Maultaschen in Love.

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

»Na klar weiß ich, was ein Telefonjoker ist. Wenn du nicht weiterweißt, rufst du mich an, und ich helf dir mit der richtigen Antwort.«

»In diesem Fall bleibst du permanent am Telefon, ich hab dich im Ohr.«

»Und wenn Opa aus Mallorca anruft?«

»Vertröste ihn auf später, es sei denn, er hat ein Verhältnis mit seiner Winzerin und will sich scheiden lassen. Und selbst das hätte drei Stunden Zeit.«

Oma hatte verstanden und versprach, die Bitten ihrer Lieblingsenkelin zu befolgen.

Zwanzig Minuten bis zum Beginn der Show. Der Zuschauerraum in der halbkreisförmigen Arena vor der Showbühne war gefüllt, die fünfköpfige Jury war in der Kabine geblieben, die Kandidaten standen in ihren Kochnischen jeweils vor ihrem Herd.

Acht Minuten.

Belinda hörte das leise Rauschen im Kopfhörer und gleich darauf erneut die vertraute Stimme ihrer Oma: »Kindchen! Mein Gott, ist das aufregend! Ich hab Tante Hilde, Frieda Lattenweich und meine Mädels vom Gourmetclub angerufen. Sie müssen jeden Augenblick da sein.«

»Aber Oma, du sollst keinen Kaffeeklatsch veranstalten, du musst dich auf mich konzentrieren!«, schimpfte Belinda.

»Ach Kindchen, du weißt doch, ich bin Multitasking!«

Aber nicht Multitalking!, widersprach Tinker im anderen Ohr.

»Ich bin ja so stolz, mein Kind. Es hat geschellt. Das sind die Mädels. Ich ruf dich gleich wieder an.«

»Nein, Oma, die müssen DICH anrufen!«

»Tuut … tuut …tuut …«

Sechs.

Belinda fluchte und schüttelte den Kopf.

»Die haben hier keine Nudelteigmaschine«, hatte sie sagen wollen und starrte auf das Wellholz, das sie sich stattdessen zurechtgelegt hatte. Für fünf Portionen Maultaschen würde es reichen.

Fünf.

Jemand rief: »Stand-by! Alle Gewerke!«

»Was brauchst du noch?«, sinnierte sie.

Was zu trinken, flüsterte Tinker.

Chardonnay, dachte Belinda. Sie sah sich im Zutatenregal um. Wein zum Kochen. Rot und Weiß. Kein Chardonnay. Sie erblickte Kim und ging auf sie zu.

Vier.

»Mir fehlt noch eine Zutat«, sagte sie zu der Regieassistentin. »Chardonnay. Habt ihr so was?«

Kim grinste. »Man nehme ein Glas Wein und schütte es in die Köchin?«, fragte sie.

Belinda grinste zurück: »Sind Sie vom Fach?«

»Klar doch«, sie zwinkerte, »bin gleich wieder da!«

Wo, verdammt, blieb Omas Stimme?

Drei.

»Bitte schön. Der Chardonnay!« Kim stand mit zwei gefüllten Gläsern vor ihr.

»Trinken Sie mit?«, fragte sie Belinda.

»Gern, nach der Sendung«, antwortete Kim. »Aber Sie haben doch nachher Ihre Großmutter im Ohr. Vielleicht wollen Sie mit ihr mal anstoßen?«

Belinda sah sie lächelnd an. In der Tat hatte sie auch schon an dieses alte Ritual zwischen Oma und ihr gedacht. Wie oft hatten sie sich schon in Gedanken zugeprostet oder sich auf eine bestimmte Zeit zum Anstoßen verabredet.

Zwei.

»Ich bin da!«, hörte Belinda im Kopfhörer. »Ich hab mir noch rasch einen Chardonnay eingeschenkt«, erklärte Oma, »damit wir anstoßen können! Auf uns! Und auf deine Maultaschen!«

»Prost Oma!«, flüsterte Belinda und verschluckte sich fast, als der kühle Chardonnay über ihre Kehle rann.

Eins.

Belinda spürte, wie ihr Herz klopfte. Diesmal jedoch nicht wegen der Aufregung vor dem Wettbewerb, sondern wegen ihrer eigenen Courage. Mit welchem Mut, ja mit welcher Unverfrorenheit hatte sie sich in diesen Wettbewerb begeben? Und wenn sich jetzt noch das Sprichwort bewahrheitete und Frechheit siegte, dann würde sie in ein paar Tagen am Kap der Guten Hoffnung stehen!

