Die Nacht von Lissabon / Ночь в Лиссабоне. Книга для чтения на немецком языке

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Z serii: Moderne Prosa
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Aufgaben zum Text

1) Warum beneideten Schwarz und der Ich-Erzähler die russischen Emigranten?

2) Welchen Eindruck machte auf Schwarz seine Heimat (die Landschaft und die Menschen)?

3) Erzählen Sie über den Vorfall auf dem Bahnhof (mit den Zigaretten).

4) Was fühlte Schwarz, als er im Telefonbuch die veränderte Adresse sah? Warum kam ihm der ganze Irrsinn seines Unternehmens zum Bewusstsein?

5) Was meinen Sie, warum rief Schwarz nicht seine Frau, sondern seinen Freund Martens an?

Texterläuterungen

Nansenpass, auf Anregung von Fridtjof Nansen (norweg. Polarforscher, Zoologe, Ozeanograph und Diplomat) vom Völkerbund geschaffener Ausweis als Passersatz für Staatenlose, zunächst für russische, später auch für andere Flüchtlinge

Retourbillett das, Rückfahrkarte

SS, Abkürzung für Schutzstaffel, nationalsozialistische Gliederung, 1925 aus der SA abgesondert, seit 1929 unter H. Himmler zu einem innenpolitischen und militärischen Kampfverband entwickelt

Mata Hari, eigentlich Margaretha Zelle, niederländische Tänzerin, *1876, †1917; in Paris als deutsche Spionin erschossen

May, Karl, deutscher Erzähler *1842, †1912; schrieb spannende Erzählungen, die meist unter den Indianerstämmen Nordamerikas oder im Vorderen Orient spielen

4

„Das Wartezimmer war leer. Pflanzen mit langen, ledrigen Blättern standen auf einer Etagere am Fenster. Auf dem Tisch lagen Magazine, deren Titelblätter Bonzen des Regimes, Soldaten und eine Abteilung Hitlerjugend beim Marsch zeigten. Dann hörte ich rasche Schritte. Martens stand in der Tür. Er starrte mich an, nahm die Brille ab und blinzelte. Das Licht im Wartezimmer war schwach. Er erkannte mich nicht sofort, wahrscheinlich wegen des Schnurrbartes.

„Ich bin es, Rudolf, sagte ich. „Josef.“

Er hob die Hand, ich solle schweigen. „Wo kommst du her?“ flüsterte er.

Ich hob die Schultern. Wozu war das wichtig? „Ich bin hier“, sagte ich. „Du musst mir helfen.“

Er blickte mich an. Seine kurzsichtigen Augen in dem schwachen Licht wirkten wie die eines Fisches hinter einem dicken Aquariumglas. „Hast du Erlaubnis, hier zu sein?“

„Nur von mir selbst.“

„Wie bist du über die Grenze gekommen?“

„Das ist doch gleichgültig. Ich bin hierhergekommen, um Helen zu sehen.“

Et starrte mich an. „Dazu bist du gekommen?“ „Ja“, sagte ich.

Ich fühlte mich plötzlich ruhig. Ich war es nicht gewesen, solange ich allein war. Jetzt war auf einmal alle Erregung geschwunden, weil ich überlegte, wie ich den überraschten Menschen vor mir beruhigen konnte.

„Dazu?“ fragte er noch einmal.

„Ja, dazu. Und du musst mir helfen.“

„Mein Gott!“ sagte er.

„Ist sie tot?“ fragte ich. „Nein, sie ist nicht tot.“

„Ist sie hier?“

„Ja. Sie war hier. Wenigstens noch vor einer Woche.“

„Können wir hier sprechen?“ fragte ich.

Martens nickte. „Ich habe die Empfangsschwester weggeschickt. Wenn Patienten kommen, kann ich sie auch wegschicken. Ich kann dich nicht in meine Wohnung nehmen. Ich habe geheiratet. Vor zwei Jahren. Du verstehst…“

Ich verstand. Man konnte seit langem im Tausendjährigen Reich* auch seinen Verwandten nicht mehr trauen. Denunziationen* wurden täglich von den Rettern Deutschlands als nationale Tugend herausgeschrien. Ich kannte das selbst. Der Bruder meiner Frau hatte mich denunziert.

