Die Majorin

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Die Majorin schläft unruhig in dieser Nacht. Der Mond zieht an ihren Fenstern vorbei und legt zwei lange weiße Laken auf den Teppich. Sie bewegen sich lautlos, dicht nebeneinander, heben sich auf ihr Bett, gleiten die Wand empor, werden kleiner und sind dann fort. Aber sie tauchen bis in die Träume der Majorin und hängen dort über wirren und bösen Dingen, die immer von vorn beginnen und nie zu Ende sind.

Einmal glaubt sie zu hören, daß ein Fenster klirrt, aber sie kann nicht erwachen, obwohl sie leise stöhnt in der Mühe, es zu tun. Und dann wird eine Sense gedengelt, weit drüben im Feld. Das Eisen klingt hell unter dem Hammerschlag, und der Klang geht weit hinaus aus dem Mittelpunkt der Welt, als der er erscheint in der großen Stille der Nacht.

Merkwürdig, denkt die Majorin im Traum. Das Vieh ist noch nicht ausgetrieben auf die Weiden, und schon dengeln sie die Sense, als ob sie mähen wollten …? Und da es ein Ton aus ihrem Leben ist, aus dem Leben der Tagewerke, des Wachseins und der Ordnung, gelingt es ihr, sich freizumachen von ihrem Traum, und sie sitzt aufrecht in ihrem Bett, noch mit klopfendem Herzen von der Mühe des Erwachens, und lauscht. Das Blut strömt zum Herzen, und die ersten Stare pfeifen schon im Park, aber hinter allen Lauten steht klar und eindeutig der helle Ton des Eisens, das unter dem Hammer klingt.

Sie steht auf und schiebt die Vorhänge zur Seite. Es ist schon so hell, daß sie durch die Lichtungen des Parkes die Felder sehen kann und hinter dem großen Roggenschlag den bepflanzten Hügel mit dem Totenmal für die Gefallenen. Es ist eine Aufmerksamkeit des Pastors für sie gewesen, die Wahl dieses Hügels, weil die Durchblicke und Lichtungen des Parkes so laufen, daß sie von ihrem Schlafzimmer den großen, viereckigen Stein sehen kann, und am oberen Rande, für sich allein, steht der Name des Majors als des obersten und vornehmsten Toten. »So ist er ewig bei Ihnen, Frau Majorin«, hatte der Pastor gesagt. »Drei Schritte ans Fenster, und des Unvergeßlichen Bild ist da.« Sie hat ihn von der Seite angesehen, wie es mitunter ihre Art ist, eine unangenehm klare und forschende Art, und hat dann »danke!« gesagt, und der Pastor ist verlegen und dann verletzt gewesen und hat sich bei seiner Frau beklagt. Ohne Erfolg, denn seine Frau hält die Majorin für eine »hochmütige Person« und ihren Mann für einen »charakterlosen Adelsdiener«.

Und nun hört die Majorin, daß der Klang des Eisens von jenem Hügel kommt, und obwohl das Tageslicht noch hinter den Wäldern steht, kann sie erkennen, daß dort ein Mensch am Totenmal beschäftigt ist. Sie läuft in ihr Arbeitszimmer, auf bloßen Füßen, und kommt mit dem Fernglas wieder, noch immer ein wenig verwirrt von Schlaf und Traum, noch ohne Argwohn und nur von einer unruhigen Neugier erfüllt.

Aber dann schreit sie ganz leise unter dem Glas auf. Der Mensch vor dem Totenmal trägt ein braunes Kleid, dessen Ränder in der Linse in vielen Farben schimmern. Er kniet vor dem grauen Stein, und sein rechter Arm schwingt auf und ab. Und bei jeder Bewegung kommt der helle Ton des Eisens zur Majorin herüber, verspätet gegen die Bewegung, weil die Entfernung fast einen Kilometer beträgt. Und es ist unheimlich, daß die Töne noch eine Weile in der Luft stehen, wenn der Mann seine Hand ruhen läßt. So, als ob der Stein von selbst töne.

Ohne zu denken, weiß die Majorin, was der Mann tut. Sofort, wie ein Reflex des Wissens. Sie hat es nie gesehen und niemals daran gedacht, daß jemand einen Namen aus einem Grabstein ausmeißeln könnte, ja, daß jemand seinen eigenen Namen auslöschen könnte von einer solchen Stelle. Ein Lebender, der einen Toten auslöscht. Oder ist es nicht vielmehr ein Toter, der sein Leben zerschlägt? Sie zittert in der Morgenkühle, und in dem Kreis des Glases zittert der Stein und der Mann, der den Meißel in den Stein schlägt.