Schon klang die Stimme Marcel Larouges durch die Show-Arena: »Mesdames, Messieurs, bienvenue und willkommen, meine Damen und Herren, zur ›Schwäbischen Küche für die Welt – raffiniert serviert‹, live von der Gourmet Voyage mit Ihrem Maître Marcel Larouge!« Er erntete begeisterten Applaus.

Belinda erinnerte sich später nur vage an den Countdown und das kurze Interview, das der Maître mit jedem der sieben Kandidaten geführt hatte. Auch das Zubereiten der Maultaschen erlebte sie nur wie in Trance.

Mit geschickten Handgriffen vermischte sie Spinat, Rinderhack und die Eier grob von Hand und würzte das Ganze mit der vorbereiteten Mischung aus Salz, Pfeffer, Thymian, Paprikapulver und Muskatnuss.

»Das Brät erst zum Schluss, sonst bekommst du Gewürznester in der Füllung«, wies Oma sie an.

»Ach Oma«, seufzte Belinda, »das hast du mir nun doch schon hundert Mal gesagt!«

Unter Zugabe des feinen, hellen Bräts entstand eine geschmeidige Masse, die sich leicht mit dem biegsamen Stahlblatt der Palette auf den ausgerollten Teig streichen ließ.

»Jetzt wird’s spannend«, prophezeite Oma. »Das perfekte Einschlagen des Teigs zeigt die wahre Meisterin.«

Belinda beherrschte die klassische Teigwickeltechnik, seit sie in der Küche ihrer Eltern im Rottenburger Weinlokal Maultaschen in großen Mengen zubereitet hatte. Ihr Blick ging zur Uhr. Sie lag zeitlich gut im Plan.

»Jetzt wäre ich doch gerne dabei«, murmelte Oma. »Du hast es fast geschafft! Wenn du sie gleich aus dem Wasser holst, probiere eines der Randstücke.«

Belinda sah den schwimmenden Maultaschen verträumt zu, als sich plötzlich Tinker meldete:

Und jetzt, ihr zwei Gourmetköchinnen? Glaubt ihr im Ernst, allein mit diesen gefüllten, bleichen Teigteilchen auf dem Teller gewinnt ihr eine Reise ans Kap der Guten Hoffnung?

Belinda war schlagartig hellwach. Genau darüber hatte sie sich bislang noch keine Gedanken gemacht. Zu Hause gab es Maultaschen in der Fleischbrühe, geschmelzt mit Kartoffelsalat oder mit Ei. Sie schielte auf die Teller der anderen Köche, die teils ähnlich leer vor sich hin gähnten wie ihrer, teils aber auch schon reichhaltig verziert waren mit grünen Kräutern, bunten Wildblüten, Sahnemustern, geschnitzten Gemüsestreifen, verstreuten Gewürzen, Soßenspritzern und leuchtenden Dressings.

»Das Auge isst mit«, dachte Belinda. »Was mache ich mit den Maultaschen, damit sie zum Blickfang werden?«

Stylische Finesse war nun noch gefragt. Omas Maultaschen waren keine geschlossenen Rechtecke oder Quadrate, sondern längliche Streifen, die man – längs aufgeschnitten – von der Brätseite her anbraten konnte. Somit verlor die gräuliche Kalbsbrätmasse ihre Blässe zugunsten einer kross gebratenen Füllung.

Belinda stellte eine Pfanne mit etwas Butter auf die Herdplatte und legte zwei der halbierten Maultaschen hinein. Wie zwei kleine, längliche Schiffchen schwammen sie in der zerlassenen Butter. Während sie dezent brutzelten, fiel Belindas Blick auf das schwarz-weiße Plattenmuster an der Küchenwand der Arena, das sie an ein Schachbrett erinnerte.

Wie in Gedanken wendete sie eine der Maultaschen und betrachtete die kross-braun leuchtende Oberfläche. Es sah interessant aus, die beiden Brätoberflächen in unterschiedlicher Ausprägung nebeneinander in der Pfanne zu sehen. Ein helles und ein dunkles Schiffchen in einem schwarzen Moorsee. Wie in Trance legt sie eine dritte Maultaschenhälfte hinzu.

Drei Schiffchen. Hell, dunkel, hell.

Schönes Muster, kommentierte Tinker.

Das Schachbrett der Küchenwand sprang sie an.

Das müsstest du so auf den Teller bekommen, forderte Tinker sie auf.

Belinda bereitete einen der weißen, edlen Servierteller vor und nahm die kross gebratene Maultasche aus der Pfanne. Ein Schnitt mit dem Messer machte zwei gleich große Teile daraus. Vorsichtig hob sie einen davon an und drehte die krosse Seite nach unten.