„Meine Frau gehört nicht zur Partei,“ sagte Martens hastig. „Aber wir haben nie über einen Fall“ – er bückte mich verwirrt an – „gesprochen wie diesen jetzt hier. Ich weiß nicht genau, wie sie darüber denken würde. Komm hier herein.“

Er öffnete die Tür zu seinem Sprechzimmer und verschloss sie hinter uns. „Lass sie offen“, sagte ich. „Ein verschlossenes Sprechzimmer ist verdächtiger, als wenn man uns sehen würde.“

* * *

Er drehte den Schlüssel zurück und sah mich an. „Josef, um Gottes willen, was machst du hier? Bist du heimlich gekommen?“

„Ja. Und du brauchst mich nicht zu verbergen. Ich wohne in einem Hotel außerhalb der Stadt. Ich bin nur zu dir gekommen, weil ich niemand andern wusste, um Helen zu benachrichtigen, dass ich hier bin. Ich habe seit fünf Jahren nichts von ihr gehört. Ich weiß nicht, was mit ihr geschehen ist. Ich weiß nicht, ob sie wieder verheiratet ist. Wenn sie wieder verheiratet ist…“

„Und deshalb kommst du hierher?“

„Ja“, erwiderte ich erstaunt. „Warum sonst?“

„Wir müssen dich verstecken“, sagte er. „Du kannst die Nacht über hier im Sprechzimmer auf dem Sofa schlafen. Ich werde dich vor sieben wecken. Um sieben kommt das Mädchen, um sauberzumachen. Nach acht kannst du wieder herein. Vor elf kommen keine Patienten.“

„Ist sie verheiratet?“ fragte ich.

„Helen?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht einmal, dass sie von dir geschieden ist.“

„Wo wohnt sie? In der alten Wohnung?“

„Ich glaube, schon.“

„Wohnt jemand bei ihr?“

„Wer?“

„Ihre Mutter. Ihre Schwester. Ihr Bruder. Oder irgendein anderer Verwandter.“

„Das weiß ich nicht genau.“

„Du musst es herausfinden“, sagte ich. „Und du musst ihr sagen, dass ich da bin.“

„Warum sagst du es nicht selbst?“ fragte Martens. „Da ist das Telefon.“

„Und wenn jemand bei ihr ist? Dieser Bruder, der mich schon einmal angezeigt hat?“

„Du hast recht. Sie würde wahrscheinlich ebenso fassungslos sein wie ich. Das könnte sie verraten.“

„Ich weiß nicht einmal, wie sie zu mir steht, Rudolf. Es ist fünf Jahre her, und vorher waren wir nur vier Jahre verheiratet. Fünf Jahre sind mehr als vier – und Abwesenheit ist zehnmal länger als Zusammensein.’“ Er nickte. „Ich begreife dich nicht“, sagte er. „Das mag sein. Ich mich auch nicht. Wir führen verschiedene Leben.“

„Warum hast du ihr nicht geschrieben?“ „Das kann ich dir jetzt nicht erklären, Rudolf. Geh zu Helen. Sprich mit ihr. Finde heraus, was sie denkt. Wenn du es für richtig hältst, sag ihr, ich sei hier, und frage sie, wie ich sie treffen kann.“ „Wann soll ich gehen?“ „Sofort“, sagte ich erstaunt. „Wann sonst?“ Er sah sich um. „Wo bleibst du in der Zwischenzeit? Hier ist es unsicher. Das Dienstmädchen kann heruntergeschickt werden, wenn meine Frau nichts von mir hört. Sie ist gewöhnt, dass ich nach der Sprechstunde heraufkomme. Oder ich müsste dich einschließen, aber das würde auch auffallen.“

„Ich will nicht eingeschlossen werden“, erklärte ich. „Kannst du deiner Frau nicht sagen, du müsstest einen Patienten besuchen?“

„Ich werde ihr das nachher sagen. Das ist einfacher.“

Ich sah einen Schein in seinen Augen, und mir war, als kniffe er das linke für eine Sekunde etwas zu. Es erinnerte mich an unsere Knabenzeit. „Ich werde solange in den Dom gehen“, sagte ich. „Kirchen sind heute fast noch so sicher wie im Mittelalter. Wann soll ich dich anrufen?“

„In einer Stunde. Ruf an als Otto Sturm. Wie kann ich dich finden? Willst du nicht lieber irgendwohin gehen, wo ein Telefon ist?“

„Wo ein Telefon ist, ist Gefahr.“

„Ja, vielleicht.“ Er stand einen Augenblick unentschlossen. „Ja, vielleicht hast du recht. Wenn ich noch nicht zurück bin, rufe wieder an – oder hinterlasse, wo du bist.“

„Gut.“

Ich nahm meinen Hut. „Josef“, sagte er.

Ich wandte mich um.

