Zu dramatischen Ereignissen

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2. Die DDR war weder eine Insel der Seligen noch eine Insel im Strom der Weltpolitik

Natürlich ist es jetzt nach der Niederlage notwendig, das ganze theoretische und praktische Rüstzeug zu überprüfen, über das die SED und die deutsche Arbeiterklasse verfügte, und mit dem die DDR gegründet und gestaltet werden konnte, was davon für heute noch immer von Wert ist und was aus heutiger Sicht über Bord geworfen werden muss. Wichtig ist aber auch auszuloten, was aus den Erfahrungen dazu kommt. Zunächst möchte ich sagen, dass es notwendig ist, das ganze Gerede über den »aufrechten Gang« in der Versenkung verschwinden zu lassen. Den aufrechten Gang zu üben, haben andere notwendig, und nicht jene, die für eine neue, sozial gerechte Ordnung kämpfen, für eine Ordnung, die Frieden hervorbringt und nicht den Drang nach Expansion und Aggression.

Sie haben so vieles geschaffen, was im Gedächtnis des Volkes bleiben, was in die Zukunft wirken wird. Selbstverständlich brauchen wir eine selbstkritische und kritische Analyse der Vergangenheit, das habe ich bereits in meinen ersten Stellungnahmen zum Ausdruck gebracht, deren Veröffentlichung aus durchsichtigen Gründen unterbunden wurden. Aber die 2,3 Millionen ehemaliger Mitglieder der SED brauchen ihren Nacken nicht zu beugen vor den heutigen Herrschern. Das gilt für alle, die Werte schufen in Industrie und Landwirtschaft, die ihre Kraft und ihr Wissen in den Dienst der Wissenschaft, der Volksbildung, im Gesundheitswesen, in Körperkultur und Sport stellten.

Das gilt für alle, die in den bewaffneten Organen der DDR, der NVA, dem MDI oder in den Grenztruppen zur Sicherung der Grenzen ihre Pflicht taten, für alle, die im öffentlichen Dienst wirkten. Sie alle haben Großes geleistet, auch wenn es manchem schwerfällt, dies anzuerkennen. Vieles haben wir aus eigener Kraft geschaffen, vieles waren wir zu leisten imstande dank auch der Hilfe der Sowjetunion. L. I. Breshnew hatte vollkommen recht, als er zu mir am 28. Juli 1970 in Moskau im Krankenhaus, wo er sich zu einer Operation befand, sagte: »Vergiss nie, die DDR kann ohne uns, ohne die Sowjetunion, ihre Macht und ihre Stärke, nicht existieren, ohne uns gibt es keine DDR. Die Existenz der DDR entspricht unseren Interessen, den Interessen aller sozialistischen Staaten. Sie ist das Ergebnis unseres Sieges über Hitlerdeutschland. Deutschland gibt es nicht mehr, das ist gut so. Es gibt die sozialistische DDR und die Bundesrepublik.«

Ich habe das nie vergessen.

Wer die Nachkriegsgeschichte kennt, den gemeinsamen Kampf derer, die ehrlich für die Durchführung des Potsdamer Abkommens eintraten, die um das Hineinschlittern Europas in den Kalten Krieg wissen, kennt die Entstehung und die Rolle der DDR. Sie wissen, dass diese weder »künstlich noch unnatürlich« war. Sie wurde für Jahrzehnte ein Land, in dem der Sozialismus eine Heimstätte hatte, für das Volk der DDR fühlbar und für viele Menschen in der Welt sichtbar. Ohne kritischen Fragen aus dem Wege zu gehen: Wir haben in der Tat den Sozialismus in unserer Heimat verloren. Nicht alles ist heute schon klar, aber natürlich steht die Frage im Raum: Hatte der Sozialismus Mängel, haben wir, habe ich Fehler gemacht? Ja, das haben wir, das habe ich. In einer Stellungnahme, die ich bereits am 1. Dezember 1989 abgegeben habe und die der Öffentlichkeit trotz vielfältiger Bemühungen zu ihrer Publizierung vorenthalten wurde, habe ich erklärt: »Ich übernehme die volle Verantwortung für die entstandene Lage, die um so stärker ins Gewicht fällt, da ich die Funktion des Generalsekretärs, des Vorsitzenden des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates über lange Zeit ausübte…« Weiter erklärte ich, dass der in der Politbürositzung gegen mich und andere erhobene Vorwurf, die kritische Einschätzung der ernsten Lage in der Partei und im Land nicht geteilt zu haben, zutrifft.

