Lebendige Seelsorge 1/2020

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Lebendige Seelsorge 1/2020
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THEMA

Zeit der Arbeit – Raum der Muße

Von Günter Figal

Produktive Unterbrechungen: Faszination Lesen

Von Christoph Gellner

Muße-Erzählungen?

Die Replik von Günter Figal auf Christoph Gellner

Arbeiten und Wirken, (Nichts-)Tun und Lassen

Die Replik von Christoph Gellner auf Günter Figal

Der Verlust der Muße oder was wir vom barocken Zeitalter lernen könnten

Von Peter Hersche

PROJEKT

Ein Jahr Aufatmen und dann …

Was bleibt von einem Experiment im Bistum Osnabrück?

Von Daniela Engelhard

INTERVIEW

Die Poetik des Bauens

Ein Gespräch mit Jörn Köppler

PRAXIS

Napolitudine

Inspirationen mediterraner Lebenskunst Von Christian Bauer

„Geld und ein eigenes Zimmer“ (Virginia Woolf)

Über die Bedingungen von Muße Von Ute Leimgruber

Muße, oder: Zum Erfolg befreit

Von Matthias Sellmann

Meine Muße

oder: Wie ich lernte, der Singularisierung zu entsagen

Von Bernhard Spielberg

FORUM

Ruhe mit Potenzial

Ein exegetischer Zwischenruf – angeregt durch Gen 2,2

Von Christian Schramm

SEELSORGE UND DIASPORA: BONIFATIUSWERK

„Ich möchte einfach nur hier sitzen!“ – geistliche Übungen als sinnerfüllte Muße

Exerzitienangebot des Bonifatiuswerkes im norwegischen Marienkloster auf Tautra Von Sebastian Schwertfeger

Im Dienst einer vielfältigen Diaspora

Das Bonifatiuswerk als Hilfswerk für den Glauben

Von Georg Austen

POPKULTURBEUTEL

PutZen

Von Bernhard Spielberg

NACHLESE

Re: Lecture

Von Erich Garhammer

Buchbesprechungen

Impressum

Die Lebendige Seelsorge ist eine Kooperation zwischen Echter Verlag und Bonifatiuswerk.


Erich GarhammerSchriftleiter

Liebe Leserin, lieber Leser,

viel Freude am ersten Heft des Jahres 2020 und ein herzliches Willkommen allen bisherigen Leser*innen der Zeitschrift „Lebendiges Zeugnis“. Die „Lebendige Seelsorge“ will Ihnen eine neue Heimat bieten, nicht nur durch die Rubrik „Seelsorge und Diaspora: Bonifatiuswerk“, die Sie in jedem Heft finden werden. Sie verwöhnt Sie auch mit anregenden Themen.

Warum aber ein Themenheft „Muße“ in kirchlich und gesellschaftlich aufregenden Zeiten? Was ist mit den brennenden Themen „Synodaler Weg“, „Frauen (in) der Kirche“, „Kirche und Geld“ oder der immer angemahnten „Gotteskrise“? Diese Themen werden Sie in den nächsten Heften behandelt finden. Aber das Thema „Muße“ ist kein harmloses Thema. Es stellt vor die Frage: Beute ich mich oder andere aus in meiner Arbeit, kommt meine Arbeit aus einer Ruhe und Gelassenheit mit dem Blick aufs Notwendige oder führt sie mich und andere in die Erschöpfung?

Der Philosoph Günter Figal lädt dazu ein, die Arbeit von der Muße her zu definieren, nicht umgekehrt, Christoph Gellner empfiehlt das Lesen als Freiraum jenseits von Nutzenskalkülen, der Historiker Peter Hersche macht uns mit dem Mußekonzept der Barockzeit vertraut, die Leiterin des Seelsorgeamtes Osnabrück Daniela Engelhard berichtet vom Experiment des Aufatmens in ihrem Bistum und den bleibenden Früchten und der Architekt Jörn Köppler begreift das Bauen nicht nur technisch, sondern als poetisches Phänomen.

Vier Pastoralthelog*innen, zugleich Mitglieder der Schriftleitung dieser Zeitschrift, buchstabieren Muße biografisch und geben somit Einblicke in Persönliches. Der Exeget Christian Schramm erläutert den Unterschied zwischen Muße und Sabbat und lädt ein zu einer sabbatlichen Kultur: die Ruhe ist die Krönung der Schöpfung, nicht der Mensch, schon gar nicht die Arbeit. Mit diesem Heft beginnt Andreas Feige seine Tätigkeit als neuer Redakteur. Der bisherigen Redakteurin Elisabeth Hasch gilt für ihre vorzügliche Arbeit der Dank des Verlags und der Schriftleitung.

