Die Nacht von Lissabon / Ночь в Лиссабоне. Книга для чтения на немецком языке

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Z serii: Moderne Prosa
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Einige Tage lang war das dann eine fixe Idee: dass sie herübergekommen sei und mich suche. Ich sah sie hundertmal um eine Ecke gehen, sie saß auf den Bänken des Luxembourg-Gartens, und wenn ich hinkam, hob sich ein erstauntes fremdes Gesicht mir entgegen; sie kreuzte die Place de la Concorde, gerade bevor der Strom der Automobile wieder einsetzte, und diesmal war sie es wirklich – es war ihr Gang, die Art, wie sie ihre Schultern hielt, ich glaubte sogar ihr Kleid zu erkennen, aber wenn der Verkehrspolizist endlich die Autoschlange stoppte und ich ihr nacheilen konnte, war sie verschwunden, eingeschluckt in den schwarzen Schlund der Untergrundbahn – und wenn ich dort unten auf dem Bahnsteig ankam, sah ich gerade noch die höhnischen Schlusslichter des abfahrenden Zuges in der Dunkelheit.

Ich vertraute mich einem Bekannten an. Er hieß Löser, handelte mit Strümpfen und war früher Arzt in Breslau* gewesen. Er riet mir, weniger allein zu sein. „Finden Sie eine Frau“, sagte er.

Es half nichts. Sie kennen die Verhältnisse aus Not, aus Einsamkeit, aus Angst, die Flucht zu etwas Wärme, zu einer Stimme, einem Körper – das Aufwachen in einem elenden Raum in einem fremden Land, wie herabgefallen von der Erde, und dann die trostlose Dankbarkeit, einen anderen Atem neben sich zu hören – aber was ist das gegen den Zwang der Phantasie, die das Blut trinkt und einen am Morgen aufwachen lässt mit dem schalen Geschmack, dass man sich missbraucht hat?

Wenn ich es jetzt erzähle, ist alles unsinnig und widerspricht sich; damals war es nicht so. Aus all den Kämpfen blieb immer das eine übrig: ich musste zurück. Ich musste meine Frau noch einmal sehen. Es konnte sein, dass sie längst mit jemand anderem lebte. Das war gleich. Ich musste sie sehen. Es schien mir vollkommen logisch.

Die Nachrichten über den bevorstehenden Krieg verstärkten sich. Jeder sah, dass Hitler, der sein Versprechen, nur Sudetendeutschland*, nicht aber die ganze Tschechoslowakei zu besetzen, sofort gebrochen hatte, nun dasselbe mit Polen begann. Der Krieg musste kommen. Die Bündnisse Frankreichs und Englands mit Polen ließen nichts anderes zu. Und es war nicht mehr eine Sache von Monaten; nur noch eine von Wochen. Auch für mich. Auch für mein Leben. Ich musste mich entschließen. Ich tat es. Ich wollte hinüber. Was nachher kam, wusste ich nicht. Es war auch gleichgültig. Wenn der Krieg kam, war ich ohnehin verloren. Ich konnte geradesogut das Verrükte tun.

Eine merkwürdige Heiterkeit kam in den letzten Tagen über mich. Es war Mai, und die Beete am Rond Point waren bunt mit Tulpen. Die frühen Abende hatten bereits das silbrige Licht der Impressionisten, die blauen Schatten und den hohen, hellgrünen Himmel hinter dem kalten Gaslicht der ersten Straßenlampen und den ruhelosen, roten Bändern der Leuchtschrift an den Dächern der Zeitungsgebäude, die den Krieg verkünde ten für jeden, der sie lesen konnte.