Und im März 1990, nachdem manches schon weiter gereift war, hatte ich dann detaillierter definiert, was ich für die Kardinalfehler in der Politik der SED und von mir persönlich halte:

Erstens habe ich nicht rechtzeitig, nicht umfassend und realistisch eingeschätzt, dass es bis in die Reihen der Partei Unzufriedenheit über die mangelnde innerparteiliche Demokratie, über ungenügende Offenheit über die Probleme der Wirtschaft, Versorgungsengpässe, zu den Fragen einer notwendig gewordenen tiefgreifenden Demokratisierung der Gesellschaft und anderes gab.

Zweitens muss ich aus heutiger Sicht feststellen, dass die ideologische und propagandistische Arbeit unserer Medienpolitik nicht den Ansprüchen und den Erfordernissen der Zeit entsprach.

Drittens: Für die Bürger der DDR wurde immer unverständlicher, dass die unter damaliger Sicht vorgenommenen Reiseerleichterungen (5 bis 7 Millionen Bürger konnten jährlich in die BRD und nach Berlin (West) reisen) nicht von unnötiger Bürokratie befreit, erleichtert und erweitert wurden.

Ich wiederhole: Das erklärte ich bereits im März 1990! Alles in allem hätten wir unserer guten Sache noch besser dienen können und müssen. Dabei muss man natürlich berücksichtigen, dass die Errichtung einer neuen Gesellschaft ungeheuer viele neue Fragen aufwirft und nicht alle wurden rechtzeitig und richtig in Angriff genommen. Zu spät wurde zum Beispiel im gesamten sozialistischen Lager die Herausforderung durchschaut, die uns aus der wissenschaftlich-technischen Revolution, aus der raschen Entwicklung der Hochtechnologie in einigen wenigen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern erwuchs. Vor allem wurde in der Praxis in den meisten sozialistischen Ländern zu spät darauf reagiert.

Auch das durch Reklamefeldzüge und diverse andere Methoden verstärkte Konsumdenken fand nicht rechtzeitig unsere gebührende Aufmerksamkeit. Der verständliche Ärger über die sogenannten Mangelwaren – ich denke nur an Ersatzteile – erschwerte den Alltag, und nicht zuletzt hatte der Wunsch vor allem der jungen Generation, die Welt kennenzulernen, eine erhebliche politische Sprengkraft.

Nicht alle, aber viele dieser Probleme wären bei größerer Konsequenz lösbar gewesen. Es steht also völlig außer Frage, dass wir in 40 Jahren keineswegs nur Erfolge erzielt haben, sondern dass sich auch große Mängel in der Arbeit zeigten. Sie haben dazu geführt, dass eine beträchtliche Anzahl von Bürgern die DDR nicht bewusst als ihr Vaterland verstand. Aber es ist auch eine der infamsten Legenden der jetzigen politischen Sieger, so zu tun, als hätten wir nur Fehler gemacht. Der totale Verriss des Sozialismus soll der totalen Vernichtung jeglicher sozialistischer Ideen dienen. Außerdem stellt sich doch die Frage, ob unsere subjektiven Versäumnisse wirklich die entscheidenden Faktoren für unsere Niederlage waren. Es ist doch offensichtlich, dass es eine Vielzahl objektiver und subjektiver Faktoren, internationaler und nationaler, historisch aufzuarbeiten gilt. Wie wäre sonst der Zusammenbruch des Sozialismus in ganz Europa, einschließlich der Sowjetunion, zu verstehen?

Der totale Verriss der DDR konzentriert sich besonders auf die Fragen der Wirtschaft und der Demokratie. Dazu wäre folgendes zu sagen:

Die wirtschaftlichen Probleme der DDR

Nehmen wir die wirtschaftlichen Probleme: Es gab Strukturprobleme, Fragen der Investpolitik waren herangereift, eine andere Verteilung der Investitionen wurde erforderlich. Es gab in unserer Wirtschaft Schwerfälligkeiten, das ewig ungelöste Problem der Zubringerproduktion, Diskontinuität, Materialschwierigkeiten, die Schwerfälligkeit, auf bestimmten Bedarf zu reagieren. Es war erkannt, dass es ein Fehler war, die kleinen Betriebe so stark in den Kombinaten zu konzentrieren. Wir korrigierten nicht rechtzeitig. Es gab Preisprobleme und es gab vernünftige Ausarbeitungen, wie sie zu lösen wären, wir zögerten, konkrete Schritte einzuleiten. Versorgungslücken waren auf Rückstände in unserer Leichtindustrie zurückzuführen, die nicht die erforderlichen Investitionen erhielt, es gab Schwächen im Handel und es gab Sabotage im Großhandel. Die Fragen der wissenschaftlich-technischen Revolution, ihre Konsequenzen – es war klar, dass unser Konzept dazu weiter ausgearbeitet werden musste. Klar war, dass die Zweige der Automatisierung im großen Umfang Investitionen erhalten mussten, gefördert werden mussten, wenn wir die Produktion zum Beispiel im Maschinenbau auf das für den Inlandbedarf und den Export erforderliche Niveau bringen wollten. Das war keine subjektive Sicht auf die Dinge, das war ein objektives Erfordernis, wenn wir nicht auf »wirtschaftlichen Untergang« setzen wollten.

