Berufsbildung in der Schweiz (E-Book)

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Berufsbildung in der Schweiz (E-Book)
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Emil Wettstein, Evi Schmid (EHB IFFP IUFFP), Philipp Gonon

Berufsbildung in der Schweiz

Formen, Strukturen, Akteure

ISBN Print: 978-3-0355-0127-8

ISBN E-Book: 978-3-0355-0204-6

2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.ch

Inhaltsverzeichnis

Einleitendes Vorwort

Die Schweiz kann mit einem einmaligen System beruflicher Bildung aufwarten, das sowohl vor Ort als auch international Anerkennung findet und alles in allem eine erfolgreiche Bilanz vorweisen kann. Die schweizerische Berufsbildung gilt als Teil eines wohlgeordneten und qualitativ hochstehenden Bildungssystems. Allerdings stellt die internationale Verflechtung des Arbeitsmarkts und ganz allgemein die Dynamik der Globalisierung die Zukunftsfähigkeit dieses Modells auf die Probe. Diese Spannung, welche die Reform- und Wandlungsfähigkeit eines gesamten Systems erfordert – wobei gleichzeitig dessen Stärken erhalten bleiben sollen –, wird auch in der hier vorliegenden Darstellung der Formen, Strukturen und Akteure der beruflichen Bildung deutlich. Aber nicht nur internationale Tendenzen beeinflussen die Berufsbildung, sondern auch inländische Entwicklungen – des Arbeitsmarkts, des politischen Rahmens und insbesondere des Bildungssystems – sowie der Trend zur sogenannten Wissensgesellschaft. Damit wandelt sich auch die Bedeutung der gewerblich-industriellen Verwurzelung der beruflichen Bildung. Auch der technologische Wandel begünstigt eher eine Entspezialisierung und Hinwendung zu mehr Allgemeinbildung und höheren Bildungsabschlüssen – und spricht gegen eine frühzeitige Festlegung auf eng zugeschnittene berufliche Fertigkeiten. Schulische und tertiäre Bildungsformen kommen einem solchen Trend entgegen, ebenso Flexibilisierung und verstärkte Durchlässigkeit, die auch in der Schweiz vermehrt an Gewicht gewinnen.

Im Übrigen erschöpft sich Berufsbildung bei Weitem nicht in der beruflichen Grundbildung – alltagssprachlich «Betriebslehre» – in kleinen oder mittelgrossen Unternehmen, es gibt darüber hinaus eine Vielzahl weiterer Varianten. Es sind all diese unterschiedlichen Formen beruflicher Bildung, die in einem ersten Kapitel dieses Buches vorgestellt werden. Sie werden ausserdem durch je eine Lernende oder einen Studierenden, die oder der speziell für dieses Buch porträtiert wurde, gleichsam verlebendigt.

Das zweite Kapitel gilt den Rahmenbedingungen beruflicher Bildung. Neben der Einbettung ins Bildungssystem und in den Arbeitsmarkt werden rechtliche Grundlagen, die Steuerung und die Verbundpartnerschaft ebenso thematisiert wie die Finanzierung.

Im dritten Kapitel fragen wir nach besonderen Elementen bzw. Funktionen, die für das Gelingen der Berufsbildung notwendig sind. Denn neben dem Lernen bei der Arbeit als dem Besonderen beruflichen Lernens spielen auch andere Faktoren wie die Begleitung und die Organisation des Lernprozesses eine entscheidende Rolle.

Im vierten Kapitel wird die Berufsbildung als Etappe in den individuell geprägten Bildungsverläufen zwischen Volksschule und Arbeitswelt oder Tertiärausbildung thematisiert. Wir beschreiben die Situation junger Menschen bei diesen Übergängen und die Herausforderungen und Risiken, die damit verbunden sind.

Im fünften Kapitel werden die wichtigen Akteure der Berufsbildung benannt, welche die berufliche Bildung prägen und das System am Laufen halten. Auch in diesem Kapitel haben wir Personen porträtiert, die exemplarisch für den jeweiligen Akteur sind.

Im abschliessenden Kapitel sind einige der Spannungsfelder thematisiert, die das heutige berufliche Bildungssystem prägen: Inwiefern kann und soll der Staat in die Berufsbildung eingreifen? Wie stark sollen Berufe zusammengefasst werden oder eben in ihrer Besonderheit bestehen bleiben? In welchem Bezug stehen Bildung und Qualifizierung – in einem harmonischen Verhältnis oder in konflikthaftem Nebeneinander?