Wenige Minuten später hatte sie ihre Idee perfektioniert: Krosse und gekochte Maultaschenschiffchen leuchteten nebeneinander und versetzt untereinander wie ein Schachbrettmuster aus acht Teilen. Noch nie hatte sie Maultaschen optisch schöner zubereitet wahrgenommen.

Wie interessant, lobte Tinker, ein Mosaik!

Und jetzt noch etwas Farbe, dachte Belinda und ging zu der Theke. Sie schnitt eine kleine Zwiebel und ließ sie in zerlassener Butter dunkelbraun werden.

Sie verzierte das Maultaschenschachbrett, um die Übergänge zu kaschieren, an den Schnittstellen mit den geschmelzten Zwiebeln und ein paar Blättchen Ackersalat und brachte mit einem hauchdünnen Fadennest aus Rote Beete noch einen Farbtupfer ins Spiel. Mit dem Finger trug sie etwas geschmolzene Butter auf die Oberflächen auf und brachte sie so zum Glänzen. Ein Spritzer dunkle Bratensauce in Wellenform, fertig!

Sie sah zur Uhr. Noch eine knappe Viertelstunde. Zeit genug, um auch die anderen vier Teller auf diese Weise anzurichten. Sie hatte noch zwei Minuten Zeit, als zwanzig zweifarbige Maultaschenschiffchen, jeweils vier parallel nebeneinander und mit roten und grünen Farbtupfern verziert, auf fünf kleinen, weißen Meeren schwammen. Sie war mit ihren kleinen Gesamtkunstwerken sehr zufrieden.

Maultaschen-Mosaik!

Marcel Larouge kündigte vollmundig den Countdown an, indem er in Manier eines Croupiers schließlich rief: »Rien ne va plus!«


Um diese Zeit war im Terminal 1 des Stuttgarter Flughafens nicht mehr viel los. Ein paar gestrandete Passagiere, eine Handvoll Geschäftsreisende und noch ein paar Weitere, die, so wie Belinda jetzt, einen der letzten Zubringerflüge nach Frankfurt gebucht hatten, um von dort einen Nachtflug zu bekommen.

Das letzte Mal, als Belinda durch die Abflughalle gegangen war, hatte sie das Halsband mit der Karte für die Gourmet Voyage aus dem Handlauf der Rolltreppe gezogen. Heute, ganze drei Tage später, stand sie wieder dort, und dieses Mal tatsächlich mit einem Reisekoffer und einem gültigen Flugticket in der Hand. Es war für sie immer noch unvorstellbar, in welches Abenteuer sie da hineingeschlittert war.

 

Sie schmunzelte, als ihr das Telefongespräch, das sie am Tag nach dem Kochwettbewerb geführt hatte, in den Sinn kam. Noch nie hatte sie eine tiefere und rauchigere Frauenstimme gehört als die von Sonay Cagal, wie sich die sympathisch klingende Mitarbeiterin der Reiseagentur vorgestellt hatte. Belinda gab ihr die restlichen Angaben für ihr Flugticket durch und erfuhr dabei von der gut gelaunten Dame mit dem melodisch klingenden Namen, dass eine Buchung auf den Namen Belinda Sommer nicht existiere.

»Ach, natürlich, sorry … ich hatte mich mit Belle angemeldet!«

»Ich habe hier eine Belle. Allerdings mit anderem Nachnamen. Conrad. Und Belle ist ihr richtiger Vorname?«

»Nein, ich heiße Belinda«, erklärte sie. »es nennt mich zwar niemand so, aber im Pass steht es nun mal. Und der Nachname …« Sie zögerte.

»Jaaa?«, hakte Sonay lachend nach, »ich kenne das Problem mit den Namen. Mein Vorname klingt türkisch, mein Nachname französisch.« Und wieder war es die quirlige Stimme am anderen Ende, die unbewusst Belindas Skrupel verscheuchte.

»Ich habe jetzt einen anderen Nachnamen«, schwindelte sie vorsichtig.

»Sie haben geheiratet? Herzlichen Glückwunsch!«

»So ähnlich«, dachte Belinda laut und musste fast auch lachen.

»Na, wie ist denn jetzt Ihr Nachname?«

»Ich heiße jetzt Sommer« sagte Belinda, fast erschrocken über die Erkenntnis, dass ihr der Fortgang der Verwechslung anfing, Spaß zu machen.