Das brachte natürlich Probleme mit sich, die Decke war zu kurz, die wir zum Verteilen hatten. Die wirtschaftliche Kooperation und Spezialisierung im Westen war weit fortgeschritten, aber der RGW funktionierte nicht, schon gar nicht in Bezug auf die neuen Fragen, die mit der wissenschaftlich-technischen Revolution in der neuen Phase zusammenhingen. Die Probleme verschärften sich mit der besonders nach 1985 aufgetretenen Schwächung der sowjetischen Wirtschaft. Wir waren abhängig und wir haben es schwer verkraftet, als die Reduzierung der Erdöllieferungen nicht rückgängig gemacht, die Lieferungen verschiedener Rohstoffe gekürzt wurden, die wir schon immer im Werte von 1,6 bis 2,1 Milliarden Valuta von der Sowjetunion bezogen. Im Jahre 1981 musste ich mich in einem Brief an das Politbüro des Zentralkomitees der KPdSU wenden, mit dem Hinweis, dass die einseitige Reduzierung der Öllieferungen von 19 Millionen Tonnen auf 17 Millionen Tonnen die Gefahr in sich birgt, die DDR zu erschüttern. Hinzu kam die Einstellung der Getreidelieferungen der Sowjetunion in Höhe von jährlich 3 bis 4 Millionen Tonnen, die wir im Wert von 2,3 Milliarden Valuta im Westen kaufen mussten, ein Umstand, der nicht in der Öffentlichkeit behandelt wurde. Wir standen zum Zeitpunkt des X. Parteitages vor der Frage, die Hauptaufgabe weiterzuführen, nachdem der Fünf-Jahr-Plan schon auf der alten Basis, der Berechnung auf der Grundlage bisheriger Lieferungen ausgearbeitet war. Wir haben das nicht offen gesagt. War es ein Fehler, die Hauptaufgabe dennoch weiterzuführen? Heute behaupten das manche. Aber welche Wahl hatten wir? Sollten wir Abstriche an den sozialpolitischen Maßnahmen machen? Die Bedürfnisse der Menschen waren gewachsen. Es war auch nicht nötig.

 

Das Risiko setzte große schöpferische Kräfte frei, Reserven wurden genutzt, Wissenschaftler, Arbeiter, Bauern gab ihr Bestes, um die entstandenen Schwierigkeiten zu überwinden. Wir rückten ins Zentrum unserer politischen Arbeit, dass nur verbraucht werden kann, was produziert wird. Zum Zeitpunkt des 7. Plenums 1988 spätestens war klar, wir mussten unseren Kurs überdenken, die herangereiften Fragen waren ernster Natur, aber sie wären lösbar gewesen.

Zur Frage der Demokratie

Bereits in meiner Erklärung zu Beginn 1990 habe ich gesagt: Es war ein Fehler, dass wir die auf dem 7. Plenum aufgeworfenen Fragen nicht zügig in Angriff nahmen, einschließlich solcher Probleme, die die weitere Entwicklung der Demokratie betrafen, die stärkere Einbeziehung des Volkes in die unmittelbare Leitung der Gesellschaft von Betrieb, Wohngebiet bis hin zu den Volksvertretungen, oder die Schaffung von Betriebsräten. Heute jedoch so zu tun, als hätte es im Sozialismus keine Demokratie gegeben, erfordert den Nebelschleier von dem modernistischen, klassenneutralen Gerede über Demokratie wegzuziehen. Was ist denn Demokratie, was sind ihre Grundlagen? Wirkliche Demokratisierung ist doch nur dort möglich, wo die Menschen, die die Werte schaffen, Eigentümer der wichtigsten Produktionsmittel sind, wo ihnen Grund und Boden gehören. Bürgerliche Demokratie ist, wo sie funktioniert, immer nur das, was die Arbeiterklasse dem Kapital an Freiräumen durch ihren Kampf abgewinnen konnte. Dort, wo das Kapital die Macht hat, ist das Volk entmündigt trotz bestehender demokratischer Strukturen und Mechanismen. Die Rederei über das entmündigte Volk im Sozialismus entbehrt jeder Grundlage. Wo das Volk Eigentümer der Produktionsmittel ist, gibt es keine wie immer geartete Ausbeutung, keine ökonomischen Zwänge, die zur Entmündigung führen. Reichten nun unsere demokratischen Strukturen, was war zu verbessern, was zu vervollkommnen? Unsere Demokratie funktionierte in vielen Kollektiven ungenügend, auf verschiedenen Ebenen war sie unvollkommen entwickelt, noch ungenügend war die Einbeziehung in Entscheidungsfragen, die Mitverantwortung, das Eigentümerbewusstsein war nicht genügend ausgeprägt. Aus der Sicht, das Vorhandene weiter auszugestalten, sprachen wir von Wahrung der Kontinuität und notwendiger Erneuerung. Wir waren in der Geschichte unserer Partei nie gegen Umgestaltungen, gegen neue Wege.