Ich fuhr zuerst in die Schweiz. Ich wollte meinen Pass auf einem ungefährlichen Gebiet erproben, bevor ich an ihn glaubte. Der französische Zollbeamte gab ihn mir gleichgültig zurück; das hatte ich erwartet. Eine Ausreise ist nur in Ländern mit einer Diktatur schwierig. Aber als der Schweizer Beamte kam, spürte ich, wie sich etwas in mir zusammenzog. Ich saß zwar so gelassen da, wie ich konnte, aber mir schien, als zitterten die Ränder meiner Lungen, so wie manchmal in der Windstille an einem Baum ein Blatt rasend schnell flattert.

Der Mann sah den Pass an. Es war ein mächtiger, breitschultriger Beamter, der nach Pfeifenrauch roch. Als er im Abteil stand, verdunkelte er das Fenster, und einen Augenblick hatte ich die Beklemmung, dass er den Himmel und die Freiheit abschlösse – als wäre das Abteil bereits eine Gefängniszelle. Dann gab er mir den Pass zurück.

„Sie haben vergessen, ihn zu stempeln“, sagte ich in der Welle der Erleichterung, ohne es zu wollen, rasch.

Der Beamte lächelte. „Ich werde ihn schon noch stempeln. Ist Ihnen das so wichtig?“

„Das nicht. Es macht ihn nur zu einer Art von Souvenir.“

Der Mann stempelte den Pass und ging. Ich biss mir auf die Lippen. Wie nervös ich geworden war! Dann fiel mir ein, dass der Pass mit dem Stempel schon etwas echter aussah.

* * *

In der Schweiz überlegte ich einen Tag, ob ich auch mit dem Zuge nach Deutschland fahren sollte; aber ich hatte nicht den Mut. Ich wusste auch nicht, ob man Heimkehrer, selbst solche aus dem früheren Österreich, nicht besonders revidieren würde. Wahrscheinlich hätte man es nicht getan; ich beschloss trotzdem, schwarz über die Grenze zu gehen.

In Zürich begab ich mich deshalb, wie früher, zuerst zur Hauptpost. Am Schalter für postlagernde Sendungen traf man dort meistens Bekannte – Wanderer ohne Aufenthaltsbewilligung, wie man selbst, die einem Informationen geben konnten. Von dort ging ich ins Cafe Greif – dem Gegenstück zum Cafe de la Rose. Ich traf verschiedene Grenzgänger, aber keinen, der die Übergänge nach Deutschland genau kannte. Das war verständlich. Wer, außer mir, wollte schon nach Deutschland? Ich merkte, wie man mich anschaute und dann, als man merkte, dass es mir ernst war, vor mir zurückwich. Wer zurückwollte, musste ein Überläufer sein; denn wer wollte schon zurück, wenn er das Regime nicht auch akzeptierte? Und was würde jemand, der so weit war, sonst noch tun? Wen verraten? Was verraten?

Ich war plötzlich allein. Man mied mich, wie man jemand meidet, der gemordet hat. Ich konnte auch nichts erklären; mir wurde selbst manchmal so heiß, dass ich vor Panik schwitzte, wenn ich daran dachte, was ich vorhatte; wie hätte ich es da anderen begreiflich machen können?

Am dritten Morgen kam die Polizei um sechs Uhr früh und holte mich aus dem Bett. Man fragte mich genau aus. Ich wusste sofort, dass einer meiner Bekannten mich angezeigt hatte. Mein Pass wurde misstrauisch betrachtet, und ich wurde zum Verhör mitgenommen. Es war jetzt ein Glück, dass der Pass gestempelt worden war. Ich konnte so nachweisen, dass ich legal eingereist und „erst drei Tage im Lande war. Ich erinnere mich genau an den frühen Morgen, als ich mit dem Beamten durch die Straßen ging. Es war ein klarer Tag, und die Türme und Dächer der Stadt standen scharf, wie aus Metall geschnitten, vor dem Himmel. Aus einer Bäckerei roch es nach warmem Brot, und aller Trost der Welt schien in diesem Geruch zu sein. Kennen Sie das?“