Viele Praktikerinnen und Praktiker der Berufsbildung, aber auch Bildungspolitiker und Wissenschaftlerinnen und erst recht ausländische Beobachter haben oft Kenntnisse zu Teilgebieten des schweizerischen Bildungssystems oder zu einzelnen Aspekten der Berufsbildung. Was häufig fehlt, sind Zusammenhänge und eine Einordnung in ein Gesamtes. Dieses Buch fügt die unterschiedlichen Facetten beruflicher Bildung zusammen und ermöglicht so eine Übersicht und ein vertieftes Verständnis zur Struktur und Funktionsweise sowie zu den Hintergründen.

Berufsbildung in der Schweiz ist als Orientierungswerk und vertiefende Übersicht zu verstehen. Das Buch richtet sich an Fachleute und Laien, aber auch an Studierende, die sich mit der beruflichen Bildung befassen.

Die vorliegende Neuausgabe fusst auf der Erstauflage aus dem Jahr 2009, die aber vollständig überarbeitet und erweitert wurde. Dies ergab sich auch aus der Tatsache, dass neben den bisherigen Autoren, die sich schon sehr lange kennen und oft zusammengearbeitet haben, neu auch Evi Schmid als Autorin dazugestossen ist und neue Anliegen und Fragen an eine solche Darstellung der Berufsbildung in der Schweiz einbrachte. Eine Umarbeitung ergab sich aber auch aus einem Wechsel der Perspektive. Es stehen nicht – wie häufig, wenn von Berufsbildung die Rede ist – die Lernorte Schule, Betrieb und Ausbildungszentrum im Vordergrund des inhaltlichen Aufbaus, sondern eher die Nutzer/innen und Nachfrager/innen, die sich in einem vorgegebenen Rahmen bewegen und gleichzeitig neue Wege einschlagen und Spielräume ausloten.

Der Schwerpunkt dieser Veröffentlichung ist eine systemische Betrachtung und weniger der Blick auf die Lehr-Lern-Prozesse als solche. Dieser systemische Blickwinkel bietet erst die Voraussetzung, didaktische und methodische Fragen zu erörtern und zu analysieren, was freilich in einer anderen Publikation zu erfolgen hätte.

Ein wesentliches Anliegen der Autorin und der beiden Autoren war es, die jeweiligen Kapitel mit dem aktuellen Forschungsstand zu verknüpfen. Die umfangreichen Verweise auf Studien und Literatur ermöglichen eine weitere Vertiefung vieler hier oft knapp dargestellter Sachverhalte und Fragestellungen.

Wir möchten an dieser Stelle all denen unseren Dank aussprechen, die uns dieses Werk ermöglicht haben. Ein besonderer Dank gilt Daniel Fleischmann, der unseren Vorstellungen entsprechende Persönlichkeiten aufsuchte, sie interviewte und porträtierte. Dr. Heiner Kilchsperger steuerte einen Abschnitt zum Kapitel 3 bei. Vonseiten des Bundesamts für Statistik erhielten wir immer prompt aktuelle Informationen, dafür sei insbesondere Anton Rudin gedankt. Zu einzelnen Fragen und Kapiteln gaben uns darüber hinaus Personen aus dem Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung (EHB), vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI), vom Projekt TREE, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Lehrstuhls für Berufsbildung an der Universität Zürich und von der Pädagogischen Hochschule Zürich weitere Rückmeldungen. Ihnen allen sei gedankt.

Für die Autorin und die Autoren, Zürich im Frühjahr 2014

Prof. Dr. Philipp Gonon

Kapitel 1
Formen beruflicher Bildung
Wer an «Berufsbildung» denkt, wird sich vermutlich zuerst eine Berufslehre in einem Kleinbetrieb mit Lehrmeister und Lehrling vorstellen. In der Schweiz ist das in der Tat auch die häufigste Form beruflicher Grundbildung. Berufsbildung ist jedoch wesentlich vielgestaltiger; in diesem Kapitel stellen wir 16 weitere Formen vor. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf der Berufsbildung in der Schweiz und der beruflichen Grundbildung. Daneben behandeln wir einige Formen im Bereich der höheren Berufsbildung und der Weiterbildung und werfen auch einen kurzen Blick über die Grenzen. Den Schluss bildet eine Form, die weltweit − auch in der Schweiz − am häufigsten vorkommt: das informelle berufliche Lernen.
1.1Berufliche Grundbildung im Kleinbetrieb

Die Ausbildung in Klein- und Mittelbetrieben entspricht am ehesten dem herkömmlichen Bild der Berufslehre, wonach die Jugendlichen vier Tage im Lehrbetrieb arbeiten und einen Tag pro Woche die Berufsfachschule besuchen.

