Der Traum

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Z serii: Die Rougon-Macquart #16
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Oder Angélique erzählte auch den Huberts beim Sticken Legenden, die sie interessanter fand als Märchen. Sie hatte sie so viele Male gelesen, daß sie sie auswendig kannte: Die Legende von den sieben Schläfern, die, als sie der Verfolgung entfliehen wollten, in einer Höhle eingemauert wurden und dort dreihundertzweiundsiebzig Jahre schliefen und deren Erwachen den Kaiser Theodosius48 über die Maßen verwunderte; die Legende vom heiligen Clemens49, endlose, unvorhergesehene und rührende Abenteuer, eine ganze Familie, Vater, Mutter und drei Söhne, durch große Unglücksfälle getrennt und schließlich durch die schönsten Wunder wieder vereint. Ihre Tränen flossen, sie träumte nachts davon, sie lebte nur noch in dieser tragischen und triumphierenden Welt des Wunders, im übernatürlichen Reich aller Tugenden, die mit allen Freuden belohnt werden.

Als Angélique zur Erstkommunion ging, schien es ihr, als schritte sie wie die Heiligen zwei Ellen über dem Erdboden dahin. Sie war eine junge Christin der Urkirche, sie befahl sich in Gottes Hände, da sie aus dem Buch gelernt hatte, daß sie nicht ohne die Gnade erlöst werden könne. Die Huberts befolgten schlecht und recht brav die Kirchengebote: sonntags gingen sie zur Messe und an den Hochfesten zur Kommunion; und das mit dem ruhigen Glauben der Demütigen, ein wenig auch aus Tradition und um ihrer Kundschaft willen, da die Meßgewandmacher von Generation zu Generation in der Osterzeit stets zur Beichte und zur Kommunion gegangen waren. Er, Hubert, hielt manchmal beim Spannen eines Stickrahmens inne, um dem Kinde beim Vorlesen seiner Legenden zuzuhören, bei denen er mit ihm erzitterte, während seine Haare im leichten Hauch des Unsichtbaren aufflogen. Er hatte etwas von ihrer Leidenschaft, er weinte, als er sie im weißen Kleide sah. Dieser Tag war wie ein Traum, beide kamen tief bewegt und müde aus der Kirche zurück. Hubertine mußte sie abends schelten, sie, die Vernünftige, die jede Übertreibung mißbilligte, selbst in den guten Dingen. Von da an mußte sie gegen Angéliques Eifer ankämpfen, vor allem gegen die Anwandlungen von Mildtätigkeit, die sie überkamen. Franciscus hatte die Armut zu seiner Herrin erwählt, Johannes der Almosner nannte die Armen allezeit seine Herren, Gervasius und Prothasius50 wuschen ihnen die Füße, Martinus51 teilte seinen Mantel mit ihnen. Und nach dem Vorbild der Lucia52 wollte das Kind alles verkaufen, um alles hinzugeben. Sie hatte sich zunächst ihrer kleinen Dinge entäußert, dann hatte sie begonnen, das Haus auszuplündern. Doch der Gipfel war, daß sie auch Unwürdigen ohne Unterschied der Person mit offenen Händen gab. Als sie eines Abends, zwei Tage nach ihrer Erstkommunion, getadelt worden war, weil sie einer Trinkerin Wäsche aus dem Fenster zugeworfen hatte, verfiel sie wieder in ihre alte Heftigkeit, bekam sie einen schrecklichen Anfall. Dann hütete sie, krank und von Scham zermalmt, drei Tage lang das Bett.

Indessen verflossen die Wochen, die Monate. Zwei Jahre waren vergangen, Angélique war vierzehn Jahre alt und wurde Frau. Wenn sie in der »Legenda aurea« las, brauste es ihr in den Ohren, pochte das Blut in den blauen Äderchen ihrer Schläfen; und nun empfand sie eine schwesterliche Zärtlichkeit für die Jungfrauen.