Ich nickte. „Die Welt erscheint einem nie schöner als in dem Augenblick, wenn man eingesperrt wird. Bevor man sie verlassen muss. Wenn man sie nur immer so fühlen könnte! Vielleicht hat man zuwenig Zeit dazu. Zuwenig Ruhe.“

Schwarz schüttelte den Kopf. „Es hat mit Ruhe nichts zu tun. Ich habe es so gefühlt,“ „Konnten Sie es halten?“ fragte ich. „Das weiß ich nicht,“ erwiderte Schwarz langsam. „Das ist es ja, was ich herausfinden muss. Es ist mir aus den Händen geglitten – aber hatte ich es ganz, als ich es hielt? Kann ich es jetzt nicht vielleicht stärker wieder zurückgewinnen und es für immer halten? Jetzt, wo es sich nicht mehr verändert? Verliert man nicht immerfort, was man zu halten glaubt, weil es sich bewegt? Und steht es nicht still erst, wenn es nicht mehr da ist und sich nicht mehr ändern kann? Gehört es einem nicht erst dann?“

Seine Augen waren starr auf mich gerichtet. Es war das erste Mal, dass er mich voll anblickte. Die Pupillen waren groß. Ein Fanatiker oder ein Verrückter, dachte ich plötzlich.

„Ich habe es nie gekannt“, sagte ich. „Aber will das nicht jeder? Halten, was nicht zu halten ist? Und verlassen, was einen nicht verlassen will?“

Die Frau im Abendkleid am Nebentisch stand auf. Sie blickte über die Veranda auf die Stadt und den Hafen hinunter. „Darling, warum müssen wir zurück?“ sagte sie zu dem Mann im weißen Smoking. „Wenn wir doch hierbleiben könnten! Ich habe gar keine Lust, wieder nach Amerika zu gehen.“

Aufgaben zum Text

1) Warum vergleicht der Ich-Erzähler das Passagierschiff im Tejo mit einer Arche und Amerika mit dem Berg Ararat?

2) Warum war der Ich-Erzähler gegenüber dem Mann auf dem Quai misstraurisch?

3) Was haben Sie aus diesem Kapitel über den Ich-Erzähler erfahren: wo war er bereits gewesen, wo wollte er hin? Was war der Grund seiner Wanderungen?

4) Warum wollte Schwarz in dieser Nacht mit jemandem sprechen?

5) Erzählen Sie, wie Schwarz einen gültigen Pass bekam.

6) Warum beschloss Schwarz nach Deutschland zu gehen, obwohl es todesgefährlich war? Erklären Sie, was Emmigranten-Koller ist.

Texterläuterungen

Tejo der, der längste Strom der Pyrenäenhalbinsel, mündet bei Lissabon in den Atlantischen Ozean

Arche (lat. „Kasten“) die, Schiff Noahs

Sintflut die, im Alten Testament Überflutung der Erde als göttliche Strafe für die Sünden der Menschheit, die nur Noah mit seiner Familie und einem Paar aller Tiere überlebte

Ararat der, erloschener Vulkan in der östlichen Türkei, nahe der iranischarmenischen Grenze. Im Alten Testament wird ein Land Ararat als Landungsstelle der Arche Noahs genannt.

Bordeaux, kultureller Mittelpunkt sowie Haupthandels- und Hafenstadt im Südwesten Frankreichs

Lazarus (herb. „Gott hilft“), Bruder der Maria und Martha von Bethanien, von dem mit ihm befreundeten Jesus nach 3 Tagen Grabesruhe wieder zum Leben erweckt (Joh. 11). Als Symbol der Auferweckung des Lebens gehört zu den frühesten Darstellungen der christlichen Kunst. Nach einer Legende soll er Bischof von Marseille geworden sein.

Fado (portugies. „Schicksal“) der, in Portugal in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts aufgekommenes, traurig gestimmtes Volkslied mit freiem, stark synkopiertem Rhythmus und Gitarrenbegleitung. Die Texte haben überwiegend sentimentalen Charakter, sie erzählen von Sehnsucht, Schicksal, Liebe und Trennungsschmerz. Herkunft wahrscheinlich aus der Musik Brasiliens oder Afrikas.