Ein paar Minuten später hatte Belinda eine E-Mail von Best Aerticket mit ihren gebuchten Flugdaten und weiteren Informationen für ihre Anreise nach Kapstadt.

Ihre Großmutter hatte sie zum Flughafen gefahren und während der ganzen Fahrt versucht, sie davon zu überzeugen, dass diese Reise für Belinda die Chance für einen neuen Lebensabschnitt sein konnte.

»Und wenn nicht«, hatte Oma überzeugend gesagt, »dann wenigstens der Start zu einem richtigen Abenteuer. Mensch, wenn ich noch so jung wäre, ich würde mich in dieses Afrika stürzen und es aufsaugen. Kind, was hast du für ein Glück!«

Belinda musste lachen. »Und du findest es nicht skrupellos, was ich da mache?«, hatte sie gefragt.

»Skrupellos? Ach was!«, hatte Oma widersprochen. »Du hast diese Kochshow gewonnen und bist somit rechtmäßig auf Platz eins, was soll daran skrupellos sein?«

In der Tat! Sie hatte diese Kochshow gewonnen und voll Freude und Stolz das Kochhemd mit dem Logo der Gourmet Voyage als Siegestrophäe entgegengenommen. Den Wortlaut der Urkunde mit der Begründung der Jury hatte sie auswendig gelernt:

»Das altbekannte Maultaschengericht wurde mit unglaublich viel Feingefühl in einem wunderschönen Arrangement präsentiert und geschmacklich perfekt umgesetzt. Überzeugt hat die Jury auch die Variante der Zubereitung. Der Klassiker Maultasche erfährt in der Darstellung als Mosaik und mit dezenten Farbtupfern eine neue und interessante Interpretation. Somit entschied sich die Jury einstimmig für das ›Maultaschen-Mosaik mit geschmelzten Zwiebeln und einem Fadennest aus Rote-Beete-Sprossen‹ als Siegergericht. Für die Jury: Franz Berlin.«

»Frechheit siegt bekanntlich«, hatte Oma noch gesagt, »und dass nicht du, sondern eine andere Köchin ursprünglich angemeldet war und du einfach hingegangen bist, weil dir das Glück die Karte in die Hände gespielt hat, ist nicht skrupellos, sondern höchstens ein bisschen frech.«

Nach dem Gespräch mit Oma hatte die letzte Unsicherheit purer Freude Platz gemacht, und sie war jetzt lange nicht mehr so aufgeregt wie noch vor drei Tagen. Belinda war bereit für Südafrika. Bereit für ein spannendes Abenteuer. Bereit für einen neuen Beginn. Oder, wie ihre Großmutter ihr zum Abschied noch gesagt hatte: »Für das ›große Ding‹!«

Und wenn du als Köchin die Gala Chakalaka rockst, ergänzte Tinker, kannst du deinem Chef in der Apotheke Maultaschen auf Rezept verkaufen!

So stand sie nun mit ihrem nagelneuen Rimowa-Koffer entschlossen vor den Check-in-Countern der Lufthansa. Als der junge Mitarbeiter sie durch sein Kopfnicken aufforderte vorzutreten, hielt sie ihm ihr elektronisches Flugticket, das sie sich zu Hause und ohne es genau anzuschauen, ausgedruckt hatte, zusammen mit ihrem Reisepass entgegen. Der Blick, mit dem er das Papier prüfte, kam ihr einen Augenblick zu lange vor, und sie spürte ihr Herz schon wieder schlagen, als sie sein Stirnrunzeln bemerkte.

»Die Dame …« begann er und streckte ihr Ausdruck und Reisepass wieder entgegen. »Es tut mir leid, Sie sind hier falsch!«

»Mist«, dachte Belinda im gleichen Moment, »jetzt bist du aufgeflogen!«

Abwarten, murmelte Tinker.

Der Gesichtsausdruck des Lufthansaangestellten wich einem sanften Lächeln, er machte eine höfliche Handbewegung und deutete an den Schalter am Ende der Reihe.

»Bitte einmal nach ganz vorne zum ersten Schalter durchgehen.«

Belinda entschied sich, seiner Anweisung ohne Rückfragen zu folgen, und hegte doch wieder die Hoffnung, nicht enttarnt worden zu sein.

»Erster Schalter«, wiederholte sie und zog ihren Koffer hinter sich her. Der Schalter am Ende des Tresens hatte als einziger ein rotes Absperrband an beiden Seiten, und ein roter Teppich zierte den Boden davor. Bevor sie richtig kapierte, was das zu bedeuten hatte, las sie auf dem Bildschirm, der über dem Kopf der streng blickenden und perfekt geschminkten Lufthansamitarbeiterin in blauem Kostüm hing: Businessclass.