Viel Muße bei der Lektüre wünscht Ihnen

Ihr


Prof. Dr. Erich Garhammer

Schriftleiter

Zeit der Arbeit – Raum der Muße

Sobald man etwas tut, bei dem man die Zeit unwichtig findet oder gar vergisst, also etwas ‚in Muße‘ tut, kann deutlich werden, was einem bei der Arbeit entgeht. Vielleicht wird man so auch lernen, die Arbeit von der Muße her zu fassen, statt umgekehrt die Muße von der Arbeit her als ‚Freizeit‘ misszuverstehen. Günter Figal

Das Wort ‚Muße‘ klingt etwas altmodisch, als wäre es aus der Zeit gefallen. Wenn man das Wort hört, denkt man vielleicht an biedermeierliche Gartenidyllen – eine Familie im Baumschatten am Teetisch – oder, sofern man der Wortgeschichte nachgegangen ist, an noch weiter zurückliegende Phänomene. Als Übersetzung des griechischen ‚σχολή‘ und des lateinischen ‚otium‘ bezeichnet das Wort eine Lebensweise, die der Betrachtung gewidmet und so dem aktiven Leben entgegengesetzt ist. Zur vita contemplativa gehört Muße, während diese der vita activa fehlt – bezeichnenderweise ist das lateinische Wort für eine öffentliche, dienstliche oder geschäftliche Tätigkeit ‚negotium‘, was ‚Unmüßigkeit‘ heißt. Betrachtend ist das Leben von Philosophen in ihren Akademien, von Gelehrten und Literaten, die unbehelligt von Tagesgeschäften ihren Gedanken nachgehen. Die Muße, in der ein solches Leben geführt wird, ist keine Freizeit, auch keine ‚Auszeit‘. Beide Wörter bezeichnen eine Ausnahme, der gegenüber etwas anderes, nämlich die Arbeit, der Normalfall wäre. Wer hingegen in Muße lebt, muss an Arbeit gar nicht denken, ohne deshalb untätig zu sein. Philosophische oder allgemein gelehrte Studien, die Lektüre und das Schreiben von Gedichten sind Tätigkeiten, aber offenbar keine Arbeit im Sinne der ‚Unmüßigkeit‘. Was aber dann?

WIE BIN ICH TÄTIG?

Mit dieser Frage könnte das Nachdenken über Muße jenseits historischer Reminiszenzen interessant werden. Offenbar gibt es verschiedene Arten des Tätigseins, die man miteinander vergleichen und so klären kann. Dabei mag einem bewusst werden, wie man selbst tätig ist, und das wiederum könnte ein Anlass für die Frage sein, ob man so tätig sein möchte. Sinnvoll ist die Frage nur, wenn es Alternativen gibt. Ist die Muße, ehemals das Vorrecht von Philosophen, Gelehrten und Literaten, allgemein eine solche Alternative?

Ein Vergleich des Tuns in Muße mit der Arbeit mag dazu beitragen, das zu entscheiden. Unter Arbeit versteht man im Allgemeinen eine Tätigkeit, die in einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten Ergebnis führen soll. Arbeitszeit ist begrenzt, aber in dieser Zeit ist eine bestimmte Leistung zu erbringen. Außerdem wird meist erwartet, dass die Arbeit innerhalb einer vorher festgelegten Zeit zu einem Ergebnis führt, nicht selten auch, dass zu einer festgelegten Zeit gearbeitet wird. Arbeit, derart verstanden, ist also zeitgebundene Tätigkeit; sie vollzieht sich nach einer zeitlichen Ordnung, in der gemessenen Zeit, und sie unterliegt zeitlich bestimmten Erwartungen. Diese Bestimmung der Arbeit ist so formal, dass sie auf sehr verschiedene Tätigkeiten zutrifft. Es ist die Zeitgebundenheit, die Tätigkeiten, so verschieden sie sein mögen, zur Arbeit macht.


Günter Figal

Dr. phil. habil., Prof. em. für Philosophie an der Universität Freiburg; freier Autor.