Jungfräulichkeit ist die Schwester der Engel, ist Besitz jeglichen Gutes, Niederlage des Teufels, Herrschaft des Glaubens. Sie verleiht die Gnade, sie ist die unbesiegbare Vollkommenheit. Der Heilige Geist macht Lucia so schwer, daß tausend Mann und fünfzig Joch Ochsen sie auf Befehl des Richters nicht zu einem verrufenen Haus zu schleppen vermögen. Ein Statthalter, der Anastasia umfangen will, wird mit Blindheit geschlagen. Bei den Folterungen wird die Reinheit der Jungfrauen offenbar, von ihrem ganz weißen Fleisch, das von eisernen Kämmen aufgerissen wird, rinnen statt Blut Ströme von Milch herab. Zehnmal kehrt die Geschichte von der ihrer Familie entfliehenden, unter einem Mönchsgewand verborgenen jungen Christin wieder, welche man anklagt, sie habe einem Mädchen aus der Nachbarschaft Gewalt angetan, und welche die Verleumdung erduldet, ohne sich zu rechtfertigen, dann aber in der jähen Offenbarung ihres unschuldigen Geschlechts triumphiert. So wird Eugenia53 vor einen Richter geführt, erkennt in ihm ihren Vater, zerreißt ihr Gewand und gibt sich zu erkennen. Ewig beginnt der Kampf der Keuschheit von neuem, immer von neuem wachsen die Stachel des Fleisches nach. Daher auch bildet die Furcht vor dem Weibe die Weisheit der Heiligen. Diese Welt ist voller Fallen, die Einsiedler gehen in die Wüste, wo es keine Frauen gibt. Sie kämpfen schrecklich, geißeln sich, werfen sich nackt in die Dornen oder in den Schnee. Ein Einsiedler, der seiner Mutter durch eine Furt hilft, umwickelt seine Finger mit seinem Mantel. Ein gefesselter Märtyrer, der von einem Mädchen in Versuchung geführt wird, beißt sich mit den Zähnen die Zunge ab und speit sie ihr ins Gesicht. Franciscus erklärt, er habe keinen ärgeren Feind als seinen Leib. Bernhard schreit »Räuber, Diebe!«, um sich einer Frau, seiner Herbergsmutter, zu erwehren. Eine Frau, der Papst Leo54 die Hostie reicht, küßt ihm die Hand; und er schneidet sich die Hand ab, und die Heilige Jungfrau fügt ihm die Hand wieder an und macht sie heil. Alle verherrlichen die Trennung der Ehegatten. Alexius55, der verheiratet und sehr reich ist, mahnt seine Frau zu möglicher Reinigkeit, dann geht er von dannen. Man vermählt sich nur, um zu sterben. Justina56, die von Cyprianus geplagt wird, widersteht, bekehrt ihn und schreitet mit ihm zur Hinrichtung. Cäcilia, die von einem Engel geliebt wird, offenbart dieses Geheimnis am Hochzeitsabend dem Valerianus, ihrem Gemahl, der sie nicht anrühren und die Taufe empfangen will, um den Engel zu sehen. »Da fand er Caecilien mit dem Engel reden in der Kammer. Der Engel aber hielt in seiner Hand zween Kränze, von Rosen und von Lilien, und gab Caecilien den einen und Valeriano den anderen und sprach: ›Die Kränze bewahret mit Lauterkeit des Herzens und Reinigkeit des Leibes.‹« Der Tod ist stärker als die irdische Liebe, das ist eine Herausforderung an das Dasein. Hilarius57 bittet Gott, daß er seine Tochter Apia in den Himmel zu sich nähme, damit sie sich nicht vermähle; sie stirbt, und die Mutter bittet den Vater, für sie dasselbe bei Gott zu erwirken; das tut er auch. Die Jungfrau Maria selber entführt den Frauen ihre Verlobten. Ein Edelmann, ein Verwandter des Königs von Ungarn, verzichtet auf ein junges Mädchen von wunderbarer Schönheit, sowie Maria auf den Plan tritt. »Plötzlich erschien Unsere Liebe Frau und sprach zu ihnen: ›Wenn ich so schön bin, wie du sagst, weshalb verlässest du mich dann um einer anderen willen?‹ « Und er verlobt sich mit ihr.