 

Koller der, Ausbruch angestauter Gefühle, Wutanfall

Garnele die, ein kleiner Krebs mit langen Fühlern und zehn Beinen, dessen Fleisch als Delikatesse gegessen wird

Münchener Pakt der, am 29.9. 1938 von A. Hitler, B. Mussolini, A.N. Chamberlain und É. Daladier abgeschlossenes Abkommen über die Abtretung des Sudetenlands an Deutschland durch die Tschechoslowakei.

Louvre der, ehemaliges Schloss der französischen Könige in Paris, seit 1793 Museum

Impressionismus der, zwischen 1860 und 1870 in der französischen Malerei entstandene Stilrichtung, die den zufälligen Ausschnitt aus der Wirklichkeit darstellt und bei der Farbe und Komposition vom subjektiven Reiz des optischen Eindrucks des Lichts bestimmt ist. Bedeutende Vertreter waren C. Monet, É. Manet, C. Pissarro, A. Sisley, E. Degas, A. Renoir, P. Cézanne.

Ingres, Jean Auguste Dominique, französischer Maler und Grafiker des Klassizismus

Passepartout das, aus Karton geschnittene Umrahmung für Zeichnung, Grafik u.a. Gestapo die, Abkürzung für Geheime Staatspolizei, die politische Polizei im Nationalsozialismus; konnte „Schutzhaft“ in Gefängnissen und Konzentrationlslagern verhängen, foltern, liquidieren; unter anderem auch mit „Einsatzgruppen“ an der Massenvernichtung der Juden beteiligt.

Champs-Elysées („elysäische Gefilde“), Prachtstraße in Paris, zwischen Place de la Concorde und Place Charles de Gaulle

Breslau, Hauptstadt der polnischen Woiwodschaft, (Provinz) Niederschlesien

Sudeten Pl., Gebirgszug zwischen Schlesien und Böhmen

Sudetenland, ehemalige deutsche Reichsgau, 1938 gebildet aus den von der Tschechoslowakei abgetretenen sudetendeutschen Gebieten; 1946 an die Tschechoslowakei zurückgefallen

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„Die Polizei in Zürich hielt mich nur einen Tag fest“, sagte Schwarz. „Aber es war ein schwerer Tag für mich. Ich hatte Furcht, dass man meinen Pass kontrollieren würde. Ein Telefongespräch mit Wien konnte schon genügen; ebenso eine Überprüfung der veränderten Daten durch einen Spezialisten.

Nachmittags wurde ich ruhig. Ich betrachtete das, was geschehen würde, als eine Art Gottesurteil. Die Entscheidung schien mir abgenommen worden zu sein. Steckte man mich ins Gefängnis, so würde ich nicht versuchen, nach Deutschland zu gehen. Aber abends ließ man mich frei und empfahl mir dringend, meine Reise aus der Schweiz hinaus so rasch wie möglich fortzusetzen.

Ich beschloss, es über Österreich zu tun. Die Grenze dort kannte ich etwas, und sie war sicher nicht so scharf bewacht wie die deutsche. Warum sollten beide überhaupt scharf bewacht sein? Wer sollte schon hinein? Aber viele wollten wahrscheinlich hinaus.

Ich fuhr nach Oberriet, um irgendwo von dort aus den Übergang zu versuchen. Am liebsten hätte ich auf einen regnerischen Tag gewartet; aber das Wetter blieb zwei Tage lang klar. In der dritten Nacht ging ich, um nicht durch zu langes Bleiben aufzufallen.

