obwohl er sich oft wünschte, ein wenig mutiger zu sein und mehr für sich einzustehen, so hatte er doch meistens das Gefühl sich auf sich selbst verlassen zu können. So wie dieses Mal: Er hatte einen Sieg errungen. Sehr zufrieden mit sich drehte er sich um und bemerkte, dass seine Mutter ihn mit denselben klaren blauen Augen anstarrte, die er selbst auch hatte. Sie hustete kurz und lächelte.

„Dem hast du es richtig gezeigt!“, sagte sie stolz. Ihre Heiserkeit schien über Nacht besser geworden zu sein.

„Das ist kein Wettbewerb, Mutter“, entgegnete Simlon verlegen.

„Stell dein Licht nicht immer unter den Scheffel. Du bist ein einzigartiger Junge, Simlon, mit einem aufgeweckten Geist und über dein Können brauchen wir nicht zu diskutieren. Das kann man von diesem verzogenen Tringard nicht sagen. Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein würde dir nicht schaden, Junge.“

„Ich weiß“, sagte er knapp, denn er wollte es nicht schon wieder hören. Diese Art von Konversation führten die beiden häufig.

„Was für ein verzogener Schnösel. Und Kigror merkt nicht einmal, wie schlecht sein Sohn sich gegenüber seinen Untergebenen benimmt. Nicht zu glauben.“

„Mutter…“

„Es ist doch so! Ich bin mir sicher, dass du bei Weitem mehr Talent hast als er.“ Simlon wollte ihr nicht widersprechen, obwohl das dann wohl doch ein bisschen weit ging. Dennoch tat es gut, es zu hören.

„Nun, geh aber“, drängte seine Mutter ihn.

„Was? Oh…jaah, klar.“ Er schritt zur Tür.

„Warte, Simlon!“, stoppte sie ihn noch einmal. Als er sie ansah, stellte er überrascht fest, dass sie besorgt wirkte. Lag es daran, dass sie gerade erst aufgewacht war, oder an ihrem Husten? Warum sonst wirkten ihre Augen so…feucht?

„Was ist denn los?“, fragte er unsicher, doch als habe man sie ertappt, begann sie breit zu lächeln. „Es ist nichts. Geh nur.“ Sie machte eine scheuchende Handbewegung.

„Ich erzähle dir später, wie es war“, sagte er mit flauem Gefühl im Magen.

„Natürlich tust du das. Ich sehe dich heute Abend.“ Er nickte und eilte hinaus. Für eine Sekunde heulte der Wind durch die offene Tür hinein, doch dann war es still. Und sie konnte endlich weinen. Sie wusste, dass er heute Abend nicht zurückkehren würde, und wenn sie tief in sich hinein hörte, war sie sich nicht einmal sicher, ob das eben nicht vielleicht sogar das letzte Mal gewesen sein sollte, dass sie ihrem Sohn in die Augen geblickt hatte. Ein Hustenanfall befiel sie.

Simlon spurtete die Straße hinab. Der Schnee auf dem holprigen Steinweg knirschte laut unter seinen Schuhen. Der Weg war nur gut zwei Meter breit, und zu beiden Seiten standen armselige, heruntergekommene Hütten aus Holz, die unter der Last des Schnees beinahe zusammen zu brechen schienen. Jeder Fremde hätte diese Straße für eine unwichtige Gasse gehalten, doch in Wahrheit war sie eine der größten in der linken Hälfte der Stadt Imigenien. Früher, hatte man Simlon erzählt, hatte es hier anders ausgesehen. Die Straße war in einem guten Zustand gewesen und hatte ein beliebtes Ziel für Reisende und Fremde dargestellt, doch davon war nicht viel übrig geblieben. Die Hütten verloren mehr und mehr an Glanz, und niemand war auf der Straße unterwegs.

Imigenien war in zwei Hälften geteilt: Die West- und die Osthälfte. Dies hier war die Westhälfte, die Seite der höher gestellten Einwohner. Doch von diesem Vorzug war nichts mehr zu spüren. Niemand, der hier wohnte, war noch wohlhabend, in den Zustand der Häuser war schon lange nichts mehr investiert worden, und die einst schillernde Handelsstadt war verkommen. Nur im Vergleich zur Osthälfte konnte man noch einen Unterschied erkennen. Dort regierte die Armut die Straßen wie ein unbarmherziger Tyrann. Die Stadt war sichtlich am Ende. Vor langer Zeit hatte es, nach Erzählungen der Alten, in der Armenhälfte noch deutlich besser ausgesehen als in der heutigen Westhälfte. Doch seit der Fürst von Dragon an der Macht war und seine Untertanen brutal unterdrückte und ausnahm, war Imigenien ein trostloser Ort geworden, sämtlicher Schönheit beraubt.