Ginkaku-ji, Kyoto, Tee- und Dichterhaus von Ashikaga Yoshimasa

Fotografie: Günter Figal

Wenn das Tun in Muße sich im Kontrast zur Arbeit bestimmen lässt, müsste es demnach ohne Zeitgebundenheit sein, und so lässt sich dieses andere Tun, das Tun von Gelehrten oder Dichtern, in der Tat beschreiben. Wer in Muße seinen Studien nachgeht oder Gedichte schreibt, möchte zwar etwas erreichen oder auch zustande bringen. Aber es ist dabei unwichtig, ob man in einer bestimmten Zeit zu Einsichten kommt oder Gedichte innerhalb einer bestimmten Frist fertig werden – sich derart unter Druck zu setzen dürfte sogar hinderlich sein. Zu Tätigkeiten wie den genannten gehört im Gegenteil, dass man sie nicht forciert; sie müssen sich entwickeln können und entsprechend gehört zu ihnen auch das Nichtstun – das Innehalten, bei dem man Texte, die man gelesen hat, wirken lässt oder Texten, die man schreibt, Gelegenheit gibt, wie von selbst zu entstehen; wenn man bei literarischen Texten, Gedichten vor allem, den Eindruck hat, dass sie ‚gemacht‘ sind, ist das von Nachteil. Nachdenken, Studieren und Dichten braucht Muße, es lässt sich nicht zielgerichtet erledigen. Vielleicht tut man zwischendurch sogar etwas, das in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der Sache steht, die einen beschäftigt. Man schaut ein Buch oder ein Bild an, räumt auf oder geht spazieren. Vielleicht fällt einem gerade dabei etwas zu einer Frage ein, der man nachgeht, oder zu dem Text, an dem man schreibt.

 

James-Simon-Galerie, Museumsinsel Berlin (David Chipperfield Architects) Fotografie: Günter Figal

TÄTIGSEIN IN MUSSE

Tätigkeiten in Muße sind demnach solche, bei denen die Zeit keine Rolle spielt. Zwar läuft die Uhr weiter, es wird Mittag und Abend, es können auch Wochen, sogar Monate vergehen. Aber der Zeitlauf strukturiert diese Tätigkeiten nicht. Deshalb sind sie meist auch nicht durchgeplant und ohne jede Zielstrebigkeit. Sie kommen ohne zeitliche Ordnung, also ohne Zeit, aus und sind in diesem Sinne ‚zeitlos‘.

Möglicherweise hat man deshalb bei Tätigkeiten in Muße auch nicht das Gefühl, besonders aktiv zu sein. Man tut etwas, gewiss, aber dieses Tun ist eigentümlich gelassen. Es gehört in den Zusammenhang anderer möglicher Tätigkeiten und vor allem gehört es mit dem Nichttun zusammen, mit dem Innehalten und Verweilen. Statt auf eine besondere Tätigkeit konzentriert zu sein, erlebt man so eher eine Situation und mit dieser einen Freiraum, in dem Tun wie Lassen möglich ist und in dem man vor allem einfach sein kann, auch ohne sich für ein bestimmtes Tun oder zwischen Tun und Lassen entscheiden zu müssen.

Sollte dieses einfache Seinkönnen in einem Freiraum die Muße sein? Dann wäre Muße kein besonderer Modus des Tuns – derart, dass man dasselbe ‚in Muße‘ tun könnte oder auch nicht – sondern vielmehr die Möglichkeit eines Freiraums, auf den man sich einlassen kann. Muße wäre raumhaft, und dazu passt, dass das Wort ursprünglich einen Frei- oder Spielraum bezeichnet, einen Raum, der Möglichkeiten gibt und als die Offenheit dieser Möglichkeiten erfahren werden kann. Entsprechend könnte ein Tun in Muße darin gelassen sein, dass es in ein Ensemble von Möglichkeiten zurückgenommen ist und dass es weniger auf das Tun ankommt, als darauf, dieses Ensemble in seiner Offenheit zu leben.

MUSSE ALS FREI- UND SPIELRAUM

Der Raumcharakter der Muße wird dadurch bestätigt, dass es besondere Mußeräume gibt, Räume also, die das Seinkönnen in einem Freiraum auf je besondere Weise möglich machen. Die philosophischen Akademien waren solche Räume, Bibliotheken können es sein, auch Museen oder Gärten wie zum Beispiel der Wandelgarten des Tempels Ginkaku-ji, den sich Ashikaga Yoshimasa am nordöstlichen Rand von Kyoto anlegte, nachdem er 1482 sein Amt als Shōgun aufgegeben hatte, um sich dem Nachdenken, dem Lesen und Schreiben von Gedichten zu widmen – wodurch übrigens eine lang andauernde literarische Kultur begründet wurde.