Es war eine Nacht mit allen Sternen. Sie war so still, dass ich glaubte, die leisen Geräusche des Wachsens hören zu können. Sie wissen, dass bei Gefahr eine andere Form des Sehens sich einstellt – nicht so sehr scharf, im Focus, durch die Augen, sondern mehr ausgebreitet über den Körper, als ob man mit der Haut sähe, besonders nachts. Es ist dann fast so, als ob man auch Geräusche sehen könnte, so sehr ist auch das Hören auf die Haut verlagert. Man öffnet den Mund und lauscht, und auch der Mund scheint zu sehen und zu hören.

Ich werde diese Nacht nie vergessen. Ich war meiner selbst voll bewusst, alle meine Sinne waren weit offen, ich war auf alles gefasst, aber ganz ohne Angst. Mir war, als ginge ich über eine hohe Brücke, von einer Seite meines Lebens auf die andere, und ich wusste, dass diese Brücke sich hinter mir auflösen würde wie silberner Rauch und dass ich nie zurückkehren könne. Ich ging von der Vernunft in das Gefühl, von der Sicherheit in das Abenteuer, vom Rationalen in den Traum. Ich war vollkommen einsam, aber dieses Mal war die Einsamkeit ohne jede Qual; sie hatte fast etwas Mystisches.

Ich kam an den Rhein, der an dieser Stelle noch jung und nicht sehr breit ist. Ich zog mich aus und machte ein Bündel aus meinen Kleidern, um sie über den Kopf halten zu können. Es war ein sonderbares Gefühl, als ich nackt in das Wasser tauchte. Es war schwarz und sehr kühl und fremd, als tauchte ich in den Fluss Lethe*, um Vergessenheit zu trinken. Auch dass ich nackt hindurchmusste, schien mir ein Symbol zu sein, als ließe ich alles hinter mir.

Ich trocknete mich ab und suchte weiter meinen Weg. Als ich an einem Dorf vorbeikam, hörte ich einen Hund anschlagen. Ich wusste nicht genau, wie die Grenze lief, und hielt mich deshalb am Rande einer Straße, die an einem Gehölz entlangführte. Kein Mensch begegnete mir für lange Zeit. Ich ging, bis es Morgen wurde. Der Tau fiel plötzlich stark, und ein Reh stand am Rande einer Lichtung. Ich ging weiter, bis ich die ersten Bauern mit ihren Fuhrwerken kommen hörte. Dann suchte ich mir ein Versteck, nicht weit von der Straße. Ich wollte nicht verdächtig erscheinen, weil ich so früh auf war und aus der Richtung der Grenze kam. Später sah ich zwei Zollbeamte auf Fahrrädern die Landstraße entlangfahren. Ich erkannte ihre Uniform. Ich war in Österreich. Österreich gehörte damals seit einem Jahr zu Deutschland.“

* * *

Die Frau im Abendkleid verließ mit ihrem Begleiter die Terrasse. Sie hatte sehr braune Schultern und war größer als der Mann, der bei ihr war. Auch ein paar andere Touristen schlenderten langsam die Treppen hinunter. Sie alle gingen wie Leute, die nie gejagt worden waren. Sie drehten sich nicht um.

„Ich hatte Butterbrote bei mir“, sagte Schwarz, „und ich fand einen Bach mit Wasser. Mittags wanderte ich weiter. Mein Ziel war der Ort Feldkirch, von dem ich wusste, dass er im Sommer von Ferienreisenden besucht wurde. Ich erwartete, da nicht so aufzufallen. Auch Züge hielten dort. Ich erreichte ihn. Mit dem nächsten Zug fuhr ich von der Grenze weg, um aus der gefährlichsten Zone herauszukommen. Als ich in das Abteil trat, saßen dort zwei SA-Männer* in Uniform.

Ich glaube, dass mein Training mit der Polizei Europas mir in diesem Augenblick zu Hilfe kam, sonst wäre ich wohl zurückgesprungen. So stieg ich ein und setzte mich in eine Ecke neben einen Mann in Lodentracht, der ein Gewehr bei sich hatte.