„Wie ist es draußen?“ fragte er. „So – ohne alles…“ „Ohne alles?“ erwiderte ich. „Ungefähr so: ohne alles. Nicht ganz. Und wie ist es hier? Mit allem und ohne das eine?“

„Nicht gut“, sagte er. „Nicht gut, Josef. Aber es sieht glänzend aus.“

* * *

Ich ging durch die am wenigsten belebten Straßen zum Dom. Es war nicht weit. In der Krahnstraße kam eine Kompanie marschierender Soldaten an mir vorbei. Sie sangen ein Lied, das ich nicht kannte. Auf dem Domplatz sah ich wieder Soldaten. Etwas weiter fort, vor den drei Kreuzen der Kleinen Kirche, standen etwa zweioder dreihundert Personen dicht beieinander. Fast alle waren in Parteiuniform. Ich hörte eine Stimme und suchte nach dem Redner, aber ich fand keinen. Nach einer Weile entdeckte ich auf einem Podium einen schwarzen Lautsprecher. Er stand dort, beleuchtet, kahl und allein, ein Automat, und schrie über das Recht der Wiedereroberung allen deutschen Bodens, das größere Deutschland, Rache und die Tatsache, dass der Frieden der Welt gesichert sei, wenn die Welt das täte, was Deutschland wolle, und das sei das Recht.

Es war wieder windig geworden, und die schwankenden Zweige warfen ihre unruhigen Schatten über die Gesichter, die schreiende Maschine und die stillen Steinskulpturen auf der Kirchenwand dahinter: Christus und die beiden Schächer am Kreuze. Die Gesichter der Zuhörer waren gesammelt und verklärt. Sie glaubten, was der Automat ihnen zuschrie, und es war bezeichnend für die sonderbare Hypnose, die hier vorging, dass sie ihm, der sie nicht hören oder sehen konnte, zuklatschten, als sei er ein Mensch. Es schien mir auch bezeichnend zu sein für die leere, finstere Besessenheit unserer Zeit, die voll Furcht und Hysterie Schlagworten folgt, ganz gleich, ob jemand von rechts oder von links sie schreit, wenn er der Masse nur das lästige Denken und die Verantwortung abnimmt, für das einstehen zu müssen, was sie fürchtet und dem sie nicht ausweicht.

* * *

Ich hatte nicht erwartet, so viele Leute im Dom zu finden. Dann fiel mir ein, dass es die letzten Tage im Mai waren und dass in diesem Monat jeden Abend eine Andacht abgehalten wird. Einen Augenblick überlegte ich, ob ich nicht lieber in eine der protestantischen Kirchen gehen sollte; aber ich wusste nicht, ob sie abends offen waren. Ich drückte mich nahe am Eingang in eine leere Bank. Am Altar schimmerten die Kerzen; der Rest der Kirche war nur wenig erleuchtet, und ich war nicht leicht zu erkennen.

 

Der Priester wanderte am Altar in einer Wolke von Weihrauch, Brokat und Licht langsam hin und her, um ihn herum die Messdiener in roten Röcken mit weißen Überwürfen und dem dampfenden Weihrauchfass. Ich hörte die Orgel und den Chorgesang, und plötzlich war mir, als sähe ich dieselben hingerissenen Gesichter wie draußen, Augen, die sich ebenso in einem entrückten, offenen Schlaf zu befinden schienen, voll von Glauben ohne Frage und Wunsch nach Sicherheit und Unverantwortlichkeit. Alles war sanft hier und milder als draußen; aber diese Religion der Liebe zu Gott und dem Nächsten war nicht immer so milde gewesen: auch sie hatte durch die finsteren Jahrhunderte viel Blut gekostet. Im Augenblick, wo sie selbst nicht mehr verfolgt wurde, hatte auch sie zu verfolgen begonnen mit Scheiterhaufen*, Schwert und Folter. Helens Bruder hatte mir das hohnlachend im Lager erklärt: „Wir haben die Methoden eurer Kirche übernommen. Eure Inquisition mit ihren Folterkammern im Namen Gottes hat uns gelehrt, wie man Feinde des Glaubens behandeln muss. Wir sind sogar noch weniger scharf – wir verbrennen nur in seltenen Fällen lebendig.“ Ich hing damals an einem Kreuz, während er mir das erklärte – es war eine der harmloseren Arten, Namen von Häftlingen zu erpressen.

Der Priester am Altar hob die goldene Monstranz* und segnete die Menge. Ich saß sehr still, aber mir war, als schwämme ich in einem lauen Bade von Rauch, Trost und Licht. Dann begann das letzte Lied: „In dieser Nacht sei du mein Schirm und Wacht…“ Ich hatte es als Kind gesungen, und damals war das Dunkel der Nacht mir als Gefahr erschienen – jetzt war es das Licht.

Die Menge begann den Dom zu verlassen. Ich hatte noch fünfzehn Minuten zu warten und rutschte in eine Ecke, neben einen der großen Pfeiler, die das Gewölbe stützten.