Wow, Upgrade, flüsterte Tinker, und Belinda ließ dem versuchten Anflug von Panik in ihr keine Chance. Sie grinste und dachte nur: »Standesgemäß, alles richtig gemacht … BELLE!«

Sie würde sie finden, die echte Belle, und ihre Geschichte erfahren. Solange würde sie »Belle« sein, ihre Rolle spielen und sich des Sieges bei der Gourmet Voyage würdig erweisen. Die echte Belle sollte stolz auf sie sein.

Wer war diese Frau, in deren Rolle sie jetzt ungewollt geschlüpft war? Wo war sie? Was war aus ihr geworden? Warum war sie nicht zu dem Kochevent erschienen? Oder hatte sie die Karte einfach nur verloren? Nein, so ein Band trug man um den Hals, und so wie sie es am Handlauf der Rolltreppe vorgefunden hatte, war es dort absichtlich hingehängt worden. Hier hatte jemand sein Glück nicht achtlos weggeworfen, sondern versucht, ihm eine andere Chance zu geben. Zumindest war es Belinda wohl bei dem Gedanken, dass es so gewesen sein könnte und diese Belle ihr jetzt nicht böse war, weil sie diese Chance ergriffen und sogar noch für ihr eigenes Leben genutzt hatte. Sie nahm sich fest vor, nach dem Ende ihres Abenteuers die Spuren Belles zu suchen.

Unbedingt.

Und der Name »Belle« brannte sich in ihr Gedächtnis ein.

Begleitet von einem glutroten Sonnenuntergang landete die Maschine in Frankfurt.

»Seltsam, dass du ausgerechnet nach Afrika fliegst«, dachte Belinda, »schöne Sonnenuntergänge gibt es doch auch hier!«

Sie hatte keine Zeit, sich noch mehr Gedanken zu machen, der Flug nach Kapstadt war zum Boarding bereit, und eine knappe Stunde später saß sie in der Businessclass einer Boeing 747-400 und bestellte sich zur Beruhigung erst mal einen trockenen Rotwein. Guter Schlummertrunk.

»Hinein in das Abenteuer, BELLE, in das große Ding!«

Mit einem Schluck leerte sie ihr Glas.


Sie schob die Jalousie hoch und kniff in der hereinströmenden Helligkeit die Augen zusammen.

»Willkommen in Afrika!«, sagte der Flugbegleiter und reichte ihr einen Kaffee. »Oder goeiemôre, wie man hier auf Afrikaans sagt: guten Morgen.«

Sie glitten über endlose Savannen, weite Ebenen und karstige Hochplateaus, es gab »cold brunch« zum Frühstück, und schließlich, schon im Landeanflug auf Kapstadt, erblickte Belinda erstmals das Massiv des Tafelbergs, wolkenfrei und in seiner ganzen majestätischen Größe. Nach wenigen Minuten setzte die Boeing auf der Rollbahn des Cape Town International Airport auf. Belinda verließ die Maschine über die fahrbare Gangway und spürte, wie ihr warme, feuchte Luft ins Gesicht schlug.

Riecht irgendwie anders als auf dem Flughafen in Echterdingen, meinte Tinker. Sie war zum ersten Mal in Südafrika! Zum ersten Mal auf diesem Kontinent.

Was würde sie hier erwarten?

»Ist das nicht gefährlich? – Du als weiße Frau ganz allein? Man liest doch so viel von Überfällen?« Das waren die Fragen und Bedenken gewesen, mit denen man sie zu Hause konfrontiert hatte, als sie von ihren kurzfristig gefassten Reiseplänen erzählte.

Quatsch!, hatte Tinker geantwortet. Du warst allein im Oman und hast ganze Nächte bei den Arabern in der Wüste verbracht, du hast halb Asien zu Fuß durchquert und dich auf Mallorca quer durch den Ballermann gesoffen! Das bisschen Afrika machst du doch mit links!

Wie um ihre Befürchtungen zu zerstreuen, leuchtete ihr über dem Zugang zum Ankunftsbereich ein Schriftzug in großen Buchstaben entgegen: »WELCOME TO YOUR NEW TERMINAL PROUDLY CAPE TOWN«.