Diese Begriffe findet man, allerdings mit klaren Zielbestimmungen, schon lange vor 1985 in unseren Parteidokumenten. Wir waren gegen eine solche Art Erneuerung, wie sie heute in der Sowjetunion nach schmerzhaften Erfahrungen als Avantgardismus, als abenteuerlich bekannt werden, als Aufgabe des Marxismus-Leninismus. Entgegen allen anders lautenden Behauptungen sei hier unterstrichen, dass die DDR von Anfang an den Kurs der KPdSU, wie er ursprünglich beschlossen wurde, durch eine breite Entwicklung des Warenaustausches sowie des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes unterstützt hat.

Wie wohl in keinem anderen sozialistischen Land, wurden bei uns die Materialien der KPdSU über die Umgestaltung veröffentlicht. Aber ich bestreite nicht und bekenne mich heute erst recht dazu – und das war offiziell auch die Meinung der sowjetischen Führung über Jahre hinweg –, dass es nicht richtig und sogar gefährlich wäre, die Umgestaltung der Sowjetunion, die aus den Besonderheiten der sowjetischen historischen und aktuellen Entwicklungsbedingungen herrührten, auf die DDR zu übertragen. Wir hatten ökonomisch, sozial und historisch andere Bedingungen, die bei der Umgestaltung unserer Gesellschaft in Betracht gezogen werden mussten.

Die ideologischen Anforderungen

Ein weiterer Schwachpunkt in unserer Arbeit, zu dem ich mich auch in meiner Stellungnahme geäußert habe: War unsere ideologische, propagandistische Arbeit auf der Höhe der Anforderungen? Wir haben viel gemacht, aber reichte das angesichts der neuen Fragen, die auf diesem Gebiet auftauchten, reichte die Qualität aus?

Was waren da für neue Probleme? Hier möchte ich nur die massive gegnerische Einwirkung nennen, die von Helsinki ausgehende »Menschenrechtskampagne«, deren Wirkung aus heutiger Sicht schon gar nicht unterschätzt werden darf. Falsch war unser, hier meine ich alle sozialistischen Länder, Zurückweichen. Anstatt in die Offensive zu gehen, haben wir Freiräume geschaffen. Nicht wir haben die elementaren Menschenrechte eingeklagt. Wir haben zugelassen, dass unter der Flagge der »Freiheit« Rechte eingeklagt wurden, die die Imperialisten in ihren Ländern mit Füßen treten.

Nach Helsinki haben wir unsere Partei auf die von Korb 3 ausgehenden Gefahren gegnerischer Einwirkungen aufmerksam gemacht, aber offensichtlich die langfristig angelegten Wirkungen unterschätzt. Freie Meinungsäußerung, freie Bewegung der Menschen, nichts war aus unserer Sicht dagegen zu sagen.

Unsere Konzeption in Abgrenzung zu dem, was der Gegner wollte, war in Theorie und Praxis zu schwach und manches auch schwer machbar unter den Bedingungen in der DDR, denken wir an die Erweiterung des Reiseverkehrs. Jene, die an erster Stelle die Freizügigkeit über alle Grenzen forderten, rufen nun heute nach Maßnahmen gegen die »Völkerwanderung« aus dem Osten, die bereits eingesetzt hat.