Im gleichen Augenblick sah ich Helen. Ich sah sie zuerst als eine Art von Wirbel in den herausströmenden Menschen. Jemand erkämpfte dort einen Weg gegen die Richtung, schob Leute beiseite und glitt zwischen ihnen vorwärts. Ich sah für Sekunden ein helles, zorniges und entschlossenes Gesicht und glaubte einen Augenblick, es sei eine Frau, die etwas vergessen hatte. Ich erkannte sie nicht gleich, weil ich sie hier nicht erwartet hatte. Erst als sie ein Stück an mir vorbei war, wo die Menge sich lichtete, sah ich an einer Bewegung ihrer Schulter, mit der sie sich schräg vorwärts arbeitete, dass sie es war. Sie schien nirgendwo anzustoßen; sie glitt zwischen den Menschen hindurch, und gleich darauf stand sie fast frei in der breiten Mittelreihe vor den Kerzen und der blauen und roten Dunkelheit der hohen, romanischen Fenster, schmal und klein plötzlich und schon fast allein und verloren.

Ich war aufgestanden, um ihren Blick zu fangen. Zu winken wagte ich nicht. Es waren noch zu viele Leute da; in der Kirche hätte so etwas Aufsehen erregt. Sie lebt, war mein erster Gedanke. Sie ist nicht tot und nicht krank! Sonderbar, dass man das immer zuerst denkt in unserer Situation! Man ist so überrascht, dass etwas noch so ist wie früher – dass jemand noch da ist.

Sie ging weiter, rasch, zum Chor hinauf. Ich drängte mich aus meiner Bank und folgte ihr. Vor der Kommunionbank* blieb sie stehen und drehte sich um. Sie musterte aufmerksam die Leute, die noch in den Bänken knieten, und kam langsam den Gang wieder zurück. Ich blieb stehen. Sie war so überzeugt, mich irgendwo in den Bänken zu finden, dass sie dicht an mir vorüberging und mich fast streifte. Ich folgte ihr. „Helen“, sagte ich, als sie aufs neue stehenblieb, dicht hinter ihr.,,Dreh dich nicht um! Geh hinaus! Ich werde dir folgen. Man darf uns hier nicht sehen.“

Sie zuckte, als hätte ich sie geschlagen, und ging dann weiter. Weshalb war sie nur hierhergekommen? Wir waren in großer Gefahr, erkannt zu werden. Aber ich selbst hatte ja auch nicht gewusst, dass so viele Menschen hier sein würden. Ich sah sie vor mir hergehen; aber ich spürte nichts als Sorge, so rasch wie möglich aus der Kirche zu entkommen. Sie trug ein schwarzes Kostüm und einen sehr kleinen Hut und hielt ihren Kopf sehr aufrecht und etwas schräg, als lausche sie auf meine Fußtritte. Ich blieb einige Schritte zurück, so weit, dass ich sie gerade noch sehen konnte; ich hatte öfter erfahren, dass man nur deshalb erkannt wurde, weil man so nahe bei jemand anderem stand.

Sie ging an den steinernen Weihwasserbecken* vorbei durch das große Eingangsportal und bog sofort nach links. Am Dom entlang führte ein breiter, mit Steinplatten gepflasterter Weg, der durch eiserne Ketten zwischen Sandsteinpfählen vom großen Domplatz abgetrennt war. Sie sprang über die Ketten, ging einige Schritte in das Dunkel, blieb stehen und drehte sich um. Ich kann nicht erklären, was ich in diesem Augenblick empfand. Wenn ich sage, dass mir so war, als ginge mein ganzes Leben dort vor mir her, scheinbar weg von mir, und drehe sich plötzlich um und sähe mich an – so ist das wieder ein Klischee, und es ist wahr und nicht wahr, aber trotzdem fühlte ich es, doch das war nicht alles, was ich fühlte. Ich ging auf Helen zu, auf ihre schmale, dunkle Gestalt, auf ihr bleiches Gesicht und auf ihre Augen und ihren Mund, und ich ließ alles hinter mir, was gewesen war. Die Zeit, in der wir nicht zusammen gewesen waren, versank nicht; sie blieb, aber wie etwas, das ich gelesen hatte, nicht erlebt.

„Wo kommst du her?“ fragte Helen, fast feindselig, bevor ich sie erreicht hatte.

„Aus Frankreich.“

„Haben sie dich hereingelassen?“

„Nein. Ich bin schwarz über die Grenze gekommen.“

Es waren fast dieselben Fragen, die Martens gestellt hatte.

„Warum?“ fragte sie.