Belinda grinste die Zollbeamten an, die sie schnell und reibungslos durch die Kontrolle winkten und nicht mal den Impfpass sehen wollten, und fand sich im Tross der anderen Reisenden in der hohen und hellen Halle der Gepäckausgabe. Zu ihrer großen Freude entdeckte sie ihren pinkfarbigen Trolley schon auf dem Förderband und stand keine fünf Minuten später vor dem Central Terminal Building, wo das afrikanische Leben um sie herum zu pulsieren schien. Auf der Airport Ring Road reihten sich gelbe Taxis, bunte Minibusse und die auffälligen rot-blau-weißen MyCiti-Liner aneinander.

»Du wirst in Kapstadt am Flughafen abgeholt«, hatte ihr Kim noch angekündigt.

Belinda war erfahren und unerschrocken genug, um sich auch noch auf dieses Abenteuer einzulassen, immerhin wusste sie, dass sie zum Weingut Hoopengeluk musste.

»Hoffnung und Glück«, dachte Belinda, »wie passend«. Sie vertraute auf ihr Glück, das ihr hold gewesen war, seit sie an der Rolltreppe die Eintrittskarte für ihr neues Leben, wie Tinker es nannte, gefunden hatte.

Zahlreiche Schilder von Tourismus-Unternehmen, Logos der Tour-Operator und Safariveranstalter und Zettel mit handgeschriebenen Namen wurden ihr entgegengehalten, doch wohin sie auch blickte, Hoopengeluk war nicht dabei.


Schon wollte Belinda eines der gelben Taxis ansteuern, als sich plötzlich eine Hand schwer und fest von hinten auf ihre Schulter legte. Sie fuhr herum und blickte in das pockennarbige, glatzköpfige Gesicht eines bulligen Afrikaners, der sie mit einem seltsamen Grinsen fixierte. Er war zwei Köpfe größer als sie, trug eine dunkle Stoffhose und dazu ein ärmelloses, ausgeblichenes Kurzarmhemd, das vor Jahren sicher einmal weiß gewesen und nun zwei Nummern zu klein war.

»Er hat was von George Foreman«, dachte Belinda, »und war sicher ein ehemaliger Leibwächter von Nelson Mandela oder ein Krimineller, der auf allein reisende Touristinnen spezialisiert war«, und sie rechnete jeden Augenblick mit einem gezückten Klappmesser. Der Mund mit den wulstigen Lippen öffnete sich und gab strahlend weiße Zähne frei, die in leuchtendem Kontrast zu seinem schokoladenbraunen Teint funkelten.

Das Grinsen hatte etwas Bedrohliches, als er schroff fragte: »Sind Sie Belle?«

Sie nickte und wartete darauf, dass er sich vorstellte, doch er schwieg beharrlich und klimperte nervös mit einem Schlüsselbund, den er in der linken Hand hielt. Er war nicht gerade der Typ, zu dem man einfach so in ein Auto stieg, schon gar nicht als Frau und noch weniger in einem fremden Land.

»Und wer sind Sie?«, fragte sie schließlich auf Englisch zurück, da auch er sie so angesprochen hatte.

»Ein Mitarbeiter.«

Aha! Hatte er irgendetwas dabei, womit er sich ausweisen konnte?

»Da rüber!«, sagte er auffordernd.

Ihr wurde ganz schnell klar, dass sie keine Wahl hatte, denn die Kopie von George Foreman hatte sich abrupt umgedreht und die Ring Road in Richtung der Parkplätze überquert.

»Hallo, und mein Gepäck?«, wollte sie schon rufen, doch Tinker mahnte sie zum Schweigen.

 

Du bist in Afrika, hier tragen die Frauen ihr Gepäck selbst, am besten auf dem Kopf! Sie betrachtete drei bunt gekleidete afrikanische Mamas, die in jeder Hand mehrere überquellende Taschen hielten und auf dem Kopf seltsam verschnürte bunte Pakete balancierten. Hinter ihnen gingen plaudernd die Männer, salopp rein gar nichts in der Hand, geschweige denn auf dem Kopf.

»Na prima«, dachte Belinda, »das fängt ja richtig gut an«, nahm ihren Trolley und folgte »Big Africa«, wie sie ihn von nun an nennen wollte, solange er ihr seinen Namen verschwieg.

Sie ließ ihren Blick über die sandfarbenen und olivgrünen Defender und Land Cruiser schweifen und versuchte zu erraten, in welches der abenteuerlich aussehenden Allradfahrzeuge sie wohl gleich einsteigen würde. Big Africa steuerte an den 4x4-Landrovern vorbei auf einen schwarzen Audi A6 Sedan zu, der, so frisch poliert wie er aussah, zu den verdreckten Geländewagen passte wie ein Spiegelei ins Menü eines Sternerestaurants. Auf der Tür prangte in geschwungenen silbernen Buchstaben der Schriftzug Ouplaas Cape Town Boutique Hotel neben einer stilisierten, in leuchtendem Weiß gebrandeten Villa, was Belinda stutzen ließ.