Es war mein erster Zusammenstoß nach fünf Jahren mit allem, was für mich die Verkörperung des Abscheus war. Ich hatte es mir in den vergangenen Wochen oft vorgestellt, aber die Wirklichkeit war anders. Es war der Körper, nicht der Kopf, der reagierte; es war der Magen, der zu Stein, der Mund, der eine Raspel wurde.

Der Jäger und die SA-Leute führten ein Gespräch über eine Witwe Pfundner. Sie schien sehr munter zu sein, denn die drei zählten einige ihrer Liebschaften auf. Dann begannen sie zu essen. Sie hatten Schinkenbrote bei sich.

„Wo wollen denn Sie hin, Herr Nachbar?“ fragte mich der Jäger.

„Zurück, nach Bregenz*“, sagte ich – „Sie sind fremd hier, wie?“

„Ja. Ich bin auf Ferien.“ – „Und woher kommen Sie?“

Ich zauderte eine Sekunde. Hätte ich Wien gesagt, wie es im Pass stand, wäre den dreien vielleicht aufgefallen, dass ich nicht den weichen Wiener Dialekt sprach. „Aus Hannover“, sagte ich. „Ich wohne da schon über dreißig Jahre.“

„Hannover! Das ist aber weit weg.“

„Das ist es. Aber in den Ferien will man ja nicht zu Hause bleiben.“

Der Jäger lachte. „Stimmt. Schönes Weiler haben Sie erwischt!“

Ich fühlte, dass mein Hemd klebte. „Schön, ja“, sagte ich, „aber heiß, als wäre es bereits Hochsommer.“

Die drei begannen wieder die Witwe Pfundner durchzuhecheln. Ein paar Stationen später stiegen sie aus, und ich blieb allein im Abteil. Der Zug fuhr jetzt durch eine der schönsten Landschaften Europas, aber ich sah sehr wenig davon. Ich hatte plötzlich einen fast unerträglichen Anfall von Reue, Furcht und Verzweiflung. Ich verstand einfach nicht mehr, weshalb ich die Grenze überschritten hatte. Ohne mich zu rühren, saß ich in meiner Ecke und starrte aus dem Fenster. Ich war gefangen, und ich hatte selbst die Tür hinter mir ins Schloss geworfen. Ein dutzendmal wollte ich aussteigen, um zu versuchen, nachts in die Schweiz zurückzukehren.

Ich tat es nicht. Meine linke Hand hielt in meiner Tasche den Pass des toten Schwarz umklammert, als könne mir Kraft daraus zufließen. Ich sagte mir vor, dass es jetzt gleich sei, ob ich mich länger in der Nähe der Grenze aufhielte oder nicht, und dass ich sicherer sei, je weiter ich ins Land hineinführe. Ich beschloss auch, die Nacht durchzufahren. Im Zuge fragte man weniger nach Papieren als in einem Hotel.

Es ist typisch, dass man glaubt, wenn man sich der Panik überlässt, überall seien Scheinwerfer auf einen gerichtet und die Welt habe nichts anderes zu tun, als einen zu suchen. Man hat das Gefühl, alle Zellen des Körpers wollten sich selbständig machen, die Beine wollten ein zuckendes Bein-Reich errichten, die Arme nichts als Abwehr und Schlagen sein, und sogar Lippen und Mund könnten nur noch zitternd den ungeformten Schrei zurückhalten.

Ich schloss die Augen. Die Versuchung, der Panik nachzugeben, war größer, weil ich allein im Abteil war.

Aber ich wusste, dass jeder Zentimeter, den ich jetzt nachgab, ein Meter werden würde, wenn ich einmal wirklich in Gefahr wäre. Ich erklärte mir, dass niemand nach mir suche; dass ich dem Regime so uninteressant sei wie eine Schaufel Sand in der Wüste und dass niemand mir etwas ansehen könne. Das war natürlich auch der Fall. Ich unterschied mich wenig von den Leuten um mich herum. Der blonde Arier ist eine deutsche Legende, keine Tatsache. Sehen Sie sich Hitler, Goebbels*, Heß* und den Rest der Regierung an – sie müssten sich alle eigentlich immerfort selbst als ihre eigene Illusion ausweisen.