„Um dich zu sehen.“

„Du hättest nicht kommen sollen!“

„Ich weiß. Ich habe mir das jeden Tag gesagt.“

„Und warum bist du gekommen?“

„Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht hier.“

Ich wagte nicht, sie zu küssen. Sie stand dicht vor mir, aber so starr, als könne sie zerbrechen, wenn man sie berührte. Ich wusste nicht, was sie dachte, aber ich hatte sie wiedergesehen, sie lebte, und nun konnte ich gehen oder dem entgegensehen, was käme.

„Du weißt es nicht?“ fragte sie.

„Ich werde es morgen wissen. Oder in einer Woche. Oder später.“

Ich sah sie an. Was war zu wissen? Wissen war ein bisschen Schaum, der über eine Woge tanzt. Jeder Wind konnte ihn wegblasen; aber die Woge blieb.

„Du bist gekommen“, sagte sie, und ihr Gesicht verlor die Starre, es wurde sanft, und sie trat einen Schritt naher. Ich hielt sie bei den Armen, und ihre Hände waren gegen meine Brust gepresst, als wolle sie mich noch abwehren. Ich hatte das Gefühl, als ständen wir lange Zeit so einander gegenüber auf dem schwarzen, windigen Domplatz, allein, während der Straßenlärm uns nur, wie durch eine dämpfende Glaswand entfernt, matt erreichte. Links, etwa hundert Schritte entfernt, lag, der Querseite des Platzes gegenüber, das hellerleuch tete Stadttheater mit seinen weißen Stufen, und ich weiß noch, dass ich mich einen Augenblick vage darüber wunderte, dass man dort noch spielte und nicht schon eine Kaserne oder ein Gefängnis daraus gemacht hatte. Eine Gruppe von Leuten kam an uns vorbei. Jemand lachte, und einige sahen sich nach uns um.

„Komm“, flüsterte Helen. „Wir können nicht hier bleiben.“

„Wohin sollen wir gehen?“

„In deine Wohnung.“

Ich glaubte nicht recht gehört zu haben.

„Wohin?“ fragte ich noch einmal.

„In deine Wohnung. Wohin sonst?“

„Man kann mich auf der Treppe erkennen! Wohnen nicht dieselben Leute wie früher noch in dem Haus?“

„Man wird dich nicht sehen.“

„Und das Mädchen?“

„Ich werde es für den Abend wegschicken.“

„Und morgen früh?“

Helen sah mich an. „Bist du von so weit gekommen, um mich alles das zu fragen?“

„Ich bin nicht gekommen, um gefasst zu werden und dich in ein Lager zu bringen, Helen.“

Sie lächelte plötzlich. „Josef, sagte sie. „Du hast dich nicht verändert. Wie bist du nur hierhergekommen?“

„Das weiß ich auch nicht“, erwiderte ich und musste selbst lächeln. Die Erinnerung daran, dass sie das früher manchmal, halb zornig, halb verzweifelt, über meine Umständlichkeit gesagt hatte, wischte die Gefahr auf einmal weg. „Aber ich bin da“, sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf, und ich sah, dass ihre Augen voll Tränen waren. „Noch nicht“, erwiderte sie. „Noch nicht! Und nun komm, oder man wird uns tatsächlich verhaften, weil es aussieht, als mache ich dir eine Szene.“

Wir gingen über den Platz. „Ich kann doch nicht sofort mit dir kommen“, sagte ich. „Du musst dein Mädchen doch vorher wegschicken! Ich habe ein Zimmer in einem Hotel in Münster genommen. Man kennt mich da nicht. Ich wollte dort wohnen.“

Sie blieb stehen. „Wie lange?“

„Das weiß ich nicht“, erwiderte ich. „Ich habe nie weiter denken können, als dass ich dich sehen wollte und dass ich danach irgendwie zurück müsste.“

„Über die Grenze?“

„Wohin sonst, Helen?“

Sie senkte den Kopf und ging weiter. Ich dachte daran, dass ich nun sehr glücklich sein sollte, aber ich fühlte es nicht so. Wirklich fühlt man es wohl immer erst später. Jetzt – jetzt weiß ich, dass ich es war.

* * *

„Ich muss mit Martens telefonieren“, sagte ich. „Du kannst das von deiner Wohnung aus tun“, erwiderte Helen. Es traf mich jedesmal, wenn sie „deine Wohnung“ sagte. Sie tat es absichtlich. Ich wusste nicht, weshalb.