Unter all den Heiligen hatte Angélique ihre Lieblinge, jene, deren Lehren ihr bis ins Herz drangen, die sie so sehr rührten, daß sie sich besserte. So bezauberte sie die kluge, purpurgeborene58 Katherina59 durch das umfassende Wissen ihrer achtzehn Jahre, als sie mit den fünfzig Meistern der Grammatik und Rhetorik streitet, die ihr Kaiser Maximus gegenüberstellt. Sie beschämt sie, bringt sie zum Verstummen. »Sie saßen in großem Staunen als die Stummen, und ihrer keiner mehr wußte, was er sprechen sollte. Da entbrannte der Kaiser wider sie mit großem Grimm und hub an zu schelten, daß sie sich von einem Weibe also besiegen ließen.« Die fünfzig erklären ihm daraufhin, daß sie sich alle zu Christo bekehren. »Als das der Kaiser vernahm, ward er über die Maßen zornig und gebot, daß man sie alle mitten in der Stadt sollte verbrennen.« In Angéliques Augen war Katherina die unbesiegbare Gelehrte, ebenso stolz und strahlend von Weisheit wie von Schönheit, die, die sie hätte sein wollen, um die Menschen zu bekehren und sich im Kerker von einer weißen Taube mit himmlischer Speise stärken zu lassen, bevor ihr der Kopf abgeschlagen würde. Doch vor allem Elisabeth60, die Tochter des Königs von Ungarn61, wurde ihr zum ständigen Vorbild. Jedesmal, wenn ihr Stolz sich empörte, wenn die Heftigkeit sie fortriß, dachte sie an dieses Muster von Sanftmut und Einfalt; fromm schon mit fünf Jahren, verschmähte sie es zu spielen, legte sich auf die Erde nieder, um Gott Ehre zu erweisen, später die gehorsame und demütige Gemahlin des Landgrafen von Thüringen, die ihrem Gemahl ein fröhliches Gesicht zeigte, über das jede Nacht Tränen fluteten, schließlich keusche Witwe, aus ihren Ländern vertrieben, glücklich, das Leben einer Bettlerin zu führen. »Sie trug so schmählich Gewand, daß ihr grauer Mantel mit Tuch von anderer Farbe verlängert war, und waren die Löcher in den Ärmeln ihres Kleides mit andersfarbigem Tuche geflickt.« Der König, ihr Vater, sendet einen Grafen, sie heimzuführen in ihr väterliches Haus. »Da er sie nun sitzen sah in ihrem schlechten Gewand und demütig weben, da ward er von Schrecken und Wunder bewegt und rief aus: ›Nimmer sah man eines Königs Tochter in so schmählichem Gewand, noch ward je vernommen, daß eine Fürstin Wolle spann.‹« Sie ist die vollkommene christliche Demut, die von schwarzem Brot mit den Bettlern lebt, ohne Abscheu ihre Wunden verbindet, ihre Kleider trägt, auf der harten Erde schläft, barfüßig den Prozessionen folgt. »Sie wusch auch die Pfannen und ander Küchengerät und sandte dann die Mägde fort, daß sie von ihnen nicht gehindert würde. Sie sprach auch: ›Möchte ich ein ander Leben finden, das noch schnöder wäre, ich erwählte es mir.‹« So kam es, daß Angélique, die früher stocksteif wurde vor Wut, wenn man sie die Küche aufwischen hieß, jetzt auf niedere Arbeiten bedacht war, wenn sie fühlte, daß die Herrschsucht ihr zusetzte. Doch teurer noch als Katherina, teurer noch als Elisabeth, teurer noch als alle anderen war ihr schließlich eine Heilige, Agnes, die kindliche Märtyrerin. Ihr Herz erbebte, wenn sie sie in der »Legenda aurea« wiederfand, diese in ihr Haar gehüllte Jungfrau, die ihr unter dem Tor der Kathedrale Schutz gewährt hatte. Was für eine Flamme reiner Liebe! Wie sie den Sohn des Präfekten abweist, der sie anspricht, als sie von der Schule nach Hause geht! »Weiche von mir, du Futter der Sünde und Speise des Todes!« Wie sie den Geliebten preist! »Ich liebe einen, der ist viel edler und würdiger denn du; seine Mutter ist eine Jungfrau, sein Vater hat nie ein Weib erkannt; ihm dienen die Engel, und Sonne und Mond bewundern seine Schöne; sein Gut wird nie gemindert, sein Reichtum nimmt nicht ab, sein Atem macht die Toten lebendig.« Und als Aspasius gebietet, daß man »ihr ein Schwert in die Kehle« stoße, steigt sie empor zum Paradies, sich mit »ihrem weißen und roten Bräutigam« zu vereinen. Seit einigen Monaten vor allem flehte Angélique sie an in unruhigen Stunden, wenn das Blut ihr heiß in den Schläfen pochte; und sogleich schien es ihr, als sei sie erfrischt. Sie sah sie fortwährend um sich, sie war verzweifelt, daß sie oft Dinge tat und dachte, die Agnes, so fühlte sie, betrüben mußten. Als sie sich eines Abends sie Hände küßte, woran sie bisweilen noch Vergnügen fand, wurde sie plötzlich hochrot und wandte sich, obgleich sie allein war, verwirrt um, da ihr bewußt geworden, daß die Heilige sie gesehen hatte. Agnes war die Hüterin ihres Leibes.