1.1.1Charakterisierung

Die Berufslehre heisst in der Schweiz heute offiziell «berufliche Grundbildung» und die Schule «Berufsfachschule».1 Deren Besuch kann bis zu zwei Tage pro Woche beanspruchen. Mehrmals während der Grundbildung besuchen die Lernenden einige Tage oder Wochen einen «überbetrieblichen Kurs» (üK) in einem Ausbildungszentrum der jeweiligen Organisation der Arbeitswelt (OdA), das ist meist ein regionaler oder nationaler Berufsverband (vgl. Kapitel 5.5.2).

Berufsbildnerin oder Berufsbildner («Lehrmeister») ist im Kleinbetrieb meist der Inhaber oder die Inhaberin, in etwas grösseren Betrieben wird oft ein erfahrener Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin mit der Ausbildung betraut.

Die Ausbildung selbst erfolgt im Rahmen des betrieblichen Alltags, bei der gemeinsamen Arbeit an anfallenden Aufträgen oder Dienstleistungen. So bestimmt oft der Termindruck und nicht didaktische Überlegungen, welche Arbeiten Lernende zu übernehmen haben. Deshalb ist der Besuch von überbetrieblichen Kursen heute in den meisten Berufen fester Bestandteil der Grundbildung, denn im üK kann in Ruhe und unter Berücksichtigung fachdidaktischer Grundsätze in neue Berufsarbeiten eingeführt bzw. können schwierigere Abläufe geübt und perfektioniert werden (vgl. das Porträt Nicole Renggli und Kapitel 5.5, Exkurs «Überbetriebliche Kurse»).

 

In dieser Form der beruflichen Grundbildung sind die Berufsbildnerinnen und -bildner nicht nur verantwortlich für die Ausbildung, sie haben in der Regel auch die Selektion vorgenommen, sind Lehrvertragspartner und coachen ihre Lernenden, indem sie ihnen helfen, berufliche und manchmal auch persönliche Krisen zu bewältigen.

1.1.2Entwicklung

Berufslehren gibt es ansatzweise seit der Antike (Kolb, 2007). Im Mittelalter und bis ins 19. Jahrhundert war eine mehrjährige Ausbildung in einem Betrieb in zünftischen Gewerben weitverbreitet, vor allem in den Städten. Um Geselle zu sein, musste man zuerst eine Lehrzeit abgeschlossen haben. Erst danach, meist nach einer Wanderschaft, die dem Erwerb weiterer Kenntnisse und der Weltläufigkeit diente, konnte Meisterschaft angestrebt werden. Schulunterricht in Ergänzung zur Ausbildung entwickelte sich erst später; in der Schweiz wurde er 1933 für alle Lehrlinge obligatorisch.

Heute ist diese Form der beruflichen Grundbildung nicht nur im Gewerbe, sondern auch in Klein- und Mittelbetrieben verschiedenster Branchen gebräuchlich.

Die rund 80000 Jugendlichen, die 2010 eine berufliche Grundbildung angetreten haben, teilten sich wie folgt auf:

•70000 begannen eine betrieblich organisierte Grundbildung (Betriebslehre), davon

•50000 in einem Betrieb mit weniger als 50 Beschäftigen und

•20000 in einem Mittel- oder Grossbetrieb oder einem Ausbildungsverbund (vgl. Kapitel 1.2 und 1.3);

•10000 in einer schulisch organisierten Grundbildung (vgl. Kapitel 1.4 und Kapitel 1.5) (SBFI 2014 a, S. 12; Müller & Schweri, 2012, S. 39).

Dies zeigt, dass in der Schweiz die berufliche Grundbildung im Kleinbetrieb immer noch die weitaus häufigste Form einer beruflichen Grundbildung darstellt.

1.1.3Beispiel
Fleischfachmann/Fleischfachfrau EFZ

Als Beispiel für die Grundbildung im Kleinbetrieb stellen wir die Ausbildung zum Metzger etwas näher dar. Seit 2007 heisst dieser Lehrberuf nicht mehr «Metzger/in», sondern «Fleischfachmann/Fleischfachfrau EFZ» und kann in vier Schwerpunkten absolviert werden: Fleischgewinnung, Fleischverarbeitung, industrielle Fleischverarbeitung und Fleischveredelung.