„Ich habe Martens versprochen, ihn in einer Stunde anzurufen“, sagte ich. „Das ist jetzt. Wenn ich es nicht tue, glaubt er, es sei etwas passiert. Vielleicht tut er dann etwas Unvorsichtiges.“

„Er weiß, dass ich dich abhole.“

Ich blickte auf die Uhr. Es war schon eine Viertelstunde später, als ich anrufen wollte. „Ich kann es von der nächsten Kneipe aus tun“, sagte ich. „Es dauert nur eine Minute.“

„Mein Gott, Josef!“ sagte Helen zornig. „Du hast dich wirklich nicht geändert. Du bist noch pedantischer geworden.“

„Dies ist keine Pedanterie. Es ist Erfahrung. Ich habe zu oft gesehen, wieviel Unheil passieren kann, wenn man Kleinigkeiten vernachlässigt. Und ich weiß zu genau, was Warten heißt, unter Gefahr.“ Ich nahm ihren Arm. „Ohne Pedanterie dieser Art wäre ich nicht mehr am Leben, Helen.“

Sie drückte heftig meinen Arm. „Ich weiß“, murmelte sie. „Siehst du denn nicht, dass ich fürchte, es würde etwas passieren, wenn ich dich jetzt nur noch eine Minute allein lasse?“

Ich spürte alle Wärme der Welt. „Nichts wird passieren, Helen. Auch daran kann man glauben. Mit aller Pedanterie.“

Sie lächelte und hob ihr blasses Gesicht. „Geh nun telefonieren! Aber nicht in einer Kneipe. Drüben ist ein Telefonstand. Man hat ihn hingebaut, während du fort warst. Er ist sicherer als eine Kneipe.“

Ich ging in die Glaskabine. Helen blieb draußen. Ich rief Martens an. Die Nummer war besetzt. Ich wartete einige Zeit und rief wieder an. Das Nickelstück fiel scheppernd zurück; die Nummer war immer noch besetzt. Ich wurde unruhig. Durch das Glas sah ich Helen draußen aufmerksam hin und her gehen. Ich machte ihr ein Zeichen, aber sie sah mich nicht. Sie beobachtete die Straße, den Hals gereckt, spähend, ohne es zu sehr zeigen zu wollen, Wärter und Schutzengel zugleich, in einem sehr gut sitzenden Kostüm, wie ich jetzt bemerkte. Ich sah auch, während ich wartete, dass ihr Mund mit Lippenstift nachgezogen war. Im gelben Licht wirkte er fast schwarz. Mir fiel ein, dass Schminke und Lippenstift im neuen Deutschland unerwünscht waren.

Beim dritten Anruf erreichte ich Martens. „Meine Frau hat telefoniert“, sagte er. „Fast eine halbe Stunde. Ich konnte sie nicht unterbrechen. Über Kleider, Krieg und Kinder.“– „Wo ist sie jetzt?“

„In der Küche. Ich musste sie reden lassen. Du verstehst?“

„Ja. Alles in Ordnung. Ich danke dir, Rudolf. Vergiss alles.“

„Wo bist du?“

„Auf der Straße. Ich danke dir, Rudolf. Ich brauche weiter nichts mehr. Ich habe alles gefunden. Wir sind zusammen.“

Ich sah durch die Scheibe auf Helen und wollte den Hörer niederlegen. „Weißt du, wo du unterkommen wirst?“ fragte Martens.

„Ich glaube, ja. Sorge dich nicht. Vergiss den Abend, als hättest du geträumt.“

„Wenn ich noch etwas tun kann“, sagte er zögernd, „lass es mich wissen. Ich war zuerst zu überrascht. Du verstehst…“

„Ja, Rudolf, ich verstehe. Und wenn ich etwas brauche, werde ich es dich wissen lassen.“

„Wenn du hier übernachten willst – wir könnten dann noch miteinander reden…“

Ich lächelte. „Wir werden sehen. Ich muss jetzt aufhören…“

„Ja, natürlich“, sagte er eilig. „Verzeih. Alles Glück, Josef. Wirklich!“ „Danke, Rudolf.“

Ich trat aus der stickigen Kabine. Ein Windstoß fasste mich und riss mir fast den Hut vom Kopf. Helen kam rasch heran. „Komm nach Hause! Du hast mich mit deiner Vorsicht angesteckt. Es ist plötzlich, als ob hier hundert Augen aus der Dunkelheit starrten.“ „Hast du noch dasselbe Mädchen?“ „Lena? Nein, sie spionierte für meinen Bruder. Er wollte wissen, ob du mir schriebest. Oder ich dir.“ „Und das jetzige?“

 

„Sie ist dumm und gleichgültig. Ich kann sie wegschicken, und sie wird sich freuen und nicht nachdenken.“

„Du hast sie noch nicht weggeschickt?“

Sie lächelte und war plötzlich sehr schön. „Ich musste doch erst sehen, ob du wirklich hier wärest.“

„Du musst sie wegschicken, ehe ich komme“, sagte ich. „Sie darf uns nicht sehen. Können wir nicht anderswohin gehen?“

„Wohin?“

Ja, wohin? – Helen lachte plötzlich. „Da stehen wir wie Halbwüchsige, die sich heimlich treffen müssen, weil ihre Eltern sie noch für zu jung halten! Wohin können wir gehen? In den Schlosspark? Er wird um acht Uhr geschlossen. Auf eine Bank in den städtischen Anlagen? In eine Konditorei? Schon zu gefährlich!“

Sie hatte recht. Es waren die kleinen Tatsachen, die ich nicht vorausgesehen hatte – man sieht sie nie voraus.