Auch Hotels können Mußeorte sein oder Bäder, die keine Unterhaltungseinrichtungen sind, sondern zur Ruhe kommen und in Ruhe sein lassen wie zum Beispiel Peter Zumthors Therme in Vals in Graubünden. Und es gibt Mußeräume, die eher für einen kurzen Aufenthalt gedacht sind, für eine Weile, in der man vielleicht Eindrücke und Erfahrungen nachklingen lässt. So ist der von David Chipperfield Architects gebaute Säulenhof zwischen dem Neuen Museum und dem Pergamonmuseum in Berlin, ein ebenso weitläufiger wie intimer Raum, einzig von einem flachen Steinbrunnen akzentuiert, dessen murmelndes Wasser man hört, während man im Schatten auf einer Bank sitzt und dem Licht zwischen den Säulen zuschaut.

Mußeräume wie die beschriebenen haben gemeinsam, dass sie keine Richtungen vorgeben und also auch nicht in einer Richtung durchquert werden müssen. Sie sind vielmehr dezentral und lassen in ihrer Dezentralität frei, wie man die Möglichkeiten, die sie bieten, wahrnimmt. An japanischen Wandelgärten wie dem des Ginkaku-ji ist das besonders sinnfällig zu erfahren. Solche Gärten bieten viel Raum auf gar nicht so großer Fläche. Man überschaut sie eigentlich nie, und jeder Weg, jeder Ort zum Innehalten gibt eine neue Perspektive, die immer eine auf denselben Garten ist, sodass man an jedem Ort im Garten ist, dort, wo man sein will ‚einfach hier‘, in diesem Garten. Auch Museen können derart sein, und so ist das ‚Museum des 21. Jahrhunderts‘ in Kanasawa in Japan. Der Bau des Architektenbüros SANAA ist nicht nur Kunstausstellung, sondern vor allem Aufenthaltsort, er ist locker in von einem runden Glasbau umfasste Kuben gegliedert und legt auf keinen ‚Weg durch die

Ausstellung‘ fest. So erlebt man mit jedem Exponat nicht nur die Ausstellung, sondern auch den Raum, in dem man ‚einfach hier‘ ist und frei darin, wie man ihn erkunden will. Muße, so zeigt sich an diesen Beispielen, ist räumliche Freiheit. Sie ist die Möglichkeit, einen Freiraum wahrzunehmen und in diesem, ihm entsprechend, zu sein. Und es sind gebaute und angelegte Mußeräume, mit denen diese Möglichkeit bereitgestellt ist. Sie zu bauen und anzulegen heißt, sich eigens um die Möglichkeit der Muße zu kümmern.


Museum des 21. Jahrhunderts, Kanasawa, Präfektur Ishikawa (SANAA) Fotografie: Günter Figal

MUSSE IST ETWAS ANDERES ALS FREIZEIT

Allerdings mögen die genannten Beispiele auch ein Bedenken nahelegen: Muße, so scheint es, ist eine Ausnahme. Sie ist wenigen vorbehalten oder, wenn es anders ist, dann nur für eine begrenzte Zeit möglich. Wie aber soll man in einer begrenzten Zeit die Zeit vergessen? Wenn das unmöglich ist, scheint Muße doch nichts anderes als Freizeit zu sein, bemessene Frist, die sich darin, dass sie zeitbestimmt ist, nicht grundsätzlich von der Arbeit unterscheidet.

Um dieses Bedenken zu entkräften, könnte man als erstes darauf hinweisen, dass Muße in mannigfachen Freizeitgestaltungsmöglichkeiten, wie man sie kennt, nicht aufgeht. Man kann auch in Muße ‚arbeiten‘, und bestimmte Tätigkeiten, die sogenannten ‚kreativen‘, sind eigentlich nur in Muße möglich. Außerdem ist es kein Einwand gegen die Möglichkeit der Muße, dass diese nicht das ganze Leben ausfüllt. Schon Aristoteles weist darauf hin, das beide, Muße und ‚Unmüßigkeit‘ (ἀσχολία), also Arbeit im erläuterten Sinne, das menschliche Leben bestimmen (vgl. Aristoteles, 4–26). Auch wäre es seltsam, wenn man bei allem, was nur in begrenzter Zeit möglich ist, immer an die zeitliche Begrenztheit denken müsste. Wer ein Konzert hört und dabei von der Musik eingenommen ist, wird während des Zuhörens kaum daran denken, dass die Musik nur eine bestimmte Zeit dauert. So wird es immer dann sein, wenn man bei einer Sache ist. Eine Sache, die für sich einnimmt, lässt die Zeit unwichtig werden und nicht selten vergessen. Und schließlich wird die Bedeutung, die Muße für das Leben hat, nicht allein daran zu messen sein, wie viel Zeit das Leben in Muße im Vergleich mit der Arbeitszeit einnimmt. Entscheidend ist vielmehr, welche Lebensform wichtiger ist, weil sie dem menschlichen Leben mehr entspricht. Aristoteles lässt daran, wie er das einschätzt, keinen Zweifel. Wir seien ‚unmüßig‘ um des Müßigseins willen, nicht umgekehrt (vgl. Aristoteles, 4–5).