Ich verließ den Schutz der Bahnhöfe zum erstenmal in München und zwang mich, eine Stunde spazieren zugehen. Da ich die Stadt nicht kannte, war ich sicher, dass auch mich niemand kennen würde. Ich aß im Franziskanerbräu. Das Lokal war voll. Ich saß an einem Tisch allein und horchte. Nach ein paar Minuten setzte sich ein schwitzender dicker Mann zu mir. Er bestellte ein Bier und ein Rindfleisch und las eine Zeitung. Ich war bisher noch nicht daraufge kommen, deutsche Zeitungen zu lesen, und kaufte mir zwei. Es war Jahre her, dass ich deutsch gelesen hatte, und ich musste mich immer noch daran gewöhnen, dass jeder um mich herum es sprach.

Die Leitartikel der Zeitungen waren entsetzlich. Sie waren verlogen, blutrünstig und arrogant. Die Welt außerhalb Deutschlands erschien in ihnen degeneriert, heimtückisch, dumm und zu nichts anderem nütze, als von Deutschland übernommen zu werden. Die beiden Zeitungen waren keine Lokalblätter, sie hatten früher einmal einen guten Namen gehabt. Nicht nur ihr Inhalt, auch ihr Stil war unglaublich.

Ich betrachtete den Zeitungsleser neben mir. Er aß, trank und las mit Genuß. Ich blickte mich um. Nirgendwo sah ich unter den Lesern Zeichen des Abscheus; sie waren an ihre tägliche geistige Kost gewöhnt wie an das Bier.

Ich las weiter, bis ich unter den kleinen Nachrichten eine über Osnabrück*n fand. Ein Haus an der Lotterstraße war abgebrannt. Ich sah die Straße vor mir. Man kam über die Wälle zum Hegertor und von da zur Lotterstraße, die hinaus aus der Stadt führte. Ich legte die Zeitung zusammen. Ich fühlte mich plötzlich einsamer als je zuvor außerhalb Deutschlands.

Langsam gewöhnte ich mich daran, dass Schock und fatalistische Apathie abwechselten. Ich gewöhnte mich auch daran, mich sicherer zu wähnen als bisher. Die Gefahr würde größer werden, wenn ich mich Osnabrück näherte, das wusste ich. Dort gab es Leute, die mich von früher kannten.

Ich kaufte mir einen billigen Koffer und etwas Wäsche und die Dinge, die für eine kurze Reise notwendig sind, um in Hotels nicht aufzufallen. Dann fuhr ich weiter. Ich wusste noch nicht, wie ich mich meiner Frau nähern sollte, und änderte meine Pläne jede Stunde. Ich musste es auf den Zufall ankommen lassen; ich wusste ja nicht einmal, ob sie nicht ihrer Familie nachgegeben hatte – die stramm für das Regime war – und jemand anderen geheiratet hatte. Nachdem ich die Zeitungen gelesen hatte, war ich nicht mehr sicher, dass jemand lange brauchen würde, um das zu glauben, was er las, besonders dann, wenn er keine Möglichkeit zum Vergleich hatte. Ausländische Blätter waren in Deutschland unter strenger Zensur.