Belinda wartete darauf, dass er den Kofferraum öffnen oder ihr die Beifahrertür aufhalten würde, doch Big Africa zwängte seinen hünenhaften Körper auf den Fahrersitz, zog die Tür zu und bewegte sich nicht mehr. Sie trat an die Fahrerseite, klopfte an die Scheibe und beobachtete, wie ihr Fahrer auf den elektrischen Fensterheber drückte, der sich aber ohne Zündung nicht bewegen ließ.

Sie öffnete die Tür so weit, dass sie hineinsehen konnte, und sagte: »Ich glaube, da liegt eine Verwechslung vor. Ich sollte zum Weingut Hoopengeluk gebracht werden. Und das hier ist der Wagen …«, sie schielte auf den Schriftzug, »… eines Hotels, wie mir scheint.«

»Steigen Sie endlich ein«, knurrte Big Africa sichtlich genervt. »Sie sind richtig.«

Belinda atmete durch, öffnete die Heckklappe, hievte ihr Gepäck hinein und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Schon wollte sie aufschreien, als sie an einer Kreuzung einem von rechts kommenden Nissan die Vorfahrt nahmen, doch Tinker lispelte nur: Linksverkehr, und jetzt chill mal und mach dich locker!

»Okay, okay«, dachte Belinda, »du solltest wirklich langsam runterkommen und dich auf das Abenteuer Afrika einlassen.«

Sie schaute nervös aus dem Fenster.

»Darf ich fragen, wie Sie heißen?«, startete Belinda einen erneuten Versuch, den Griesgram aus der Reserve zu locken. Er schien ihre Frage zu überhören oder war überfordert. Sicher fuhr er besser im Allrad über Buschpisten.

»Nicht Ihr Wagen?«, versuchte sie daher ein anderes Thema. Und tatsächlich kam eine Antwort.

»Nein. Vom Hotel.«

Belinda war klar, dass er sich in seiner augenblicklichen Rolle unwohl fühlte.

»Und einen Namen haben Sie auch?«, legte sie trotzdem ungeduldig nach und ignorierte seine Befindlichkeit und Einsilbigkeit.

»Maphikelela Bhekizifundiswa Mfanafuthi.«

»Mafi…?«, versuchte Belinda.

»Zulu.«

»Ich fürchte, ich brauche eine Weile, bis ich mir das gemerkt habe.«

»Bushman«, schlug er vor. »So nennt man mich.«

Sie fuhren zunächst Richtung Innenstadt, an Townships vorbei, immer den Tafelberg im Blick, der sich ohne das berüchtigte Tischtuch wolkenfrei zeigte, bogen dann auf die M 3 Richtung Kirstenbosch ab und folgten der kurvigen Straße bergan, bis sie Constantia Valley erreichten. Bis an die Flanken der Berge reichten die Weinhänge, prächtige Reben, so weit das Auge reichte, und zwischen den Rebstöcken leuchteten gelb die Halme von Getreide.

»Wie weit ist es noch?«, fragte Belinda.

»Da vorne.«

Belinda versuchte, ihr aufkommendes Unbehagen zu ignorieren, und duckte sich tiefer in den Sitz. Die Zweifel, jemals auf dem Weingut anzukommen, wurden mit jedem Meter größer. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?

Nach ungefähr einem Kilometer gabelte sich das, was Bushman eine Straße genannt hatte, und sie bogen nach rechts ab. Belinda verspürte eine gewisse Erleichterung, denn sie hatte auf einem verlotterten Schild am Straßenrand den Namenszug Hoopengeluk erkannt.

»Wohin führt der andere Weg?«, fragte Belinda.

»Volstruis willow«, antwortete er nur, obwohl ihm klar sein musste, dass Belinda damit nichts anfangen konnte.

Ein Anflug von Verzweiflung und Zorn machten sich in ihr breit, und sie spürte einen Kloß in ihrem Hals.

»Willow ist die Weide und Volstruis der Vogel Strauß«, zitierte sie, was sie in den letzten Tagen in ihrem Afrikaanswörterbuch gepaukt hatte. »Lesen kann ich auch!«

Bushman bog schweigend erneut nach rechts ab und folgte einer schattigen Allee unter mächtigen alten Eichen. Sie sah zwischen dem Grün der Bäume am Ende der Allee etwas Helles schimmern, und als die Eichen auseinandertraten und der Fahrweg breiter wurde, erkannte sie die Mauer eines alten, im kapholländischen Stil erbauten Herrenhauses, dessen blütenweiße Front im Sonnenlicht in einem milden Hellblau leuchtete.