WIR SIND UNMÜSSIG DER MUSSE WEGEN

Worin liegt dieser Vorrang eines Lebens in Muße? Unter der Voraussetzung, dass ein Leben in Muße allein ein ‚betrachtendes Leben‘, also ein philosophisches Leben, ist, sieht Aristoteles den Vorrang dieses Lebens in seiner Selbstgenügsamkeit und in seiner Vollendung. Das philosophische Betrachten braucht niemand anderen, und ist nicht darauf angelegt, etwas, das noch nicht verwirklicht ist, zu erreichen, sondern ist immer das, was es ist.

Diese Antwort wird man nicht übernehmen müssen, wenn sich das Leben in Muße als ein Leben in räumlicher Freiheit begreifen lässt. Statt zwischen einem vollendeten und einem nicht vollendeten Leben zu unterscheiden, wird man dann sagen können, dass Muße und Arbeit nicht einfach im Gegensatz stehen, sondern dass die Arbeit voraussetzt, was sich in der Muße erschließt. Jedes Tun braucht räumliche Freiheit, einen Freiraum, in dem es vollzogen werden kann; jedes Tun vollzieht sich im Spielraum verschiedener Möglichkeiten, die ‚nebeneinander‘ da sind. Und jedes Tun ist überhaupt nur möglich, weil man ‚einfach hier‘ ist, dort wo man ist und tut, was man tut. Im zielgerichteten, zeitbestimmten Arbeiten wird diese Raumbestimmtheit des Lebens nicht frei. Sie bleibt unbeachtet, verdeckt, weil die ganze Aufmerksamkeit der Zielrichtung, der Planung einzelner Schritte und vor allem der Zeit gilt, von der das Tun bestimmt ist. Demgegenüber ist Muße von der Zeit unabhängig. In ihr wird die Raumbestimmtheit des Lebens zu räumlicher Freiheit.

Damit ist nicht gesagt, dass die räumliche Freiheit sich immer und in jeder Situation unverdeckt leben ließe. Arbeit lässt sich nicht abschaffen, und insofern wird das Leben in Muße im Allgemeinen nicht das einzige sein können. Gemessen am Arbeitsleben wird es immer eine ‚Ausnahme‘ sein, und es wird in der Tat nur unter besonderen Bedingungen anders als für eine begrenzte Zeit möglich sein. In dieser begrenzten Zeit – in der man die Zeit vergisst – kann jedoch deutlich werden, dass einem bei der Arbeit entgeht, was sich in Muße erschließt. So kann man lernen, die Arbeit von der Muße her zu sehen, statt umgekehrt die Muße von der Arbeit her und so nur als ‚Freizeit‘.

GEBAUTE FREIRÄUME

Was über Muße und Arbeit gesagt wurde, gilt analog auch für die Architektur. An den Mußeräumen, die für das Leben in Muße so wichtig sind, kann man lernen, dass Bauwerke, die ‚einfach hier‘ sein lassen, den Sinn der Architektur klarer erfüllen als schematische Funktionsbauten, deren Raumgestaltung der Erfüllung zeitlicher Vorgaben verpflichtet ist. Architektur ist gebauter Raum, und der japanische Garten ist ‚mehr Raum‘ als die Fertigungshalle einer Fabrik – es sei denn, es gelingt, Fertigungshallen zu bauen, die auf ihre Weise den klaren Raumsinn eines japanischen Gartens realisieren. Das ist keine Utopie, denn es gibt solche Bauten – um sie zu sehen, muss man nur den Vitra Campus in Weil am Rhein besuchen. Gute Architektur zeigt immer, dass Bauwerke nicht in ihren Funktionen aufgehen müssen und so Funktionalität in die Offenheit von Freiräumen gestellt werden kann. Was Architekten können, sollte auch sonst nicht unmöglich sein, und entsprechend müsste man die Arbeit auch von der Muße her sehen können. So würde sich das Verständnis von ‚Arbeit‘ verändern, wohl nicht auf einen Schlag, aber allmählich und wohl mit Folgen, die noch nicht absehbar sind.

LITERATUR

Aristoteles, Nikomachische Ethik X.7; 1177b.