„Ja“, sagte ich. „Wir stehen da wie Halbwüchsige. Als wären wir in unsere Jugend zurückgeworfen.“

Ich blickte sie an. Sie war neunundzwanzig Jahre alt; aber sie wirkte so, wie ich sie früher gekannt hatte. Die fünf Jahre dazwischen schienen abgeglitten zu sein wie Wasser von einem jungen Seehund. „Ich bin auch gekommen wie ein Halbwüchsiger“, sagte ich. „Alle Überlegungen waren dagegen, aber wie ein Halbwüchsiger habe ich nicht weitergedacht. Ich wusste nicht einmal, ob du nicht längst mit jemand anderem lebtest.“

Sie antwortete nicht. Ihr braunes Haar glänzte im Licht der Laterne. „Ich werde vorausgehen und das Mädchen wegschicken“, sagte sie. „Aber ich hasse es, dich allein auf der Straße zu lassen. Du könntest wieder verschwinden – so, wie du aufgetaucht bist. Wo willst du so lange bleiben?“

„Da, wo du mich gefunden hast. In einer Kirche. Ich kann zum Dom zurückgehen. Kirchen sind sicher, Helen. Ich bin ein großer Kenner französischer, schweizer und italienischer Kirchen und Museen geworden.“

„Komm in einer halben Stunde“, flüsterte sie. „Erinnerst du dich noch an die Fenster unserer Wohnung?“

„Ja“, sagte ich.

„Wenn das Eckfenster offen ist, ist alles in Ordnung, und du kannst heraufkommen. Wenn es geschlossen ist, warte, bis ich es öffne.“

Ich musste an Martens und meine Jugend denken, wenn wir Indianer spielten. Damals war es ein Licht im Fenster gewesen: das Zeichen für Lederstrumpf oder Winnetou, der unten wartete. Wiederholte es sich? Gab es das, dass sich etwas wiederholte?

„Gut“, sagte ich und wollte gehen.

„Wohin gehst du?“

„Ich will sehen, ob die Marienkirche noch offen ist. Soweit ich mich erinnere, ist sie ein schönes Beispiel gotischer Baukunst. Ich habe inzwischen gelernt, das zu schätzen.“

„Lass das!“ sagte sie. „Es ist schlimm genug, dass ich dich allein lassen muss.“

„Helen“, erwiderte ich. „Ich habe gelernt, auf mich aufzupassen.“

Sie schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht verlor plötzlich jeden Versuch zur Tapferkeit. „Nicht genug“, sagte sie.

„Nicht genug. Was tue ich, wenn du nicht kommst?“

„Du kannst nichts tun. Ist deine Telefonnummer noch dieselbe?“

„Ja“.

Ich berührte ihre Schulter. „Helen“, sagte ich. „Alles wird gut gehen.“

Sie nickte. „Ich bringe dich zur Marienkirche. Ich will wissen, dass du sicher hinkommst.“

Wir gingen schweigend hin. Es war nicht weit. Helen verließ mich, ohne ein Wort zu sagen. Ich sah ihr nach, während sie über den alten Marktplatz ging. Sie ging rasch und blickte sich nicht um.

* * *

Ich blieb im Schatten des Portals stehen. Rechts lag das Rathaus im Schatten; nur auf den steinernen Gesichtern der alten Skulpturen schimmerte ein Streifen Mondlicht. Auf der Freitreppe davor war das Ende des Dreißigjährigen Krieges im Jahre 1648 verkündet worden; ebenso der Beginn des Tausendjährigen Reiches im Jahre 1933. Ich überlegte, ob ich erleben würde, dass auch sein Ende hier gemeldet werden würde. Ich hatte wenig Hoffnung.

Ich versuchte nicht, in die Kirche zu gehen. Es war mir auf einmal zuwider, mich zu verstecken. Ich wollte zwar nicht unvorsichtig werden; aber seit ich Helen gesehen hatte, wollte ich nicht mehr ohne Not ein gehetztes Tier sein.