Gab es Schematismus, Dogmatismus in unserer ideologischen Arbeit? Ja, das gab es. Was kam erschwerend für die ideologische Arbeit, für die Erziehung der Jugend hinzu? Warum ging der »Glaube« an sozialistische Ideale verloren, oder wurde erschüttert? Die Entstellung der Geschichte des Sozialismus, die Hervorhebung der Schwächen und Fehler durch die, die den Anspruch erheben, fehlerfreie Kommunisten zu sein und die der Partei den Rücken kehrten, all das wirkte natürlich zersetzend. Die Aufdeckung der Schwächen und Fehler, das war die eine notwendige Seite, um deutlich zu machen, was heute und morgen besser zu machen ist, es waren Lehren zu ziehen. Aber was wirkte so desorientierend? Es wurde über Medien, Propaganda, Literatur, Mittel der dramatischen Kunst eine grenzenlose »Abrechnung« mit dem Sozialismus geführt, er sollte als ein Weg des Betruges und der Verbrechen erscheinen. Daran beteiligte sich auch der Vorsitzende der PDS, Herr Gysi, indem er die SED als »reaktionäre« Partei und den Sozialismus als »Feudalismus« bezeichnete. So machte man es den Gegnern leicht, die alte These zu neuem Leben zu erwecken: Sozialismus ist gleich Faschismus. So wurden Zweifel gesät, an Idealen gerüttelt. Was hatte die KPD und später die SED für eine gigantische Arbeit geleistet, den Deutschen die Größe des Aufbauwerkes der Geschichte, die Leistungen des ersten sozialistischen Staates in der Welt nahezubringen. Ein Volk wurde buchstäblich von Feinden der Sowjetunion zu Freunden der Sowjetunion umerzogen. Es war doch historisch bedingt, dass die deutschen Kommunisten und Antifaschisten keinen Spalt zuließen, an der weltgeschichtlichen Rolle der Sowjetunion zu deuteln. Ohne die Periode Stalin, die in einer bestimmten Phase eine so schmerzliche war, zu verschweigen.

Rolle der Sowjetunion idealisiert?

Haben wir die Rolle der Sowjetunion idealisiert? Diese Frage stellte einmal Gorbatschow. Möglich, aber hatten wir das Recht, angesichts der ständigen intensiven westlichen Propaganda gegen die Sowjetunion, diese auch noch in den Dreck zu ziehen? Sie war für uns der Bannerträger des Sozialismus. Hat man vergessen, dass noch Reagan als Präsident der USA die Sowjetunion als Reich des Bösen bezeichnete, das man enthaupten müsse, dass es die Sowjetunion bis zum Untergang zu bekämpfen gälte? Eine Partei wie die SED, die Mehrheit des Volkes, ganze Generationen waren im unerschütterlichen Vertrauen zur Sowjetunion erzogen. Sie mussten nun zum zweiten Mal – so im Jahre 1956 und in den Jahren 1985 bis 1990 – verdauen, was nun nicht mehr vom Gegner kam, sondern aus Freundesland. Alles wurde plötzlich umbewertet. Alles auf dem wahrhaft dornenreichen Weg des Sozialismus, bis hin zum Sieg über den Faschismus, erfuhr eine »Neubewertung«, eine solche Geschichtsbetrachtung, in deren Licht die Entwicklung nicht nur eine von Fehlern begleitete Geschichte war, was ja natürlich ist, nein, es wurde alles in Frage gestellt, was bisher richtig schien, die Oktoberrevolution eingeschlossen. Wie konnte, wie musste sich unsere Partei dem stellen? Was hätte eine Konfrontation mit einer in der Sowjetunion offiziell geduldeten Politik bewirkt? Die Isolierung der DDR? Hätten das die Menschen verstanden? Wir waren doch für eine Änderung der Politik in der Sowjetunion, vor allem, was ihre Außenpolitik betraf. Man kann die Politik der DDR weder in positiver noch in negativer Hinsicht abgekoppelt betrachten von dem Geschehen in Europa und in der Welt. Es ist keine Überbewertung der DDR, aber es ist eine Tatsache, dass die Politik der DDR aus der Sicht einer sich immer schärfer zuspitzenden Weltlage, der atomaren Kriegsgefahr Ende der 70er Jahre mit zu den ersten gehörte, die die Initiative ergriffen zu einer Wende hin zur Entspannung in Europa, zu intensiven Kontakten zur Regierung der BRD und verschiedenen politischen Parteien und Kräften in der BRD und anderen westlichen Ländern. Wir waren bereits vor 1985 für Zusammenarbeit, für Dialog. Wir waren entsprechend der Vereinbarung mit Juri Andropow für die Fortsetzung der Gespräche mit der Regierung der BRD, trotz der Raketenstationierung in BRD und DDR.