 

So war Angélique mit fünfzehn Jahren ein anbetungswürdiges Mädchen. Gewiß hatten weder das klösterliche und arbeitsame Leben noch der sanfte Schatten der Kathedrale, noch die »Legenda aurea« mit den schönen heiligen Frauen einen Engel, ein Geschöpf absoluter Vollkommenheit aus ihr gemacht. Immer noch rissen hitzige Aufwallungen sie hin, äußerten sich durch unvermutete Ausbrüche Fehler in Seelenwinkeln, die zuzumauern man unterlassen hatte. Doch sie zeigte sich dann so beschämt, sie hätte so gerne vollkommen sein wollen! Und sie war so menschenfreundlich, so lebendig, so unwissend und rein im Grunde! Als sie von einem der großen Ausflüge zurückkehrten, die die Huberts sich zweimal im Jahr, am Pfingstmontag und zu Mariä Himmelfahrt, erlaubten, hatte sie einen wilden Rosenstock ausgerissen und ihn dann zu ihrem Vergnügen in dem schmalen Garten wieder eingepflanzt. Sie beschnitt und begoß ihn; er wuchs dort noch ebenmäßiger weiter, er brachte dort größere wilde Rosen mit würzigem Duft hervor; danach hielt sie Ausschau mit ihrer gewohnten Leidenschaftlichkeit, lehnte es jedoch ab, ihn zu veredeln, weil sie sehen wollte, ob er nicht durch ein Wunder echte Rosen tragen würde. Sie tanzte um ihn herum, sie sang immer wieder mit entzücktem Ausdruck: »Das bin ich! Das bin ich!« Und wenn man sie mit ihrem an der Landstraße aufgelesenen Rosenstock neckte, lachte sie selber darüber, wurde zwar ein wenig blaß und hatte Tränen an den Wimpern. Ihre veilchenfarbenen Augen waren noch sanfter geworden, ihr Mund war leicht geöffnet und ließ die kleinen weißen Zähne in dem länglichen Oval des Gesichtes sehen, das die blonden Haare, die wie Licht so leicht waren, mit goldenem Schimmer umgaben. Sie war gewachsen, ohne schmächtig zu werden, Hals und Schultern waren immer noch von stolzer Anmut, die Brust rund, die Taille biegsam; und heiter war sie, und gesund, eine seltene Schönheit von unendlichem Liebreiz, deren unschuldiges Fleisch und deren keusche Seele in Blüte standen.

Die Zuneigung der Huberts zu ihr wurde mit jedem Tag stärker. Es war ihnen beiden der Gedanke gekommen, sie zu adoptieren. Allein sie sagten nichts davon, aus Furcht, ihren ewigen Schmerz wieder aufzuwecken. Und so sank die Frau an dem Morgen, da der Gatte sich zu diesem Schritt entschloß, in ihrem Schlafzimmer auf einen Stuhl und brach in Schluchzen aus. Dieses Kind adoptieren, hieß das nicht darauf verzichten, jemals ein eigenes zu haben? Gewiß, man durfte in ihrem Alter kaum noch damit rechnen; und sie willigte ein, besiegt von dem guten Gedanken, die Kleine zu ihrer Tochter zu machen. Als sie zu Angélique davon sprachen, fiel sie ihnen um den Hals, erstickte fast vor Tränen. Es war beschlossene Sache, sie würde bei ihnen bleiben, in diesem Haus, das jetzt ganz von ihr erfüllt war, verjüngt durch ihre Jugend, frohgestimmt durch ihr Lachen. Doch schon beim ersten Schritt versetzte sie ein Hindernis in Bestürzung. Der Friedensrichter, Herr Grandsire, bei dem sie sich erkundigt hatten, erklärte ihnen, daß eine Adoptierung völlig unmöglich sei, weil das Gesetz verlangt, daß der zu Adoptierende großjährig ist. Als er ihren Kummer sah, riet er ihnen dann zu dem Ausweg, die amtliche Vormundschaft zu übernehmen: jede Person über fünfzig Jahre kann durch einen gesetzlichen Akt einen Minderjährigen unter fünfzehn Jahren an sich binden, indem er sein amtlicher Vormund wird. Die Altersvorschriften waren erfüllt, sie gingen mit Freuden darauf ein; und es wurde sogar vereinbart, daß sie ihr Mündel dann testamentarisch adoptieren würden, wie das Gesetz es gestattet. Herr Grandsire nahm sich des Antrags des Ehemannes und der Bevollmächtigung der Ehefrau an und setzte sich dann mit dem Leiter des Fürsorgeamtes, dem Vormund aller Fürsorgezöglinge, in Verbindung, dessen Zustimmung man erlangen mußte. Ein Termin fand statt, schließlich wurden die Papiere in Paris bei dem eigens dafür bezeichneten Friedensrichter hinterlegt. Und man wartete nur noch auf das Protokoll, das die Erteilung der amtlichen Vormundschaft bestätigte, als die Huberts nachträglich Bedenken bekamen.