 

In Münster ging ich in ein mittleres Hotel. Ich konnte nicht immer nachts aufbleiben und tagsüber irgendwo schlafen; ich musste riskieren, von einem Hotel in Deutschland bei der Polizei angemeldet zu werden. Kennen Sie Münster?“

„Flüchtig“, erwiderte ich. „Ist es nicht eine alte Stadt mit vielen Kirchen, in der der Westfälische Frieden* geschlossen wurde?“ Schwarz nickte. „In Münster und Osnabrück, 1648. Nach dreißig Jahren Krieg. Wer weiß, wie lange dieser dauern wird!“

„Wenn er so weitergeht, nicht lange. Die Deutschen haben vier Wochen gebraucht, Frankreich zu erobern.“

Der Kellner kam und erklärte, das Lokal würde geschlossen. Wir wären die letzten Gäste. „Gibt es kein anderes, das noch offen ist?“ fragte Schwarz.

Der Kellner erklärte, Lissabon sei keine Stadt für viel Nachtleben. Als Schwarz ihm ein Trinkgeld gab, wusste er ein Lokal, ein geheimes, sagte er, einen russischen Nachtklub. „Sehr elegant“, erklärte er.

„Wird man uns hineinlassen?“ fragte ich.

„Natürlich, mein Herr. Ich wollte nur sagen, dass es elegante Frauen dort gibt. Alle Nationen. Deutsche auch.“

„Wie lange ist der Klub offen?“

„Solange Gäste da sind. Jetzt sind immer Gäste da. Viele Deutsche jetzt, mein Herr.“

„Was für Deutsche?“

„Deutsche.“

„Mit Geld?“

„Natürlich, mit Geld.“ Der Kellner lachte. „Das Lokal ist nicht billig. Aber sehr unterhaltend. Könnten Sie sagen, dass Manuel von hier Sie geschickt hat? Sie brauchten dann weiter nichts anzugeben.“

„Muss man denn irgend etwas angeben?“

„Nichts. Der Portier schreibt einen Phantasienamen für Sie als Mitglied ein. Nur eine Formsache.“

„Gut.“

Schwarz zahlte die Rechnung. Wir gingen langsam die Straße mit den Treppen hinunter. Die blassen Häuser schliefen aneinandergelehnt. Aus den Fenstern hörte man das Seufzen, Schnarchen und Atmen von Leuten, die keine Passsorgen hatten. Unsere Schritte klangen lauter als am Tage. „Das Licht“, sagte Schwarz. „Überrascht es Sie auch so?“

„Ja. Man ist noch an das verdunkelte Europa gewöhnt. Hier glaubt man, jemand habe vergessen, es abzuschalten, und im nächsten Augenblick müsse ein Fliegerangriff kommen.“

Schwarz blieb stehen. „Wir haben es geschenkt bekommen, weil in uns etwas von Gott ist“, sagte er plötzlich pathetisch. „Und jetzt verbergen wir es, weil wir das bisschen Gott in uns morden.“

„Soviel ich in der Sage Bescheid weiß, bekamen wir das Feuer nicht geschenkt, sondern Prometheus* hat es gestohlen“, erwiderte ich. „Dafür vermachten die Götter ihm dann eine chronische Leber-Zirrhose. Das scheint mir auch besser zu unserm Charakter zu passen.“

Schwarz sah mich an. „Ich habe das Spotten längst aufgegeben. Die Angst vor großen Worten auch. Solange man spottet und Angst hat, versucht man, die Dinge auf ein kleineres Maß zu bringen als das, was sie haben.“

„Vielleicht“, sagte ich. „Aber soll man immerfort auf das Unmögliche starren und sagen: es ist unmöglich? Ist es nicht besser, es zu verkleinern und damit einen Streifen von Hoffnung hereinzulassen?“

„Sie haben recht! Verzeihen Sie mir. Ich vergaß, dass Sie auf der Flucht sind. Wer hat da Zeit, an Proportionen zu denken?“

„Sind Sie nicht auch auf der Flucht?“ Schwarz schüttelte den Kopf. „Nicht mehr. Ich gehe zum zweiten Male zurück.“

„Wohin?“ fragte ich erstaunt. Ich konnte nicht glauben, dass er noch einmal nach Deutschland wollte. „Zurück,“ erwiderte er. „Ich werde es Ihnen erklären.“