Für letzteres, die Gegenstationierung, hatten auch wir 2 Milliarden Mark ausgegeben. Wie sich später Erholungssuchende in Warendorf überzeugen konnten, wurden nicht nur Einrichtungen für den Einsatz der Technik im Ernstfall gebaut, sondern auch Wohnhäuser, Schulen, Kindergärten und Restaurants für die Angehörigen der Sowjetarmee. Als 1984 mein offizieller Besuch in der BRD nach Absprachen mit dem Parteivorstand der CDU und der SPD stattfinden sollte, erschien in der »Prawda« ein scharfer Artikel, der, so wurde es in der Weltöffentlichkeit verstanden, de facto gegen den Besuch gerichtet war. Ich rief den damaligen Generalsekretär Tschernenko in dessen Urlaub an. Wir vereinbarten ein Treffen in Moskau, das im Kreml stattfand. Von Seiten der DDR nahmen teil die Genossen Axen, Hager, Honecker und Mielke. Von sowjetischer Seite Tschernenko, Gorbatschow, Ustinow, Tschebrikow und Russakow. Die Ergebnisse sind bekannt, der Besuch in der BRD fand damals nicht statt.

1985 begrüßten wir es, dass die Sowjetunion ihr sozialökonomisches Programm in Angriff nahm, damit es dem Volk besser geht. Alles andere, was sich in der Sowjetunion im politischen Leben vollzog, verstanden wir als innere Probleme, die sich von uns schwer einschätzen ließen. Es stimmt, dass ich zunehmend die Gefahr sah, die von gewissen Fehleinschätzungen des Imperialismus ausgehen würden und bereits ausgingen. Deshalb warnte ich, versuchten wir – offensichtlich waren aber, wie sich heute zeigt, nicht alle in unserer Führung davon überzeugt –, die innere Zersetzung in der DDR zu verhindern. Aber offensichtlich war dies weiter gediehen, als wir, als ich es einschätzte, die Partei eingeschlossen. Heute daraus ein negatives Verhältnis zur Sowjetunion zu konstatieren, ist dumm. Ich wollte, ich hätte nicht recht behalten. Ich bedaure zutiefst, dass es doch zu einer tiefen Krise in der Sowjetunion gekommen ist und dass deren Schwächung als Großmacht so ernste Folgen für die ganze Bewegung, für die Welt hat.

Zum neuen Denken beigetragen

Haben wir nun nichts in der Richtung der Erneuerung gemacht, zum neuen Denken beigetragen? Hierzu nur eine Bemerkung zu einem mutigen, risikoreichen Schritt in unserer Politik des Dialogs, des Zusammenwirkens mit Andersdenkenden. Es geht um die Arbeit der Grundsatzkommission des Zentralkomitees der SED und des Parteivorstandes der SPD, um das Dokument »Der Streit der Ideologien und die europäische Sicherheit«. Dessen Sinn war es, ungeachtet der Meinungsverschiedenheiten zwischen der SED und der SPD den Kampf um die europäische Sicherheit gemeinsam zu führen. Dies geschah in erster Linie aus der Verantwortung, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf. Dies geschah in einer Zeit, da die Großmächte, die USA und die UdSSR, was die Aktivitäten der DDR bezüglich ihrer Öffnung zur BRD betraf, nicht aufgeschlossen, sondern sogar kritisch gegenüberstanden. Um so mehr begrüßten wir die Idee vom Neuen Denken, die Aktivitäten zur Abrüstung, zur Schaffung eines europäischen Hauses. Allerdings hatten wir als Marxisten keine Illusionen, dass trotz der Annäherung der verschiedenen in der Welt existierenden Gesellschaftssysteme und der Möglichkeit ihres Miteinanders, Klassen, Klassenkampf, Arme und Reiche, Antikommunismus und Nationalismus von heute auf morgen aufhören würden zu existieren, oder dass verschiedene Ideologien und Wertvorstellungen über die weltanschaulichen Grenzen hinweg sich einfach aufheben ließen.

 

War unsere Partei genügend gerüstet, sich mit revisionistischen Auffassungen auseinanderzusetzen, die auch in dem erwähnten Dokument ihren Platz hatten? Offensichtlich waren wir dem »Ansturm« der Dritten-Weg-Theorie, der Postulierung eines nicht definierten demokratischen Sozialismus – den übrigens viele als eine neue Theorie ansahen, die jedoch so neu nicht ist, die immer schon im Arsenal der reformistischen Strömung der Sozialdemokratie zu Hause war – nicht gewappnet, da sie nun als neue Theorie international auf die Bühne trat. Der Reformismus ist derzeit die Hauptursache für die Zersetzung unserer Bewegung, die größte Gefahr, von der man sich frei machen muss, wenn man wieder festen Tritt fassen will im Kampf um den Sozialismus, und der ist nicht auf einem wie auch immer gearteten dritten Weg zu haben.