Ihr nächster Gedanke ist wohl, ob jemand ihn beobachten könnte. Sie sieht schnell nach der Uhr, aber es ist so früh, daß nicht einmal Jonas aufgestanden sein kann. Dann wirft sie einen Mantel über und läuft schnell und lautlos die Treppen hinauf, zu dem viereckigen Turm, von dem man bis über das Moor sehen kann. Die Treppen sind noch dunkel, und in den Spiegeln des Korridors geht ihr Gesicht mit, ein blasses und sehr verstörtes Gesicht. Als sie die Falltür zur Plattform leise zur Seite hebt, ist der Mann gerade fertig. Sie kniet hinter der Brüstung und stützt das Glas auf den kalten Stein. Der Mann steht auf und geht langsam davon. Er tritt weder zurück und betrachtet sein Werk, noch dreht er sich aus der Entfernung um, sondern er geht ruhig den Hügel hinunter, als habe er dort oben in einem Buche gelesen oder den Sonnenaufgang erwartet. Und er geht den schmalen Steig entlang, der zwischen grünen Saaten und taunassen Wiesen zum Waldrand führt. Dort liegt der Hof des Waldbauern, und hinter dem Hof beginnt die Straße, die in die Wälder hineinläuft, nach fremden Dörfern und Städten, immer weiter ins Unbekannte hinein. Wer diese Straße betritt, will nicht mehr wiederkehren. Er hat einen Besuch gemacht, und nun hat er nichts weiter zu suchen hier.

Aber der Fremde geht über die Straße hinweg bis in den kleinen Obstgarten am Südhang. Dort steht eine Bank unter einem wilden Birnbaum, und dort sitzt er und blickt auf das Haus … Die Sonne steigt über den Rand des Feldes zu seiner Rechten, und der Wipfel des Birnbaumes und das Rot des Dachfirstes färben sich über der grauen Erde. Die Lerchen heben sich über allen Feldern, die Hähne krähen im Dorf, und unter dem wachsenden und immer klarer leuchtenden Blau des Himmels beginnt der neue Tag.

Da steigt die Majorin die Treppen wieder hinunter, langsam und sehr nachdenklich. Sie weiß nun, wer der Fremde ist. Auch die Erinnerung kommt nun leichter wieder. Und daß sie ihr Pferd einmal angehalten hat, vor Michael und Jonas, an der Schafweide, und gesagt hat, Weidenflöten, die man klopfe, müsse man aufs Knie legen und nicht auf einen Stein.

Aber es hilft ihr nichts, daß sie sich erinnert. Alle drei Söhne hat der Waldbauer verloren. Sein Haar ist grau, und es wird nicht wieder schwarz werden, wenn nun einer der Toten wiederkehrt. Aber vielleicht wird es weiß werden, wenn der Tote sich umsieht, in den Stuben und auf den Feldern und nach dem Grab der Mutter fragt und dann nichts mehr zu fragen hat, nicht einmal nach dem Weg. Weil alle Wege ihm gleich recht sind, die von dem grauen Hof fortführen, um die Abendzeit, wenn die Brachvögel zu rufen beginnen.

Und nun weint die Majorin wirklich, auf dem Bettrand sitzend, die Hände zwischen den Knien, mit einem ganz stillen Gesicht. Es ist möglich, daß sie um den Fremden weint oder um das, was dem Vater nun geschehen wird. Aber es ist auch möglich, daß sie um ihren Sohn weint, der fliederfarbene Handschuhe trägt, wenn er aus dem Wagen steigt. Am wahrscheinlichsten aber ist, daß sie um die Menschen weint. Daß sie wie Vögel sind, die über den Garten ziehen, hoch im Abendlicht, anzuschauen und zu hören, aber nicht zu halten, auch nicht mit erhobenen Händen. Und daß es nichts helfe, sich ein Leben der Arbeit und der Zufriedenheit zurechtzumachen, wenn der Mensch imstande ist, sich plötzlich aufzuheben aus diesem Leben, wie ein Vogel, über den Garten hinweg, ohne Abschied und Gruß.