Simlon rieb sich die kalten Hände und hauchte sie mit seinem warmen Atem an. Er mochte die Stadt, sie war seine Heimat, und er kannte nichts anderes. Zwar erzählte man sich von der Pracht und dem Glanz anderer Orte in Nirada, doch Simlon hatte die Stadt nie verlassen. Er fühlte sich wohl hier, gerade seit er vor zehn Jahren aus der Ost- in die Westhälfte gezogen war. Kigror persönlich war damals gekommen und hatte ihm und seiner Mutter verkündet, eine Hütte sei frei geworden, und sie könnten sie jetzt bewohnen. Simlon wusste nicht, wieso er das getan hatte, aber es kümmerte ihn auch nicht. Das Leben war seitdem um einiges einfacher, und obwohl sie eine Menge Sorgen und Nöte hatten, war es nicht mehr so, dass jeder Tag ein Kampf ums Überleben war. Seine Mutter und sein Vater hatten früher immer in der Westhälfte gelebt, doch als sein Vater gestorben war, hatten sie umziehen müssen. Sein Vater…in Momenten wie solchen bedauerte es Simlon zutiefst, ihn nie kennen gelernt zu haben. Niemand wusste genau, was damals geschehen war. Manchmal gab er sich der aberwitzigen Fantasie hin, er könne noch leben, aber man hatte seine zurückgelassenen Sachen und eine Blutspur in den Bergen gefunden. Doch auch sonst war es unwahrscheinlich, dass er nie wieder nach Hause zurückgekehrt wäre, wenn er es irgendwie gekonnt hätte. Seine Mutter sprach nur in den höchsten Tönen von ihm. Es gab überhaupt keinen Grund dafür, warum er einfach verschwunden sein sollte. Ein Schauer, der nichts mit der Kälte zu tun hatte, kroch über Simlons Rücken, und er beschleunigte seinen Schritt.

Die Straße senkte sich nun ein wenig, und er konnte in der Ferne zwischen den tief liegenden Dächern der Hütten das Südtor erkennen, das die unnatürlich verwinkelte Stadt so wie die anderen drei nach den Himmelsrichtungen benannten Tore vor unerwünschten Eindringlingen schützte. Dort hinaus war er gestern zum ersten Mal in Begleitung der anderen Männer gegangen. Seine Mutter hatte ihn immer davor gewarnt: Hinter diesem Tor lag das Yurza-Moor, das größte und undurchdringlichste Moor ganz Niradas. Sich darin zu verirren, bedeutete den Tod zu finden, und selbst wenn man sich auskannte, konnte man im suppendichten Nebel leicht die Orientierung verlieren. Ein Feuer konnte er mittlerweile durch Magie entzünden, sodass er die Stadt nicht all zu oft zur Suche nach geeignetem Feuerholz verlassen musste.

Seine Mutter konnte das nicht, denn sie war nicht zauberkundig. In Imigenien war Magie eine Seltenheit, und wenn jemand sie beherrschte, dann nicht besonders ausgeprägt. Überhaupt gab es nur wenige Stämme, die über magische Kräfte verfügten. Die Mächtigsten von ihnen waren mit Sicherheit die Elfen, die sich in ihr Königreich im Süden zurückgezogen hatten und die Einflüsse aus Dragon so gering wie möglich zu halten versuchten, auch wenn sie dabei zunehmend in Bedrängnis gerieten. Einst hatte ein anderes Volk Nirada regiert - bevor der Fürst von Dragon die Macht übernahm - doch Simlon wusste nicht genau, was es damit auf sich hatte, schließlich war Dragon schon seit fünfzig Jahren an der Macht.

Als er endlich das große, aber morsch wirkende Südtor erreichte, fiel sein Blick auf das gewaltige Moor, das geheimnisvoll unter einer Nebeldecke verborgen lag. Die Sonne prallte auf die weiße Wand und beleuchtete sie auf magische Weise.

Hastig eilte er den Steilhang hinter dem Südtor hinab. Die Straße war so zugeschneit, dass es eigentlich keinen Unterschied machte, ob er auf ihr oder neben ihr ging. Also kraxelte er auf direktem Wege hinab, rutschte die glatten Eisplatten hinunter und hielt sich dabei an den ersten Sträuchern fest, die wie neugierige Forscher aus ihrem Schneeversteck hervor lugten. Am Fuße des Hanges angekommen, erblickte er sieben Männer, die mit wehenden Umhängen offenbar ungeduldig warteten.

„Verzeiht, Herr“, schnaufte Simlon laut, als er Kigrors harte Mimik sah. Er war erzogen, immer höflich und respektvoll zu sein. Doch dieses Mal half ihm das nichts.

„Was hat dich so lange aufgehalten?“, fragte der Statthalter barsch, schien jedoch keine Antwort hören zu wollen, denn er wandte sich rasch ab. “Nun los, wir wollen nicht noch mehr Zeit verlieren.“ Tringard grinste höhnisch, und für ein Sekunde hatte Simlon das Bedürfnis, ihm seine Faust in den Mund zu stecken, dann besann er sich, und folgte den im Schnee vorneweg stapfenden Männern. Er ärgerte sich, dass ausgerechnet er als Letzter hatte kommen müssen. Das machte keinen guten Eindruck.

Leoror, der Dorfschmied, ließ sich zurückfallen und ging nun auf einer Höhe mit Simlon.

„ Alles in Ordnung, Junge?“, fragte er auf seine schroffe Art. Simlon nickte.

„Ich ärgere mich nur ein bisschen.“

„Das tun wir doch alle, wenn wir Kigror zuhören müssen“, lachte Leoror heiser, und klopfte Simlon so hart auf die Schulter, dass er beinahe im Schnee versank. Die beiden waren sich schon oft begegnet. Einmal hatte Leoror Simlon sogar an den See mitgenommen, wo sie gemeinsam geangelt hatten. Er mochte den Schmied und seine grob-herzliche Art.