Hätten sie sich nicht, bevor sie Angélique also adoptierten, bemühen müssen, ihre Familie ausfindig zu machen? Falls die Mutter noch lebte, woher nahmen sie dann das Recht, über die Tochter zu verfügen, ohne völlige Gewißheit darüber zu haben, daß sich wirklich niemand um sie kümmern wollte? Und dann war da im Grunde noch jenes Unbekannte, dieser möglicherweise verderbte Stamm, aus dem das Kind vielleicht hervorging, über den sie sich früher schon Gedanken gemacht hatten und der sie zu dieser Stunde von neuem mit Sorge erfüllte. Sie quälten sich so sehr damit, daß sie nicht mehr schlafen konnten.

Kurz entschlossen reiste Hubert nach Paris. Das war ein aufregendes Ereignis in seinem ruhigen Dasein. Er belog Angélique, er sagte ihr, seine Anwesenheit in Paris sei zur Regelung der Vormundschaft notwendig. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hoffte er alles zu erfahren. Doch in Paris verflossen die Tage, bei jedem Schritt richteten sich neue Hindernisse auf, er verbrachte dort eine Woche, wurde von einem zum anderen geschickt und lief ganz verstört und fast unter Tränen die Straßen ab. Im Fürsorgeamt empfing man ihn zunächst äußerst schroff. Die Vorschrift der Behörde besagt, daß die Kinder bis zu ihrer Volljährigkeit nicht über ihre Herkunft unterrichtet werden. An drei Vormittagen hintereinander schickte man ihn wieder fort. Er mußte hartnäckig bleiben, sein Anliegen in vier Büros auseinandersetzen, sich heiser reden, indem er sich als amtlicher Vormund vorstellte, ehe ein Abteilungsleiter, ein großer Hagerer, sich gnädigst bereit fand, ihn darüber zu unterrichten, daß genaue Unterlagen völlig fehlten. Die Behörde wußte nichts, eine Hebamme hatte das Kind AngéliqueMarie eingeliefert, ohne die Mutter zu nennen. Verzweifelt wollte er schon die Rückreise nach Beaumont antreten, als ein Gedanke ihn ein viertes Mal zu dem Amt zurückführte und ihn um Einsichtnahme in den Geburtsschein bitten ließ, der ja den Namen der Hebamme tragen mußte. Das war wiederum eine schwierige Angelegenheit. Endlich wußte er den Namen, Frau Foucart, und er erfuhr sogar, daß diese Frau im Jahre 1850 in der Rue des DeuxEcus gewohnt hatte.

Da begannen die Laufereien von neuem. Dieses Stück der Rue des DeuxEcus war abgerissen, kein Krämer in den benachbarten Straßen erinnerte sich an Frau Foucart. Hubert sah im Adreßbuch nach: der Name war nicht mehr darin zu finden. Er fand sich damit ab, weitersuchen zu müssen, er las alle Aushängeschilder und ging zu jeder Hebamme in die Wohnung hoch; und damit hatte er Erfolg, er hatte das Glück, an eine alte Frau zu geraten, die gleich losschrie:

Wie! Und ob sie Madame Foucart kennte! Eine so verdienstvolle Person, die soviel Unglück gehabt hätte! Sie wohne Rue Censier, am anderen Ende von Paris.