Es ist seltsam zu sehen, wie die Majorin weint. Wie ein Mensch, der es verlernt hat. Ganz still, wie ein Holz, aus dessen Rinde es tropft. Die Majorin hat zu reiten gehabt und zu rechnen, bei den Gespannen zu halten und einen widerspenstigen Knecht vom Hof zu bringen. Sie hat keine Zeit zum Weinen gehabt und auch keine Erlaubnis. Wenn hundert Augen auf einen Menschen blicken, darf er wohl die Lippen zusammenpressen, aber nicht weinen. Auch nicht, wenn ein Holzsarg aus Frankreich in die Erde gleitet und die Menschen es erwarten. Auch nicht, wenn ein Hofmädchen weinend vor dem Stuhl der Majorin kniet und ein junger Mann mit fliederfarbenen Handschuhen die Achseln zuckt und einen Schlager zu pfeifen beginnt. Auch im Kriege wird nicht geweint, und eine Frau von vierzig Jahren, die für fünftausend Morgen Feld und Wald zu sorgen hat und für Mensch und Tier, die darauf leben, ist eben im Kriege.

Aber da ertönt die Gutsglocke, hell und laut, und die Majorin steht auf. Sie schüttelt zornig den Kopf, denn sie will noch nicht alt sein. Und nur alte Frauen sitzen weinend auf dem Bettrand, wenn ein neuer Tag beginnt. Und als Lena das Frühstück bringt, ohne Korallenkette, sitzt die Majorin ruhig am Tisch, sieht ihr mit strengen Augen entgegen und erinnert sie daran, daß ihr Schürzenband wieder ein paar Nadelstiche vertrage. Und außerdem sei das Gastzimmer aufzuräumen, weil Michael Fahrenholz gegangen sei, um seinen Vater zu begrüßen.

Und Lena, auf dem Wege zur Küche, denkt, daß die Frau Majorin eine unheimliche Frau sei, viel klüger als der Herr Pfarrer, fast so klug wie der liebe Gott.

Indessen sitzt Michael auf der Bank unter dem Birnbaum und raucht. Rauchen ist immer gut, im Kerker wie in der Freiheit, am Rande der Wüste wie am Rande des Moores. Es ist gut, den blauen Wolken nachzusehen, wie der leise Wind sie empfängt und verändert und dahinträgt. Ein Gebilde ohne Schwere, flüchtig und frei. Und jetzt, um diese Stunde, ist es besonders gut. Ein schlechter Schlaf, eine sinnlose Arbeit dort auf dem Hügel und nun die flüchtige Wiederkehr. »Ja, ich bin es, nicht tot, sondern lebendig … ich gehe wieder fort, ich kann hier nicht sein … ich will keinen Hof und kein Dach und keine Ordnung … denn da sind Menschen, und ich will keine Menschen … allein will ich sein, ganz allein …« Und der Vater wird nicken, still und fast demütig, so wie früher, und die Erde von den Stiefeln kratzen, als ob er sehr beschäftigt sei. »Ja, Michael, so ist es ja nun … aber ein Stück Brot, das könntest du wohl essen mit mir, nicht wahr?« Und danach wird er gehen, in die Wälder, wo die stillen Bäume stehen, das grüne Moos, die Lichtungen mit jungem Gras, und wo das große Schweigen ist, die Stummheit ohne Ende.

 

Die Majorin? Ach Gott, er ist nicht ihr Sohn. Weder ihr Geliebter noch ihr Sohn. Das sind so Witwenlaunen, zu helfen und zu streicheln, und wenn die Sonne scheint, ist es vorbei. Er hat keine gute Erinnerung an Majore, er hat überhaupt keine guten Erinnerungen. Zum Teufel mit ihnen!

Nun ist das ganze Dach schon rot, und die Ketten klirren im Stall. Zeit für den alten Mann, aufzustehen. Aber er wird müde sein. Die Frau und drei Söhne ist viel, auch für einen Bauern viel. Es hilft nichts, daß einer zu Besuch gekommen ist und auf der alten Bank sitzt. Besuche helfen niemals viel, machen die Stuben nur leerer, wenn sie wieder fort sind. Aber wer totgesagt ist, muß sich zeigen, damit er keine Kränze bekommt, die ihm nicht zustehen. Und keine Inschrift auf einem Stein, die ihm nicht zusteht. Auch der Tod darf nicht betrogen werden.