Zur Rolle der Opposition

Was wussten wir, wieviel Spielraum hatte die Opposition, warum gelang es nicht, eine gegen den Sozialismus gerichtete Bewegung zu kanalisieren? Es gab eine weitgehende Zusammenarbeit mit verschiedenen Strömungen, mit diversen Kräften in der Gesellschaft, auch mit Kirchenkreisen, mehr als manche heute glauben machen möchten. Das Streben nach einem breiten Bündnis vernünftig und realistisch denkender Menschen entsprach unserer Dialogpolitik. Es gab schließlich nicht nur interne Gespräche, sondern der Öffentlichkeit weithin bekannte Aktionen, Konferenzen und Treffen, die wir partnerschaftlich mit kirchlichen, pazifistischen und anderen Organisationen mitgetragen haben. Es gab in diesen Kreisen Menschen, die es subjektiv ehrlich meinten, die aber von uns oft politisch negativ beurteilt wurden. Das trug dazu bei, sie einseitig in die falsche Richtung zu drängen. Aber es war und ist auch nicht immer leicht, die Spreu vom Weizen zu trennen. Nehmen wir die Rolle der Kirche in diesem Zusammenhang. Die evangelische Kirche begann 1985 hinter dem Vorhang von »Perestroika« und »Glasnost«, die Gotteshäuser in »Parteihäuser« zu verwandeln. Die Leitung der evangelischen Kirche zwang sogar einen Bischof, Herrn Bischof Gienke, zum Rücktritt, weil er den Vorsitzenden des Staatsrates zur Einweihung des restaurierten Greifswalder Domes einlud. Nicht wenige von ihnen spielten keine gute Rolle. Während der Novembertage gab es kaum eine Demonstration, die nicht von Pfarrern angeführt worden wäre. Es gab nur wenige entscheidende Funktionen nach der »Wende«, die nicht von Pfarrern besetzt worden wären. Als besonders markantes Beispiel sei Herr Eppelmann erwähnt, der sich stets als eine Art Oberpazifist herausstellte. Er entdeckte jedoch plötzlich als Armee-Minister seine Liebe für Soldaten-Appelle, Paraden und Manöver.

Aber auch im Verhalten der Pfarrer und im Verhalten der Kirchenleitungen gab es Unterschiede, es gab nicht wenige, die ehrlich für die DDR, für die Kirche im Sozialismus eintraten. Es ist jedoch eine Vereinfachung, die gesamte Opposition als Andersdenkende zu qualifizieren. Der Kern der Opposition war gegen den Sozialismus gerichtet. Übersahen dies die Drahtzieher der Wende? Oder kalkulierten sie dies ein im Interesse der Beseitigung der deutschen »Zweistaatlichkeit«, die letztlich zur Liquidierung des Sozialismus führen musste. Es gab, was niemand übersehen konnte, Feinde des sozialistischen deutschen Staates, die wollten seine Schwächung und den Sturz der Arbeiter-und-Bauern-Macht, die Beseitigung des Systems. Damit zur Frage, was der Charakter der »friedlichen Revolution« war. Man kann die These aufstellen, wie Reißig, dass es sich um einen evolutionären Prozess handelte, der zur Revolution führte. Es gab in der Tat eine Anhäufung von Faktoren, die über einen längeren Zeitraum wirkten, wie gesagt, sowohl innere wie äußere Ursachen, aber unbestreitbar bleibt, ob dieser Begriff »zeitgemäß« ist oder nicht, ihrem Charakter nach war diese »friedliche Revolution« eine Konterrevolution. Als was sonst kann man die Gegenkräfte, die schließlich zum Sturz des Sozialismus, zur Wiedererrichtung des ökonomischen und politischen Systems des deutschen Imperialismus im Gewände der bürgerlichen Demokratie führten, bezeichnen? Man kann es drehen, wie man will, es war ein Kampf um die Macht, um die Zurückeroberung der vor über 40 Jahren verlorengegangenen Macht der Bourgeoisie. Nicht um den Sturz einer »persönlichen Macht«, den Sturz der »Herrschaft des Politbüros« ging es, sondern um die Enteignung der Volkseigenen Betriebe, die Liquidierung der landwirtschaftlichen Genossenschaften, des sozialistischen Eigentums. Es ging um die Beseitigung der DDR, deshalb auch um die Beseitigung von Wissenschaftseinrichtungen, Gesundheitseinrichtungen, um die Liquidierung all dessen, was mit dem Land DDR verbunden war. Die alten Kapitalisten holten sich »ihre Betriebe« zurück. Es ging schlicht und einfach um die Wiedererrichtung der Macht der Monopole. Wie hätten wir unsere Macht verteidigen können? Mit der NVA? Es wäre Selbstmord gewesen.