Produktive Unterbrechungen: Faszination Lesen

Die Gegenwartsliteratur fokussiert verstärkt Muße, Langsamkeit, Downshifting, ja, eine neue Leichtigkeit des Seins. Wie Literatur hat das Lesen keine Funktion in der Nutzens- und Verwertungslogik von Arbeit, Fleiß und Effizienz. Als Königsdisziplin höherer Zwecklosigkeit dient die Muße des Lesens der produktiven Unterbrechung und dem Genuss freier Eigenzeit. Christoph Gellner

„Er war pleite, erledigt bis zum Tag der Erlösung, der war hienieden die Entschuldung“ (Timm, 217). Für Christian Eschenbach, den 55-jährigen Helden von Uwe Timms (*1940) Roman Vogelweide (2013), geht der Bankrott als Softwarefirmenchef mit dem Zerbrechen seiner engsten Beziehungen einher. „Sieben, acht Jahre lang war er ein reicher Mann gewesen. Allerdings arm an Zeit. Es gibt eine Zeitarmut. Die wiederum zur Verrohung führt. Eine Brutalisierung des eigenen Selbst. Er arbeitete. Verhandelte. Reiste. […] Keine Nacht vor drei ins Bett. Früh morgens raus. Zu Hause das Rudergerät. Der Sandsack in der Firma, an dem nicht nur er seine Wut, seinen Hass abarbeiten konnte, sondern auch die anderen, die Programme zur Optimierung erstellten und ihren Frust an den Sandsack, der nur ein wenig hin- und herschaukelte, prügelten.“ (Timm, 166f.)

Mit spürbarer Sympathie schildert Timm, einer der wichtigsten Autoren der 68er-Generation, wie Eschenbach nun allein als Vogelwart auf einer winzigen Insel in der Elbmündung eine wohltuend-befreiende Entschleunigung erlebt: „Die Stille des Gehens, dieses Hineingehen in Ruhe, Gleichgültigkeit, die Abwesenheit von jener Umtriebigkeit der letzten Tage“ (Timm, 13) – „diese unglaubliche Erleichterung“ (Timm, 218).

DER WAL HATTE IHN AUSGESPUCKT

„Ich bin reich geworden, dachte Eschenbach, ich habe Zeit, ich nehme mir die Zeit. Nichts treibt mich.“ (Timm, 260) In dieser mußevollen Auszeit kommt er endlich dazu, einen lange aufgeschobenen Essay über Jona fertig zu stellen. Wie der biblische Prophet wurde auch Eschenbach an Land gespuckt, was er als regelrechte Wiedergeburt erlebt. War es früher für ihn „die reine Lust, an einer alles umfassenden Dynamik teilzuhaben“, so war diese Lust jetzt „verschwunden und mit ihr der Sinn, wie Wasser im Abflussloch der Badewanne, aus der es mit einer kreiselnden Bewegung verschwand. […] Der Wal hatte ihn ausgespuckt. Das war alles. […] er konnte nicht mehr sagen, warum er so wie bisher weiterarbeiten sollte“ (Timm, 196.194).

 

Christoph Gellner

geb. 1959, Dr. theol., Leiter des Theologischpastoralen Bildungsinstituts der deutschschweizerischen Bistümer in Zürich und Fachmann für Literatur und (Welt-)Religion(en).

Nicht länger ins Hamsterrad aufreibenden Erfolgs- und Karrierestrebens eingespannt, kostet Eschenbach jetzt „dieses Gefühl der Sinnentleerung“ (Timm, 196) aus: „Ich bin ein Ballonfahrer, der Ballast abwerfen musste, so gewinnt man wieder Höhe und sieht mehr von Land und Leuten“ (Timm, 309). In der Freude an Brandseeschwalben und Strandläufern findet er eine Art ‚Stillness of Heart‘: „Er hatte nie Yoga gemacht, dachte, genauso müsse es sein, wenn man langsam in sich hineinsank und das Hin und Her der Gedanken und Bilder, das Wollen und Wünschen in einem Helldunkel unter den Lidern verschwand. Was ihn von all denen, die er in der Stadt zurückgelassen hatte, unterschied, war das Planlose. Er musste nicht planen, nicht über den Tag hinaus. […] Er war jetzt Sammler von ein paar Daten über Vogelflug und -arten, über Wetter und Gezeiten, Wasser und Watt“ (Timm, 15f.), „es ist die Leichtigkeit, die Abwesenheit von allem hier, die Straßen, die Häuser, das Fernsehen, das Reden und das Gerede […] alles, was bindet, was über diesen Moment hinausgeht“ (Timm, 329).