Jonas … ja … wie groß er geworden ist … groß und wunderlich. Ein guter Kamerad, bei Schafen und Flöten. Dürfte nicht Reitknecht sein. Müßte im Moor sitzen und Torf stechen. Vielleicht, daß er einmal seinen Bruder fände, braun und still, aufrecht zwischen verwesten Pflanzen. Würde ihn nicht mehr rufen hören um die Eulenstunde. Nur die Ruhelosen rufen, aber vom Friedhof ruft es nicht mehr …

Noch immer das Starennest im Kirschbaum. Ob es noch dieselben sind? Weiß nicht, wie alt Stare werden. Vielleicht hundert Jahre. Bleiben immer glänzend und schwarz, werden nicht grau … Eine einzige Strähne an der linken Schläfe der Majorin, an der Herzseite … sieht seltsam aus … wie der kleine Korporal in der Wüste, der die Peitsche hatte … fanden ihn mit einem Loch in der Schläfe, unter der grauen Strähne … aber es war ein anderes Kaliber als das seiner Dienstpistole … Ja, auch Korporale sind nicht unsterblich …

Er sieht auf seine braunen Hände, schließt und öffnet sie nacheinander. Viel Böses an solchen Händen. Erde, Schweiß, Blut. Lauter gute Dinge. Gut im Augenblick, aber nicht immer gut in der Erinnerung. Haben das Brot gebrochen bei der Majorin, und sie hat zugesehen. Ist nicht immer gut für eine Frau, auf die Hände eines Mannes zu sehen, der im Kriege war. Handschuhe tragen nur die Stabsoffiziere, vom Major aufwärts. Die andern legen sie bald ab. Unbequem zu bestimmten Dingen …

Nun hat es sich gerührt im Hause. Ein müder Schritt. Zwei Schritte. Eine Magd wahrscheinlich. Vielleicht auch eine Stiefmutter … Ein schwerer Augenblick für den alten Mann, wenn der Sohn aus dem Grabe steigt. Braun und gesund ohne Leichenhemd … Weshalb ist er gekommen? Ja, weshalb? Hat es gerufen wie des Jonas kleiner Bruder, der nicht mehr aufrecht stehen will, sondern liegen, wie es sich für ihn gebührt? Oder ist es nur, weil er nicht beides zugleich sein will, lebendig und tot? Weil am Leben allein genug zu tragen ist?

Er weiß es nicht, die Tür geht auf, und einen Augenblick lang ist es ihm, als sei es deswegen gewesen: dies zu sehen, wie die graue Tür sich öffnet und im dunklen Raum der Vater steht und in die Sonne sieht. Ein hoher, gebeugter Mann mit grauem Haar, der nun die Hände faltet, weil er die Bank erblickt. Er schwankt nicht, er schreit auch nicht. Er steht auf der Schwelle und faltet die Hände. Vielleicht hat er viele solche Gesichte gehabt und weiß, daß es keinen Zweck hat, etwas anderes zu tun, als die Hände zu falten.

Weil alles wieder vergeht, was dort in die betrügerische Luft sich zeichnet: Gesicht und Gestalt, Farbe und Form.

Und auch wenn dies Vergängliche sich aufhebt von der Bank und durch das Gras herunterkommt, und wenn selbst der Gang der gleiche ist, etwas unregelmäßig und stockend, immer wieder auf dem Sprunge, so werden wohl auch die früheren Gesichte das gehabt haben, und es wird wohl daher kommen, daß man alles so tief bewahrt hat in der stillen Brust, und daß die Jahre lang und einsam sind, und viele Tage in Nebel und viele Nächte ohne Schlaf in der leeren Stube, die der Tod versiegelt hat, viermal hintereinander.

Aber dann muß er es wohl glauben, als die Stimme spricht, daß er da sei, aus der Gefangenschaft zurück und, ja, zu einem kurzen Besuch. Kein Wunder, daß der alte Mann nun zittert. Auch Bäume können zittern, auch Häuser, selbst die Erde, wenn der Mensch sie aufwühlt in der Schlacht. Aber es geht Michael doch nahe, als er es sieht. Der Vater ist kein Baum. Etwas Besonderes ist ein Vater, anders als alle anderen Menschen. Wenn der Korporal geweint hat damals, nun gut, er hat die Peitsche gehabt … recht so! Erde auf seine Tränen. Und wenn die Majorin weinen sollte … werden wieder trocknen, ihre Tränen … eine Majorin hat viele Dinge zum Trösten, nicht nur ein Taschentuch mit einer Krone. Aber der Vater, das ist nicht gut. Ist wie eine Kette um die Füße, und die Füße müssen frei sein. Sind wundgescheuert genug, vor langer Zeit.

»Michael …«, sagt der Vater und streift den braunen Rock mit den Fingerspitzen. »Michael ist tot, sie haben ihn liegen sehen mit offenen Augen … sein Name steht auf dem Stein … was soll ich tun, daß du die Ruhe findest?«

Etwas in der braunen Haut verändert sich bei Michael. Sieh, die Welt kehrt sich um, und man läßt die Toten nicht ein. Vielleicht war es nicht gut, das mit dem Stein auf dem Hügel. Steine soll man nicht schlagen oder versetzen, Grenzsteine nicht und Totensteine auch nicht.