Bushman lenkte den Sedan auf die Zufahrt und parkte direkt vor dem hohen, geschwungenen Mittelgiebel, der, von kleinen Türmchen flankiert, dem Haupteingang das Aussehen eines Schlossportals gab. Eine breite, halbrunde Treppe führte in wenigen Stufen auf die schmale Veranda, die von einem weiß getünchten Zaun eingefasst war. In düsterem Kontrast dazu ragte das reetgedeckte Dach grauschwarz über die gesamte Länge des Hauses und warf einen breiten Schatten auf die fast haushohen Sprossenfenster.

Belinda öffnete langsam die Beifahrertür und hörte den Sand unter ihren weißen Schuhen knirschen, als sie ausstieg.

»Na prima«, dachte sie, »da gibst du für die nagelneuen Sneakers eine dreistellige Summe aus, um sie hier erst mal ordentlich einzustauben!« Doch anstatt sauer zu sein, war sie froh, einfach nur unversehrt aus dem Wagen aussteigen zu können.


Der Anblick des majestätischen alten Hauses verschlug ihr die Sprache. Sie kam sich vor wie die Märchenfigur Aschenputtel, als sie zum ersten Mal vor dem Schloss ihres Prinzen stand. So ein herrschaftliches Anwesen hatte sie hier in dieser Wildnis nicht erwartet. Und was das Ganze zu einem Paradies machte, waren die Blumen. Haushohe violette Bougainvilleen und knallrote Korallenbäume, die sich an den Ecken des Guts emporrankten, Königsproteen und orange-blaue Paradiesvogelblumen, die aus Kübeln von der Veranda quollen, auf den Treppenstufen Palmen und fein gefiederte Akazien mit gelben Blütenkugeln und ein Meer von Mittagsblumen in allen Farben, die in bunten Blütenpolstern die Wege säumten.

Sie dachte in diesem Moment an ihre Oma, die den schönsten und buntesten Garten mit den herrlichsten Blumenrabatten besaß und bei diesem Anblick wahrscheinlich ebenfalls sprachlos gewesen wäre. Dieses Blumenmeer und das herrliche Grün der alten Eichen, dazu die Lage in diesen weiten Rebhängen, die mächtigen Felsen am Horizont und der strahlend blaue Himmel – war es ein Traum? War es Wirklichkeit?

Bei uns wäre das ein First-Class-Hotel mit Sternerestaurant, flüsterte Tinker ehrfurchtsvoll, und Belinda gab ihr recht.

Sie sah sich um. Der große, von hellem Sand bedeckte Parkplatz war leer. Nur der schwarze Sedan stand verloren vor dem Haus. Niemand kam, um sie zu begrüßen, kein Kofferträger, kein Cocktail, kein Händeschütteln. Gab es vielleicht doch keine anderen Gäste, kein Personal?

Schließlich öffnete Bushman wortlos den Kofferraum, lud ihr Gepäck aus und signalisierte ihr, ihm über einen der schmalen Kiespfade zu folgen.

Ein echter Kavalier, bemerkte Tinker angesäuert, der kann lange auf sein Trinkgeld warten. Belinda seufzte, hievte sich den Rucksack auf die Schulter, hängte die Tasche um und hob den Trolley hoch, der sich auf den Steinen nicht rollen ließ. Mühevoll schleppte sie ihr Gepäck den leicht ansteigenden Weg hinauf, bis Bushman vor einem länglichen Gebäude stehen blieb und auf eine der Türen zeigte. Belinda betrat ein kleines Zimmer, an dessen Decke ein klappriger Ventilator ratterte.

»Totsiens!«, sagte Bushman noch und verschwand.

»Das heißt auf Wiedersehen«, wusste Belinda aus ihrem Südafrikaführer. Muss nicht sein, grummelte Tinker.


Die Sonne empfing sie vor ihrer Unterkunft. Belinda folgte einem schmalen Weg um den Flachbau herum und erreichte nach wenigen Metern einen von Kletterpflanzen bewachsenen hohen Zaun, der die Grenze zum Nachbargrundstück zu markieren schien. Neugierig blieb sie stehen, als sie Stimmen hörte. Sie kamen aus der Richtung des Herrenhauses, dessen weißen Giebel sie zwischen Akazien und Palmen schimmern sah. Ein Mann und eine Frau schienen sich dort zu unterhalten.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?