Unvollkommenheit des Sozialismus

In fast allen sozialistischen Ländern vollzog sich nach einer internationalen Regie die Konterrevolution. Was war dem entgegenzusetzen? Alle marxistischen Parteien in diesen Ländern wurden nach dem gleichen Drehbuch zerschlagen. Haben wir alle unterschätzt, welche Gefahren sich aus der neuen Politik für die Menschheit ergaben? Nein, denn niemand konnte damit rechnen, dass die sozialistischen Länder auf dem Altar des neuen Denkens geopfert werden würden. Es war doch ein verhängnisvoller Irrtum, anzunehmen, dass mit diesem neuen Denken die Unterschiedlichkeit der Gesellschaftssysteme, ob ihre Modelle nun so oder so aussehen, aufhören würden zu existieren. Wie gesagt, ich sehe eine Ursache für Irrtümer, eine Ursache auch für den Verlust an Identität vieler Menschen mit dem Sozialismus nicht zuletzt darin, dass in den letzten Jahren die Geschichte des Sozialismus nicht objektiv bewertet wurde, mehr noch, dass die Unvollkommenheit einer historisch noch jungen Gesellschaftsordnung mit ihren Widersprüchen nicht allseitig dargestellt wurde, und die Irrtümer und ernsten Fehler, die auf dem Weg in eine neue Gesellschaftsordnung gemacht wurden, auf eine Art und Weise ins Bewusstsein gerückt wurden, dass die Errungenschaften und Ideale des Sozialismus als Alternative für die Menschheit überhaupt in Frage gestellt wurden. Unsere Schwäche bestand darin, dass wir offensichtlich nicht vermochten, unsere sozialistischen Ideale in jeder Hinsicht für den Einzelnen erlebbar zu machen. Wir haben nie bestritten, dass der Sozialismus sich noch in einem unvollkommenen Stadium befindet und auch objektiv dem Erstrebenswerten Grenzen gesetzt sind, dass er aber über unerschöpfliche Potenzen seiner Weiterentwicklung verfügt.

Die Frage, wie der heute so beschworene demokratische Sozialismus heute und in Zukunft aussehen könnte, bleibt unbeantwortet. Wie man diesen auch definieren mag. wenn sich dahinter nichts anderes verbirgt als ein »demokratischer« Kapitalismus, kann von Sozialismus keine Rede sein. Sozialismus, so meine ich, soll er funktionieren, muss wirtschaftliche Effektivität sichern, mehr als wir bisher erreichten. Mitbestimmung und Verantwortung der Arbeiter, der Bauern, der Jugend, der Intelligenz, der Frauen, aller Bürger muss noch umfassender im täglichen Leben verwirklicht werden. Leistungsprinzip und soziale Sicherheit in Übereinstimmung zu gewährleisten, bleibt eine Aufgabe. Das geistige Leben ist tiefer, vielfältiger zu entwickeln und Achtung vor dem anderen und sich selbst, Toleranz und Verantwortung des Einzelnen und der Gesellschaft für den Einzelnen sind moralische Werte, die tief in der sozialistischen Gesellschaft wurzeln müssen. Es bleibt eine unumstößliche Wahrheit – Sozialismus ist dort, wo Frieden, das Recht auf Arbeit, Solidarität, wo die entscheidenden Menschenrechte garantiert sind. Sonst ist alles Gerede über die freie Entfaltung der Individualität des Menschen Schall und Rauch. Es wird oft die Frage gestellt: Gab es Erfahrungsaustausch der sozialistischen Länder über solche Grundfragen, über die Politik? Ja, den gab es auf allen Ebenen und auf den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen. Es gab einen fruchtbaren Erfahrungsaustausch, auch Meinungsstreit, und es gab Zusammenarbeit. Auf höchster Ebene hatten wir den Politischen Beratenden Ausschuss und die Treffen der Ersten Sekretäre bzw. Generalsekretäre. Es wurden Erfahrungen ausgetauscht, besprochen, was unsere gemeinsame Strategie sein müsste. Haben wir offen darüber gesprochen, dass friedliche Koexistenz, der Wettbewerb auf ökonomischem, ideologischem Gebiet, die Zusammenarbeit, das Nebeneinander der Systeme den Klassenkampf nicht abschafft? Gesprochen wurde darüber, aber wie haben wir uns auf diesen Kampf eingestellt?

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