»Ich lag für tot«, sagt er leise, »aber dann fanden sie mich …«

Der Vater nickt. »Auch die andern sind gekommen«, sagt er. »Sie kommen oft und sitzen in der großen Stube auf der Ofenbank. Sie sprechen auch, wie du. Aber dann gehen sie fort, schnell, ohne Tür. So nahe … nein, so nahe ist noch keiner gekommen … Der Jüngste warst du, ein gutes Kind …« Und er hebt wieder die Hand und streichelt den braunen Stoff, so vorsichtig wie einen Schmetterlingsflügel.

Es fröstelt Michael, obwohl die Sonne sie beide bescheint, und er sieht dem Vater lange in die Augen. Freundlich sind sie und ganz ohne Angst, zwei nahe und gute Menschenaugen. Aber auf ihrem Grunde, innerhalb des grauen Kreises, der ihn umgibt, ist etwas verändert, eine leise Starrheit, die manchmal aufflackert und manchmal erlischt. Wie ein Raum, in dem viele Türen gehen und das Licht unruhig machen. Michael kennt solche Augen. Wenn die Sonne über der Wüste sinkt, dann sehen sie gern in das Feuer über den Dünen, und man muß vorsichtig mit ihnen sein, ganz still und behutsam, sonst gibt es Alarm oder Schüsse oder ein Standgericht.

Er lehnt an dem grauen Pfosten und denkt, daß das Herz ihm nun leicht sein müßte. Wenn er dem alten Mann nun zunickte und davonginge, durch den Baumgarten und die kleine Tür in der Buchenhecke und weiter zur Landstraße und auf der Landstraße in die Wälder hinein, dann würde der alte Mann hier stehen bleiben und ihm nachsehen und nicht einmal die Arme heben. Denn sie gingen ja doch alle fort, die andern auch. Sie saßen ein bißchen und sprachen und hörten zu, und wenn sie gesehen hatten, daß alles in Ordnung war, gingen sie eben wieder in ihr Reich. Und der alte Mann faltet die Hände und spricht ein Gebet und dreht sein Gesicht zur Wand oder öffnet die Bibel oder geht zu seinen Pferden.

Ja, das Herz müßte ihm leicht sein, aber das Herz ist so schwer wie ein Stein. Auch für das Herz gibt es unerwartete und unerhörte Dinge, an die es sich gewöhnen muß. Und außerdem ist es schwer zu wissen, wie ein Toter sich benimmt. Schwerer, als bei der Majorin am weißen Tisch zu sitzen. Vielleicht wäre es gut, wenn sie jetzt käme, auf ihrem Rappen und mit ihrer klaren, tiefen Stimme.

Aber statt dessen kommt die Magd, ein gebeugtes Wesen mit einem dunklen Tuch um das graue Haar. »Michael ist gekommen«, sagt der Vater. »Gib uns zu essen, Margarete.«

Die Magd erschrickt und sieht den Fremden an, aber dann macht sie ein leises Zeichen mit der Hand und geht ins Haus zurück. Sie weiß wohl zu unterscheiden zwischen Gästen, die über der Erde, und solchen, die unter der Erde sind.

Das Mahl ist wie vor zwanzig Jahren, still, freundlich, langsam. Die Magd geht ab und zu und wird unruhig, weil sie nicht weiß, wer der Fremde ist und ob er nicht Nutzen ziehen will aus dem stillen Wahn des Bauern. Aber Michael würgt das Brot in der Kehle. Ein Totenmahl ist nicht leicht für einen Lebenden.

Nur der Bauer ist ruhig, von einer stillen Heiterkeit. Gerundet und erfüllt ist nun seine Welt, denn Michael ist noch niemals gekommen. Vielleicht war da ein böses Wort, aus der Vergangenheit, ein Vorwurf, ein unbedachter Tadel. Aber nun ist es vergessen und vergeben. Auch Michael bricht nun von seinem Brot … dunkle Hände, anders als die der Brüder … und ein seltsames Gewand … aber er hört gut zu, wie die Ernte war und die Fruchtbarkeit der Tiere, hat nie viel gesprochen, auch als Kind nicht … ein guter Besuch, früh am Morgen, bevor das Pflügen beginnt …