Er lief dorthin.

Durch die Erfahrung belehrt, hatte er sich vorgenommen, hier diplomatisch vorzugehen. Doch Frau Foucart, eine wuchtig auf kurzen Beinen stehende gewaltige Frau, ließ ihn die Fragen, die er sich vorher zurechtgelegt, nicht in schöner Reihenfolge vor ihr ausbreiten. Sowie er die Vornamen des Kindes und das Datum der Einlieferung bei der Fürsorge verlauten ließ, legte sie von selber los, erzählte sie die ganze Geschichte, entlud sich ihr ganzer Groll in einem Schwall von Worten.

Ach, die Kleine lebte! Na, sie konnte sich schmeicheln, ein tolles Luder zur Mutter zu haben! Ja, Madame Sidonie, wie man sie, seit sie Witwe war, nannte, habe sehr angesehene Verwandte, ein Bruder sei Minister, wie erzählt wurde, was sie jedoch nicht hinderte, die übelsten Geschäfte zu machen! Und sie setzte ihm auseinander, auf welche Weise sie sie kennengelernt hatte, als das liederliche Weibsbild in der Rue SaintHonore einen Handel mit Obst und Öl aus der Provence62 unterhielt, nachdem sie und ihr Mann aus Plassans nach Paris gekommen waren, um ihr Glück zu versuchen. Fünfzehn Monate nach dem Tode des Ehemanns hatte sie eine Tochter bekommen, ohne recht zu wissen, von wem sie sie eigentlich hatte, denn sie war herzlos wie eine Rechnung, kalt wie ein Wechselprotest, gleichgültig und brutal wie ein Gerichtsvollzieher. Einen Fehltritt verzeiht man, aber so eine Undankbarkeit! Hatte nicht sie, Frau Foucart, nachdem der Laden durchgebracht war, sie während ihres Wochenbettes ernährt, hatte sie sich nicht so weit aufgeopfert, daß sie ihr das Kind vom Halse schaffte, indem sie die Kleine zur Fürsorge brachte? Und zum Lohn war es ihr, als sie ihrerseits in Verlegenheit geraten, nicht einmal gelungen, das Kostgeld für einen Monat zurückzukriegen, ja nicht einmal fünfzehn Francs, die sie ihr ohne Quittung geliehen hatte. Heute hatte Madame Sidonie in der Rue du FaubourgPoissonnière einen kleinen Laden und drei Zimmer im Zwischenstock inne, wo sie unter dem Vorwand, Spitzen zu verkaufen, alles mögliche verkaufte. Ach ja, ach ja, eine Mutter von der Sorte sollte man besser gar nicht erst kennen!

Eine Stunde später schlich Hubert um Frau Sidonies Laden herum. Er erblickte dort flüchtig eine magere, bleiche Frau ohne Alter und ohne Geschlecht, angetan mit einem abgetragenen schwarzen Kleid, das Spuren von allen Arten verdächtiger Gewerbe aufwies. Die Erinnerung an ihre durch einen Zufall geborene Tochter hatte wohl niemals dieses Trödlerinnenherz erwärmt. Heimlich zog er Erkundigungen ein, erfuhr Dinge, die er niemandem wiedererzählte, nicht einmal seiner Frau. Doch zögerte er noch, ging er ein letztes Mal an dem geheimnisvollen schmalen Laden vorbei. Sollte er sich nicht zu erkennen geben, eine Einwilligung zu erreichen suchen? Ihm als ehrenhaftem Manne oblag es, zu entscheiden, ob er das Recht hatte, so das Band für immer zu durchtrennen. Jäh drehte er dem Laden den Rücken zu und kehrte am Abend nach Beaumont zurück.

Hubertine hatte soeben bei Herrn Grandsire erfahren, daß das Protokoll für die amtliche Vormundschaft unterzeichnet war. Und als Angélique sich Hubert in die Arme warf, sah er wohl an der flehenden Frage in ihren Augen, daß sie begriffen hatte, was der wahre Grund seiner Reise gewesen. Da sagte er zu ihr lediglich:

»Mein Kind, deine Mutter ist tot.«

Weinend umarmte Angélique beide voller Leidenschaft. Niemals wieder wurde darüber gesprochen. Sie war ihre Tochter.