Verwandte Ausbildungen sind die zweijährige berufliche Grundbildung zum Fleischfachassistenten bzw. zur Fleischfachassistentin EBA und die dreijährige zur Detailhandelsfachfrau bzw. zum Detailhandelsfachmann EFZ.

Die überbetrieblichen Kurse machen in diesem Beruf nur zwei Tage pro Lehrjahr aus, die Schule dauert wöchentlich einen Tag (40 Tage bzw. 360 Lektionen pro Jahr). Sehr gute Lernende können an einem zweiten Tag den Berufsmaturitätsunterricht besuchen (vgl. das Porträt Lukas Signer).

Zur Förderung der Reflexion über das eigene Lernen, aber auch als Mittel zur Sicherung der Qualität der Ausbildung haben die Lernenden wie in fast allen Lehrberufen eine «Lerndokumentation» zu führen, erarbeitet vom Ausbildungszentrum für die Schweizer Fleischwirtschaft in Spiez (ABZ, www.abzspiez.ch), das sich im Auftrag des Berufsverbandes, des Schweizer Fleisch-Fachverbands SFF, in vielfältiger Weise der Förderung der Aus- und Weiterbildung annimmt.

Die Ausbildung vermittelt Fachkompetenzen (Fleischgewinnung und Tierschutz, Verarbeitung, Fachrechnen, Hygiene, Arbeitssicherheit usw.) und fördert – wie alle modernen Grundbildungen – auch Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenzen, die im «Bildungsplan» präzise umschrieben sind.

Sehr gute Lernende können einen besonderen Förderkurs besuchen, der ebenfalls am Ausbildungszentrum in Spiez angeboten wird. Aus den Teilnehmern und Teilnehmerinnen werden die Kandidatinnen und Kandidaten für nationale und internationale Wettbewerbe ausgewählt.

Der Weiterbildung wird grosses Gewicht beigemessen: Abbildung 1-1 zeigt die Vielfalt und Reichweite des Weiterbildungsprogramms in diesem traditionsreichen und doch modernen Beruf.

Abbildung 1-1: Berufliche Aus- und Weiterbildung in der Fleischwirtschaft. Eigene Darstellung anhand von Unterlagen des ABZ Spiez


1.1.4Einige Varianten

Fleischfachleute werden nicht nur in gewerblich orientierten Kleinbetrieben ausgebildet, sondern auch in Grossmetzgereien. Darauf deutet auch der Schwerpunkt «industrielle Fleischverarbeitung» hin. In manchen Berufsfeldern unterscheiden sich hingegen die Lehrberufe je nach Betriebsform. Bei der Backwarenherstellung beispielsweise werden im Gewerbe Bäcker-Konditor-Confiseure/innen EFZ ausgebildet, in Grossbäckereien Lebensmitteltechnologen und -technologinnen EFZ, Schwerpunkt Backwaren.

In einigen Berufen und/oder Regionen wird der Berufsfachschulunterricht nicht auf 40 Wochen pro Jahr verteilt, sondern erfolgt in Blöcken, zum Beispiel bei den Müllern und Müllerinnen: Jährlich beginnen nur 20 Lernende diese Ausbildung, ihren Berufsfachschulunterricht erhalten sie im Berufsbildungszentrum Uzwil, weil die Firma Bühler AG, die international führende Herstellerin von Müllereimaschinen, in Uzwil ein Ausbildungszentrum führt. Dies ermöglicht Synergien, hat aber für viele Lernende lange Anfahrtswege zur Folge. Deshalb wird der Unterricht in Blockkursen von zwei bis drei Wochen Dauer geführt. Während dieser Zeit wohnen manche Lernende am Unterrichtsort in einem Internat oder bei Gastfamilien.

In der Landwirtschaft war die Grundbildung lange Zeit zweigeteilt: Im ersten und zweiten Lehrjahr wurden die Jugendlichen vor allem praktisch ausgebildet und besuchten nur während 240 Lektionen pro Jahr eine Berufsschule. Im dritten Lehrjahr wurde in Form von Landwirtschafts-Winterschulen oder -Jahresschulen vorwiegend theoretisch ausgebildet. Als die Ausbildung dem Berufsbildungsgesetz unterstellt wurde (vgl. dazu Kapitel 2.3), hat man sie der gewerblichen Lehre angeglichen. Seit 2008 handelt es sich um eine dreijährige Ausbildung mit acht Tagen üK und je 360 Lektionen Berufsfachschulunterricht in den ersten beiden Jahren, vermittelt in Blöcken oder tageweise. Im dritten Lehrjahr umfasst der Unterricht 880 Lektionen und wird teilweise in Blöcken vermittelt. Der Lehrbetrieb wird im Rahmen der Grundbildung häufig ein- oder zweimal gewechselt.