Mitunter denkt der alte Mann, daß der Tote nun gehen müßte. Niemals noch war einer so lange bei ihm. Aber er kommt mit in den Garten, in die Ställe, zuletzt aufs Feld. Sitzt auf dem Ackerrain, die Pfeife im Mund, die Hände um die Knie, indes der Vater die Furchen wendet, eine nach der anderen, tief, gerade und lang. Die Sonne steigt, die Schatten werden kürzer, die Pferde werden warm, und der Geruch ihrer Haut vermischt sich mit dem Geruch der Erde. Kirchenglocken läuten hinter dem Wald, für einen Toten wahrscheinlich, ein dunkler, ernster Ton, der nichts Böses und nichts Trauriges hat. Der Bauer blickt über die Schulter nach seinem Sohn, aber die Glocken vertreiben ihn nicht. Er sitzt da und sieht über das Land, ein müder Soldat, der das Seinige getan hat. Und der Bauer wendet die Pferde und setzt den Pflug von neuem ein, sorgfältig und tief in den gesegneten Acker, auf dem ein Toter sitzt.

Und so bleibt es bis zum späten Nachmittag. Die Schatten werden wieder länger, und es ist die Zeit, in der man sich aufmacht zum Wandern. Der Wald steht still und warm, beglänzte Stämme unter Nadeln und jungem Laub. Ein Specht ruft, und weiße, runde Wolken stehen über den Wipfeln auf. »Ja, und auch Jonas ist da«, sagt der Vater, als die Furche beendet ist, »bei der Majorin, und hat es gut …« Und er nickt, bevor er den Pflug wieder wendet.

Michael zieht den rechten Fuß unter seinen Körper und dreht sich um. Längst wird er im Walde sein, bevor die neue Furche beendet ist. Dann wird das Bild fort sein, zergangen in der blauen Luft, und drüben, am anderen Ende des Feldes, wird der Vater einen Augenblick stehen bleiben, und dann vor sich hinnicken, und dann die neue Furche beginnen. Ein langer Besuch, aber so viel Zeit haben die Toten wohl nicht, daß sie am Abend noch auf der Bank sitzen können, wenn die Sonne hinter das Moor sinkt. Aber da dreht der Vater sich um und blickt über die Schulter zurück, und Michael bleibt sitzen. Nun ist es zu spät, und man muß warten auf die übernächste Furche, die wieder von ihm fortführt. Und nun kommt der Vater zurück, ihm entgegen, zwischen den beiden nickenden Pferdeköpfen, langsam und sicher wachsend, im gleichen Maße, wie das Rauschen der Pflugschar wächst.

»Ja, und sein kleiner Bruder ist noch nicht gefunden«, sagt der Vater, »und wir hören ihn manchmal rufen, Jonas und ich, um die Abendzeit …«

Und wieder wird der Pflug gewendet, und die Stoppel rauscht, und die Krähen, die aufgeflogen sind, gehen wieder die neue Furche entlang.

Und wieder dreht Michael sich zum Walde und stützt die rechte Hand in das warme Gras, aber wieder wendet sich der Vater um, auf der Mitte des Feldes, und blickt zurück. Aber der Sohn stopft sich ja eine neue Pfeife, und so ist es ihm wohl noch nicht eilig mit dem Abschied, wird noch Zeit haben, bis zum Abend vielleicht, und das Feld segnen bis zur letzten Furche.

Und so findet die Majorin sie, als sie langsam über das Feld geritten kommt. Jede Stunde ist sie auf dem Turm gewesen, und immer ist das Bild das gleiche geblieben. Ein friedliches Bild, aber doch seltsam für einen Mann, der mit den Toten Umgang hat, und für einen anderen, der von den Toten auferstanden ist und doch kein Dach über seinem Leben haben will. Seltsam und ein bißchen unheimlich in seinem Schweigen, und das Herz klopft ihr nun doch, als sie absteigt und zu dem Bauern tritt, um ihm ein gutes Wort zu sagen über sein Glück.

Aber bevor sie es sagen kann, hat der Bauer heimlich die Hand gehoben und auf den Sohn gedeutet, der am anderen Ende des Feldes sitzt. »Michael ist gekommen«, sagt er mit einem stillen Lächeln und so leise, als stände er neben ihm. »Er hat Urlaub, länger als die anderen, denn er kam schon am Morgen … und die Frau Majorin soll sich nicht fürchten … die Toten sind gut …«

 

Zuerst versteht die Majorin nicht, aber dann, als sie versteht, erblaßt auch sie. Auch für sie dreht die Welt sich um, und es ist natürlich, daß ihr gerader Sinn sich dagegen wehrt. Sie ist gewohnt, daß Oben und Unten an ihrem Platz stehen, und sie will, daß die Toten wie die Lebendigen das Ihrige erhalten. »Fahrenholz«, sagt sie ernst, »man darf den Lebenden nicht die Tür verschließen … er lebt, Fahrenholz!«