LOB DER TRÄGHEIT?

„Bis in den Sommer suchte ich nach einer Frage auf die Antwort, die er uns allen gegeben hatte.“ (Bärfuss, 21): In Lukas Bärfuss’ (*1971) autobiographischem Roman Koala (2014) erhält ein Schriftsteller, der Ähnlichkeit mit dem Schweizer Autor hat, kurz vor Weihnachten die Nachricht, dass sich sein Bruder mit 45 Jahren in der Badewanne mit einer Überdosis Heroin getötet hat. Nach und nach verdichten sich seine Erinnerungsfetzen zum Bild eines Menschen, dem eine sonderbare Trägheit und Antriebslosigkeit eigen war: „Er lehnte die Arbeit ab, die Anstrengung, und verfolgte niemals ein Ziel. Er nahm, was ihm zufiel. […] Er besaß keinen Fleiß, er arbeitete nicht, er hing herum und ließ die Zeit verstreichen. Nicht dass er diesen Tod verdient hatte – aber er war die logische Folge seines Verhaltens“ (Bärfuss, 42f.).

Über Freunde seines Bruders erfährt er dessen Pfadfindernamen, „der unter Eingeweihten als geheimer Ruf, als Totem zirkulierte, der Name eines Beutelsäugers, eines Tieres vom anderen Ende der Welt“ (Bärfuss,18). In der Imagination malt er sich aus, wie der Bruder in seinem Spitznamen Koala das Ideal eines einfachen, stillen und friedlichen Lebens verkörpert fand. In der Schule hatte man ihm gesagt, Fleiß und Ehrgeiz seien unabdingbar, wenn er etwas erreichen wolle. „Sein Totem aber existierte, ohne nach etwas zu streben. Es bewegte sich nicht einmal, lag den ganzen Tag nur herum und tat keinem etwas zu Leide. Unglücklich schien es deswegen nicht zu sein.“ (Bärfuss, 75) Bärfuss’ Romanrecherche über die Geschichte des titelgebenden Koalas und des Umgangs des Menschen mit diesem Tier gerät denn auch zu einer Expedition in die Abgründe der Zivilisation: 1788 kommen die ersten Sträflinge des britischen Königreichs nach Australien, am anderen Ende der Welt sollen sie „durch Arbeit und mit Gottes Hilfe auf den Weg des Heils zurückfinden“ (Bärfuss, 90). Anschaulich erzählt Bärfuss, wie sich die Strafkolonie dank Fleiß, Ehrgeiz und Grausamkeit entwickelt. Im Landesinneren stoßen Forscher auf ein seltsames Beuteltier, das von den Ureinwohnern längst ausgerottet worden wäre, wenn nicht eine Seuche diese zuvor dahingerafft hätte. Nun sind es die eingewanderten weißen Siedler, die die harm- und wehrlosen Koala-Tiere von ihren Eukalyptusbäumen schütteln oder erschießen, bis sie fast ausgerottet sind. „Eine Kreatur wie den Koala dürfte es nicht geben“, statuierte zeitgleich der englische Schneckenforscher George Perry, dem jede Erklärung fehlte, „zu welchem Zweck der große Autor der Natur ein solches Wesen erschaffen haben mochte“ (Bärfuss, 153f.).

Das Fazit? „Faulheit war […] nicht hinzunehmen. Wer auf ihr bestand, musste vernichtet werden. […] Nur in geringer Zahl, in Zoos und Naturreservaten, zu plüschigen Kuscheltieren entstellt in harmlosen Kinderbüchern, ertrug man die Kreaturen der Faulheit. Das Prinzip ihrer Existenz, die Ehrgeizlosigkeit, sollte sich nicht frei entwickeln dürfen, so groß war die Gefahr und die Provokation. Was den Menschen ausmachte, war sein Ehrgeiz, das unausgesetzte Streben, die Unfähigkeit, stillzusitzen. Eine Folge der Angst, die mit ihm in die Welt gekommen war.“ (Bärfuss, 167), bilanziert der Schweizer Romancier, dem 2019 der Büchner-Preis zuerkannt wurde. „Das Wissen um die eigene unvermeidliche Vernichtung versetzte den Menschen in Schrecken, […] Gott war tot, aber die Angst lebte weiter. […] Die Medizin gegen die Angst war der Fleiß. […] Die Arbeit war keine Strafe mehr, sie war zur einzigen Tätigkeit geworden. Die Faulheit wurde ausgelöscht und vergessen, ihre Geschichten, ihre Segnungen, ihre Blüten, ihre Verse und Lieder“ (Bärfuss, 167f.).