Ich ging weiter, um nicht aufzufallen. Die Stadt, die vorher gefährlich, bekannt und entfremdet gewesen war, fing jetzt an zu leben. Ich spürte, dass es so war, weil ich selbst begonnen hatte zu leben. Das anonyme Dasein der letzten Jahre, das nur ein Überleben gewesen war, ein Wachsen ohne Frucht von einem Tag zum anderen, schien mir auf einmal nicht mehr so unnütz gewesen zu sein. Es hatte mich geformt, und wie eine schwankende Blüte, heimlich aufgebrochen, war plötzlich ein Lebensgefühl da, das ich früher nicht gekannt hatte. Es hatte nichts mit Romantik zu tun; aber es war so neu und erregend, als wäre es eine große, leuchtende, tropische Blüte, hingezaubert auf einen durchschnittlichen Strauch, von dem man höchstens ein paar bescheidene, durchschnittliche, kleine Knospen erwartet hätte. Ich kam an den Fluss und blieb auf der Brücke stehen und blickte über das Geländer auf das Wasser. Links von mir stand ein Wachtturm aus dem Mittelalter, in dem jetzt eine Wäscherei eingerichtet war. Die Fenster waren erleuchtet, und die Mädchen arbeiteten noch. Das Licht wehte in breiten Reflexen über den Fluss darunter. Der schwarze Wall mit den Linden stand vor dem hohen Himmel, und rechts lagen die Gärten mit der Silhouette des Domes darüber.

Ich stand sehr still und war völlig entspannt. Nichts war zu hören als das Plätschern des Wassers und die gedämpften Stimmen der Wäscherinnen hinter den Fenstern. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten. Was ich hörte, schienen nur menschliche Laute zu sein, die noch nicht zu Worten geworden waren. Sie waren nur Zeichen, dass Menschen nahe waren – aber noch nicht Zeichen der Lüge, des Betrugs, der Dummheit und der höllischen Einsamkeit, die sie als fertige Worte wie hässliche Obertöne einer rein geplanten Melodie gehabt hätten.

Ich atmete, und mir war, als atme ich im selben Rhythmus wie das Wasser. Für einen Augenblick, der ohne Zeit war, war mir sogar, als wäre ich ein Teil der Brücke und das Wasser flösse wie mein Atem und mit ihm durch mich hindurch. Es schien mir selbstverständlich, und ich wunderte mich nicht. Ich dachte nicht; auch meine Gedanken waren so unbewusst geworden wie mein Atem und das Wasser.

Ein abgeschirmtes Licht wanderte rasch durch die schwarze Allee der Linden zu meiner Linken. Meine Augen folgten ihm, und dann hörte ich die Stimmen der Wäscherinnen wieder. Es kam mir zum Bewusstsein, dass ich sie eine Zeitlang nicht gehört hatte. Auch den Geruch der Linden spürte ich jetzt wieder. Ein schwacher Wind trieb ihn über das Wasser.

Das wandernde Licht erlosch, und gleichzeitig wurden die Fenster hinter mir dunkel. Das Wasser lag eine Minute schwarz und teerig da, dann tauchten die schmalen Reflexe des Mondes auf, die vorher durch das stärkere Licht der Wäscherei verdeckt gewesen waren. Sie begannen jetzt, da nur sie allein noch da waren, zarter und vielfältiger zu spielen als das grobe, gelbe Licht vorher. Ich dachte an mein Leben, in dem auch vor Jahren ein Licht ausgelöscht worden war, und ich wunderte mich, ob viele sanfte Lichter, die ich vorher nie gesehen hatte, nicht auch in ihm wieder auftauchen könnten, so wie jetzt der Widerschein des Mondes im Fluss. Bisher war mir immer nur der Verlust fühlbar gewesen – nicht, ob ich nicht auch etwas dadurch gewonnen hätte.

Ich verließ die Brücke und ging in der dunklen Allee der Bäume auf dem Wall auf und ab, bis die halbe Stunde vorbei war, die ich warten musste. Der Geruch der Linden wurde stärker in der wachsenden Nacht, und der Mond überschüttete die Dächer und die Türme mit Silber. Es war, als wolle die Stadt alles tun, um mir zu zeigen, dass ich mir eine Lüge aufgebaut habe; dass nirgendwo eine Gefahr auf mich lauere; dass ich heimkehren könne, getrost, nach einem langen Irrweg, um wieder ich selbst zu sein.

Es war nicht nötig, mich dagegen zu wehren. Etwas in mir wachte automatisch und sicherte nach allen Seiten. Ich war zu oft gerade so in Paris, in Rom und in anderen Städten verhaftet worden – hingegeben an die Schönheit und in Sicherheit gewiegt durch ihre betrügerische Illusion der Liebe, des Verstehens und des Vergessens. Polizisten vergaßen nicht. Und Denunzianten wurden nicht durch Mondlicht und Lindenduft zu Heiligen.

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