Aber der Bauer lächelt, und er streichelt sogar vorsichtig ihre Hand. »Die Frau Majorin will mir helfen«, erwidert er, »und ich danke der Frau Majorin. Aber ich habe es nun überstanden. Es ist schön, daß Michael gekommen ist. Er ist sehr still. War immer still, schon als Kind. Aber dafür bleibt er auch länger als die anderen … nein, die Frau Majorin braucht mir nicht zu helfen …«

Es ist alles nah und wirklich: der Bauer mit seinem fast erleuchteten und feierlichen Gesicht, die Pferde mit hängenden Köpfen, die wartenden Krähen, die Sonne auf Pflug und Furchen und dahinter, still und regungslos, die sitzende Gestalt des Heimgekehrten. Ein ganz und gar irdisches Bild, ohne Spuk und Grauen, und die Majorin nickt sogar dem Bauern zu, überzeugt und fast verlegen, wie es scheint, aber als sie ihr Pferd nun über die Stoppel führt, zu dem Mann, vor dem die Tür nicht aufgemacht wird, wollen ihr wieder die Tränen kommen, und sie kann nicht zornig sein wie am Morgen, so verwandelt ist die Welt seit gestern abend. Ein alter Mann, wer soll hineinschreien in ihn, daß der Tod genug an dem Seinigen habe? Ein alter Mann, der zwischen den Toten lächelt, er würde sich fürchten, wenn er sich irrte. Schreien würde er vor Angst, wenn der Tote nicht wahr wäre. An einem Faden hängt seine mühsam gerettete Welt … wer würde es wagen, den Faden zu zerreißen?

Und der Sohn? Was wird der Sohn tun? Was hat er getan in diesen Stunden seit dem Aufgang der Sonne? Hat er sich gewehrt, wie die Scheintoten sich wehren? Oder hat er nur gelächelt, spöttisch und finster, wie es seine Art ist? »Ach, die Frau Majorin …«, wird er sagen, »und wie ist es nun mit der Philosophie der Gefangenen? ›Wenn die Tore sich öffnen, fällt die Tür zu!‹ Sieht die Frau Majorin vielleicht, daß die Philosophie der Gefangenen gar nicht so dumm ist? Eine weit vorausschauende, ja eine prophetische Philosophie? Da wollte nun einer wiederkehren, um ›Guten Tag‹ zu sagen, nur so im Vorübergehen. Aber siehe da, die Tür fiel zu. Nichts da von ›Guten Tag‹, sondern ›Gegrüßt seist du mir von jenseits des Grabes!‹ Weiß die Frau Majorin vielleicht einen Rat? Sie weiß doch, wie man Weidenflöten klopfen muß, damit sie nicht Risse bekommen. Vieles weiß sie, und das meiste besser als andere Menschen. Und hier ist einer, den man nicht aus dem Grabe lassen will. Vielleicht ist die Frau Majorin so gut, den Stein etwas anzuheben …«

Ach, die Majorin hat sehr müde Arme, als der Heimkehrer nun aufsteht und sich vor ihr verbeugt. Sie kann keinen Stein anheben, und sie hat im Augenblick genug zu tun, um aus dem schweigenden Gesicht abzulesen, wie er es aufgenommen habe, Heimkehr und Ausstoßung zu den Toten. Aber davon ist nichts zu lesen. Nichts als die kalte Ruhe eines Menschen, der viel gesehen hat, der wenig will und erwartet und der an das Kommende nicht mehr wendet als eine matte Neugier: etwa was für ein Kleid die Majorin trägt, oder ob die graue Haarsträhne breiter geworden ist in der Nacht, oder ob ihre Augen nun braun oder blau sind, mit denen sie ihn ansieht.

Und weil die Majorin nicht gewohnt ist, daß man in ihrem Gesicht umhergeht wie in einem herrenlosen Feld, nimmt sie die Zügel um den Arm und deutet nach dem Walde. »Wollen wir gehen«, sagt sie, »ich wollte Ihnen etwas zeigen.«

Sie drehen sich nicht um, weil sie nicht wissen wollen, wie der Bauer ihnen nachsieht, und so sprechen sie auch nicht, bis sie auf dem grünen Waldweg sind, der von der Landstraße fort in die Tiefe führt. Aber sobald die stillen Stämme um sie stehen mit dem frühen Harzgeruch und der Wechsel von Licht und Schatten sie überspielt und der Wind nun in der Höhe die Wipfel leise bewegt, scheint der Schritt des Mannes fester und freier zu werden, als erkenne er nun, nach einem Tag des Irrgangs und der nutzlosen Qual, die richtige Straße und als habe er vor, bis zur Nacht noch ein Stück des Versäumten nachzuholen.