Lernende in gastgewerblichen Berufen, die in einem Kurort mit Saisonbetrieb lernen, besuchen den Berufsfachschulunterricht und die überbetrieblichen Kurse in einem der fünf Schulhotels des Branchenverbandes hotelleriesuisse, zum Beispiel im Schulhotel Regina in Interlaken. Der Unterricht findet zweimal pro Lehrjahr in einem je fünfwöchigen interkantonalen Schulkurs statt. Während der Kurse wohnen die Lernenden im Schulhotel.

Manche Betriebe können oder wollen nicht alle Qualifikationen vermitteln, die bei einem Lehrberuf vorgesehen bzw. vorgeschrieben sind. Sie können sich zu sogenannten Lehrbetriebsverbünden zusammenschliessen. Dies ist auch die Lösung für Kleinstbetriebe, die nicht genügend Arbeit für Lernende haben.

Dabei werden zwei Formen unterschieden:

•Ein Lehrbetrieb, der einen kleinen Teil der betrieblichen Bildung nicht selbst abdecken kann, sucht dafür einen Partnerbetrieb, in dem die Lernenden während einiger Wochen oder Monate lernen und arbeiten (sog. Ergänzungsausbildung, vgl. Abb. 1-2).

•Mehrere Betriebe konzentrieren ihre Ausbildungstätigkeit je auf einen Teil des Ausbildungsprogramms und bilden Lernende gemeinsam aus. Jeweils ein Betrieb wird als Leitbetrieb bezeichnet. Er schliesst unter anderem mit der bzw. dem Lernenden den Lehrvertrag ab und vertritt den Lehrbetriebsverbund nach aussen (vgl. Abb. 1-3).

Manchmal werden auch Ausbildungsverbünde als Lehrbetriebsverbünde (sog. Grossverbünde) bezeichnet. Ausbildungsverbünde und Lehrbetriebsverbünde unterscheiden sich jedoch im Hinblick auf die Verteilung der Aufgaben und den Zweck des Zusammenschlusses klar: Ein Lehrbetriebsverbund sorgt selbst für die praktische Ausbildung (wobei einer der beteiligten Betriebe die Hauptverantwortung übernimmt), bei einem Ausbildungsverbund hingegen existiert eine selbstständige Geschäftsstelle, die für das Bildungsmanagement und allenfalls die Vermittlung der Basisausbildung verantwortlich ist. Die betriebliche Ausbildung selbst erfolgt hingegen in Partnerbetrieben des Ausbildungsverbunds, die ihrerseits weitgehend vom Ausbildungsmanagement inklusive Administration entlastet sind (vgl. Kapitel 1.3).


Abbildung 1-2: Ergänzungsausbildung. Eigene Darstellung


Abbildung 1-3: Lehrbetriebsverbund. Eigene Darstellung
Porträt Nicole Renggli
Die Mitte der drei Lernorte
Spüren, wie sich ein Patient fühlt, erfahren, wie in anderen Betrieben gearbeitet wird – das können angehende Fachleute Gesundheit im überbetrieblichen Kurs. Nicole Renggli ist eine von ihnen.

Nicole Renggli, 17, angehende Fachfrau Gesundheit EFZ, nimmt an einem überbetrieblichen Kurs teil


Herr Traber ist 65 Jahre alt. Seit vielen Jahren leidet er an chronischer Polyarthritis, und jetzt ist er auch noch gestürzt. Er hat sich das rechte Sprunggelenk, zwei Rippen und den rechten Unterarm gebrochen. In der Inszenierung von Flavia jammert er und hält das Personal auf Trab: «Geht’s nicht ein bisschen schneller, haben Sie eigentlich auch schon Schmerzen gehabt!» Inszenierung? Ganz recht: Wir befinden uns im Ausbildungszentrum der Zentralschweizer Interessengemeinschaft Gesundheitsberufe (ZIGG) in Alpnach Dorf und sind Zeugen eines Rollenspiels. Angehende Fachfrauen Gesundheit inszenieren eine «postoperative Situation» und dokumentieren sie mit einer Filmkamera.