Fokussiert auf die phlegmatischen Koalas führt die Frage nach dem Suizid des Bruders, den in der Sorge um seine Hanfplantage eine durchaus positive Lebenseinstellung, ja, Ruhe und Genussfähigkeit auszeichnete, zur rigorosen Selbstbefragung unserer tiefsitzenden Angst vor aller Muße: „Menschen, so ging mir auf, besaßen kein Bewusstsein für den Stillstand. Wir waren, genau wie die Kröten, Schlangen, Frösche, Bewegungsseher, und was zur Ruhe gekommen war, vermochten wir nicht zu erkennen“ (Bärfuss, 180). Die vom Koala verkörperte Einheit von Mensch und Natur ist unwiederbringlich verloren, dies stellt eine beunruhigend-verstörende Infragestellung unseres ungebremsten Arbeits- und Leistungsstrebens dar: „Und so lebten wir, so lebte ich. Außerhalb der Schöpfung. Uns wurde nichts geschenkt, was wir essen wollten, mussten wir dem Tag stehlen. Wir waren Knechte, Sklaven, jeder von uns, und unser Geist war so verdorben, dass wir nicht einmal merkten, wie krank und elend uns die Arbeit machte“ (Bärfuss, 169).

Ja, als größte Provokation unserer „Treibjagdwelt“ sieht der Schweizer Schriftsteller im Nichtstun eine Form subversiven Widerstands gegen die Leistungs- und Verwertungslogik einer durchökonomisierten Welt: „Das Leben will nicht berechnet werden. Dieses Bilanzierende ist genau die Logik des Selbstmords. Die besten Lebensmomente sind doch jene, in denen man aufgeht im Glück des Augenblicks, sich selbst vergisst in der Ekstase, in der Meditation und Kontemplation, im Exerzitium des Schreibens …“ („Das Leben als Treibjagd“. Lukas Bärfuss im Gespräch mit Richard Kämmerlings, SRF-Sternstunde Philosophie vom 04.05.2014).

ANSTIFTUNG ZUR KONTEMPLATION

Dass Kunst, Natur und Spiritualität keine getrennten Bereiche sind, ja, Literatur als eigener Kontemplationsweg gilt, fasziniert Marion Poschmann (*1969) an der japanischen Ästhetik besonders. In ihrem Japan-Roman Die Kieferninseln (2017) begibt sich Gilbert Silvester auf den Spuren des berühmten Wanderpoeten, Haiku-Dichters und Zen-Meisters Matsuo Bashō zu den Kieferninseln in der Bucht von Matsushima: „Konsequente Fußmärsche. Einfachste Quartiere. Verzicht auf technische Hilfsmittel, allem voran Mobiltelefone. Erst dann erreichte man eine Haltung, die es erlauben würde, zu jenem gestrengen Über-Ich auf Distanz zu gehen, das jeden von ihnen im Alltag unter Kontrolle zu halten suchte. Eine Haltung der Souveränität und Bedürfnislosigkeit, die es schließlich erlauben würde, sich ohne große Vorbehalte anderen Dingen zuzuwenden. Dem Innenleben. Den Kiefern. Dem Mond“ (Poschmann, 47f.).

Gilbert trifft auf Yosa Tamagotchi, der mit dem in Japan so populären Complete Manual of Suicide unterwegs ist. Er kann den vom Prüfungsdruck gestressten Suizidkandidaten gerade noch abhalten, sich vor einen fahrenden Hochgeschwindigkeitszug zu werfen. „Der äußere Selbstmord“, gibt Gilbert ihm zu verstehen, „und der innere Selbstmord sind miteinander gar nicht zu vergleichen. Bashō strebte den inneren Selbstmord an, er wollte sein Ego loswerden, um frei zu sein für die Dichtung“ (Poschmann, 118). Das wird zum Lernprogramm ihrer gemeinsamen Pilgerreise: die ichbezogene Habens-, Strebens- und Wollens-Struktur menschlichen Daseins durchbrechen, um Freizuwerden zu einer durch nichts verstellten Offenheit, die alles Ichhafte, alle Vorstellungen des Unterschiedenseins hinter sich lässt. Diese Befreiung von innen umschreiben Zenbuddhisten mit ‚Grundlosigkeit‘, ‚Leere‘ und ‚Nicht-Ich‘. Das meint keinen Nihilismus, vielmehr eine Bewegung der Ent-Grenzung und Ent-Eignung. Jedes isolierte Für-sich wird entschränkt in eine absichts- und interesselose In-Differenz allseitiger Bezogenheit.

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