Und da auch die Majorin diese seine Wandlung erkennt, fragt sie, früher, als sie gewollt hat, ob er sich das so gedacht habe, am Abend auf dem Moor und in der Frühe, als er sich ausgelöscht habe von den Toten.

Sieh an, denkt er, was für eine gefährliche Frau … Und nun kann er wieder lächeln und auf seine spöttische Art erwidern, daß es also wirklich so geblieben sei, daß die Frau Majorin alles wisse, und daß er es sich nun wirklich und anders gedacht habe. Sie übrigens wahrscheinlich auch.

»Ja«, sagt sie, und es komme nun darauf an, daß man nun aus dem Andersgewordenen auch einen anderen Schritt tue als den zuerst gewollten. Die Schafe dürften sich wohl vor dem gewohnten und plötzlich zugefallenen Tor drängen, aber der Mensch sei eben dazu da, ein neues Tor zu suchen.

Worauf der Mann freundlich fragt, ob er dieses Gleichnis auf sich beziehen solle.

Aber die Majorin schüttelt nur den Kopf und sieht vor sich hin, auf den grünen Weg, auf dem noch welke Blätter des letzten Herbstes liegen. »Kein Mensch kann so zurückkommen«, sagt sie leise, »nicht einmal aus der Hölle, und dann ihm so zusehen, einen Tag lang, ohne daß das Herz ihm weh tut. Kein Mensch kann das …«

»Weiß die Frau Majorin etwas von meinem Herzen?« fragt er böse. »Ich will der Frau Majorin etwas sagen: wenn er erwartet hätte, daß ich bleibe, dann wäre es leicht gewesen, nach einer Stunde zu gehen. Aber nun erwartet er, daß ich gehe … wie die anderen wohl gegangen sind … und nun ist es schwer zu gehen … verstehen Sie das?«

Also sei es leicht, sagt die Majorin nach einer Weile, das Böse zu tun, und schwer, das Gute zu tun?

Ja, ob sie das noch nicht gewußt habe? Die Frau Majorin werde wohl sehr alt werden müssen, um das zu lernen, und man sage ja, daß mancher es nie lerne.

»Der alte Mann, zum Beispiel«, erwiderte sie kurz, »oder Jonas … Ja, es war immer traurig auf der Welt für die Dummen, weil doch soviel Kluge danebenstehen und zusehen …«

Immer stiller wird der Weg. Nun rufen die Vögel schon aus der Tiefe des Waldes, und die Sonnenbänder liegen fast waagrecht im dunklen Geäst.

Noch etwas will die Majorin wissen. Dort auf dem Feld, als der Pflug auf und ab gegangen sei, dieses stillste Gerät der Erde, das er wohl in all den Jahren nicht gesehen habe, habe er da keine Lust verspürt, ihn aus den alten Händen zu nehmen in seine jungen und nach Blut und Schweiß und Haß so etwas wie Segen in ihnen zu spüren? Den Segen eines Geschlechtes, das in die Spuren des Vergangenen trete?

Aber da ist die Majorin wohl zu schnell gewesen, und sie hat wohl nicht bedacht, daß in den Augen eines solchen Mannes alle diese Dinge, Feld und Pflug und Furche, anders aussehen müssen als in ihren eigenen. Sie hat wohl vergessen, daß ihr selbst Saatfeld und Wiese seltsam vorgekommen sind damals, als sie mit dem Holzsarg aus Frankreich gekommen war. Aus einer verbrannten, vergifteten und verwüsteten Erde, einem Grauen ohnegleichen für jemanden, der gewohnt war, die Erde eine Mutter zu nennen. Der gewohnt war, die bloßen Hände in sie hineinzugraben, um Kühle und Wurzeln und Samen unter der Decke zu finden. Und die nun erfahren hatte, daß man statt dessen Blut und Eisen und Tote finden konnte, und nichts als dieses. Sie hat wohl vergessen, daß sie damals bei dem ersten Gespann gestanden und mit Grauen auf die Scholle geblickt hatte, die leise aufstieg aus der dunklen Tiefe. Und daß es lange gedauert hat, sehr lange, bis sie aufgehört hat, der Erde zuzurechnen, woran sie nicht schuldig war.

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