Szenen wie diese sind Teil des didaktischen Repertoires der überbetrieblichen Kurse (üK) im Gesundheitsbereich. Hier bestehen 70 Prozent der Lernzeit aus Übungen oder Gruppenarbeiten, der Rest wird für die stille Lektüre und den Dozentenvortrag eingesetzt. Das Ausbildungszentrum in Alpnach Dorf – ein Neubau im Industriegebiet – ist entsprechend ausgerüstet: In den Schulzimmern stehen hinter den Tischen Betten, ein Materiallager enthält rund 700 Pflegeartikel. Vitalwerte messen, Gehtraining, druckentlastende Lagerung – das Modul 6, mit dem sich die Lernenden gerade beschäftigen, bietet unzählige Gelegenheiten zum Üben. Nicole Renggli, eine der Lernenden, findet das toll. Erstens böten die Übungen Gelegenheit, Handgriffe sorgfältig auszuprobieren und Fragen zu diskutieren. Und zweitens lerne man in der Rolle der Patientin, wie sich die Pflege anfühlt. Bei Herrn Traber, alias Flavia, hatte der Perspektivenwechsel geradezu kathartische Wirkung. «Du warst ein richtiges Ekel», meinte eine ihrer Kolleginnen nach dem Rollenspiel. Flavia darauf: «Meine Patienten sind es manchmal auch.»

Zur dreijährigen Ausbildung von Nicole Renggli gehören 34 üK-Tage, die in 12 Module unterteilt sind. Ihr Inhalt ist auf das Geschehen an den beiden anderen Lernorten abgestimmt. Ernst Schäfer, Leiter Bildung im Kurszentrum, erklärt: «Neue Themen sollen nach Möglichkeit in der Berufsfachschule theoretisch eingeführt, im überbetrieblichen Kurs nach einer theoretischen Repetition eingeübt und im Betrieb ausgeführt werden.» Nicole Renggli sagt, dass die Koordination zwischen Schule und üK sehr gut funktioniere, während an den Arbeitsplätzen in Krankenhäusern oder Spitex manchmal vorgegriffen werde. So habe sie ohne theoretische Grundlage schon Dauerkatheter geleert. Anspruchsvollere Tätigkeiten wie das Richten von Medikamenten oder das Spritzen von Insulin müssen hingegen zwingend im überbetrieblichen Kurs eingeführt werden. Ernst Schäfer erläutert: «Es ist uns gelungen, eine Koordinationsplanung der drei Lernorte einzurichten. Sie basiert auf dem gegenseitigen Vertrauen der Ausbildungspartner und der Bereitschaft, in ständigem Kontakt mit den Betrieben zu sein.»

 

Inzwischen ist auch Nicole Renggli in die Rolle einer Pflegeperson geschlüpft und prüft mit einem Pulsoximeter den Sauerstoffgehalt im Blut von Frau Wüthrich, die von Jasmin gemimt wird. Sie wird dabei von der Dozentin beobachtet, die über das Gelernte keine Prüfungen durchführt, aber überfachliche Kompetenzen wie den respektvollen Umgang, angepasste Kommunikationsformen oder motiviertes Arbeiten zu beurteilen hat. «Diese Sauerstoffmessung wenden wir im Heim, in dem ich arbeite, nicht an», erklärt Nicole Renggli später. Dass sie sie dennoch erlernen kann, ist eine weitere Leistung des überbetrieblichen Kurses. «Im üK wird das gesamte pflegerische Handwerk aus Akutabteilungen, der Langzeitpflege und der spitalexternen Pflege trainiert», sagt Ernst Schäfer. Er spricht von einer «Drehscheibenfunktion» des üK, die spezifische Lernschritte ermögliche: «Weil sich im üK Lernende und Dozierende aus unterschiedlichen Kontexten begegnen, ist es nötig, Unterschiede wahrzunehmen, mitzuteilen und zu verstehen. Im üK vermitteln wir Grundsätze und die Fähigkeit, Abweichungen zu reflektieren.» Diese Rolle des üK ist auch darum wichtig, weil die fünf Schulen im Einzugsgebiet der ZIGG verschiedene Lehrmittel einsetzen und die 175 Zubringerbetriebe unterschiedlich arbeiten. Von hoher Wichtigkeit sind da auch die üK-Handbücher für Lernende und Dozenten, die von einem fest angestellten Team der ZIGG erstellt wurden.