Maultaschen in Love.

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Ihre Oma mochte ihn deshalb nie wirklich, und spätestens, als sie sie einmal fragte, ob sie denn tatsächlich vorhabe, ihre besten Jahre mit diesem »Großkotz« zu vergeuden, dachte Belinda immer wieder darüber nach, ihm den Laufpass zu geben.

Einen Anlass bot er ihr aber nie, so war es nur dem Zufall zu verdanken, dass sie ihn eines Abends, als sie nach dem Dienst in der Apotheke wieder einmal im Lokal ihrer Eltern bedient und früher Schluss gemacht hatte, in trauter Zweisamkeit in einer Kneipe erspähte.

Der Tag war sowieso nicht auf ihrer Seite gewesen, der Chef hatte seine Laune mal wieder an seinen Angestellten ausgelassen, und jetzt auch noch diese Begegnung! Belinda hatte sich beherrscht und war zügig nach Hause gegangen. Sie beschloss, auf den Scheißtag mit einem ordentlichen Schluck Chardonnay anzustoßen. Drei Stunden später saß sie immer noch in ihrer Lieblingsecke in der Küche ihrer gemütlichen Zweizimmerwohnung, und ihre Wut über das, was der Tag ihr beschert hatte, steigerte sich mit jedem Schluck. Als Alex schließlich nach Hause kam, erkannte sie an seinem »Hallo Träubchen« und seinem süffisanten Blick sofort, dass das Bier, das sie auf dem Tisch der beiden erkannt hatte, nicht alkoholfrei gewesen sein konnte. Die Steilvorlage an diesem Abend war ihre Chance!

Wenn Alex getrunken hatte, war sie ihm verbal überlegen, und das nützte sie aus. Sie fackelte nicht lange, sprach ihn auf sein Date an und fragte ihn – ohne Vorwurf in der Stimme –, warum er sich denn ohne ihr Wissen mit anderen Frauen amüsieren müsse. Und da machte Alex den entscheidenden Fehler: Er schob die Schuld für sein Verhalten Belinda zu, weil sie ja lieber in der verstaubten Gaststube – wie er das gemütliche Lokal ihrer Eltern zu nennen pflegte – herumhänge, als etwas mit ihm zu unternehmen.

Als er dann wieder einmal in seiner überheblichen Art ihre geliebte Oma als »teigige Maultaschenstute« bezeichnete, vergaß sie sich und teilte ihm in entschlossenem Ton mit:

»Du kannst ausziehen!«

Bevor sie selbst kapiert hatte, was ihr da über die Lippen gekommen war, hatte er mitsamt seinem verletzten Stolz die Tür von außen zugeschlagen. Sie war ihm nachgerannt und hatte aus dem Treppenhaus nur noch seine laute Stimme gehört: »Du wirst schon sehen, wie weit du in deiner verstaubten Maultaschenfabrik noch kommst!«

DAS war ein Angriff auf ihre Familie und – noch schlimmer – ihre Oma gewesen und entlockte ihr ein schrilles, aber entschlossenes »Verschwinde bloß!«

Und als er zurückschrie, brüllte sie: »Es ist aus!« Und ihr »Für immer!« hallte grell durchs leere Treppenhaus.

So begrub sie an einem Abend auf einen Schlag drei Jahre auf einmal.

Trotzdem fluchte sie innerlich, weil Alex ihr nicht aus dem Kopf ging.

Denk nicht an ihn, vor dieser bescheuerten Vollmondnacht, flüsterte Tinker.

»Das sagst du so einfach«, antwortete Belinda und dachte an Uschi, die in zwei Wochen heiraten würde, und an ihre geschiedene Freundin Gaby aus dem »Du-kannst-so-gut-wie-alles-schaffen!«-Kurs, die gerade einer anderen den Lover ausgespannt hatte und wieder frisch verliebt war, wie sie ihr selbst im letzten Kurs noch stolz anvertraut hatte.

»Und wo bleibt mein Traummann?«, fragte Belinda halblaut.

Da kommt er!, flüsterte Tinker, und sie drehte sich um, als die Türglocke ausgelöst wurde und ein Mann die Apotheke betrat. Eins neunzig, Mitte 30, sportlich, schoss es ihr durch den Kopf, Marke Robert Redford aus »Jenseits von Afrika«. Ein Typ wie gemacht für einen Urlaubsflirt.

»Es wird Zeit, wieder zu verreisen«, überlegte Belinda. »Aber wohin?«, fragte sie sich im selben Atemzug, mit Blick auf Robert Redford.

Wie wär’s mit einer Safari?, schlug Tinker vor.


Er hatte seinen Wagen auf einem bewachten Parkplatz an der Victoria- & Alfred-Waterfront abgestellt und folgte dem Weg über die Schwenkbrücke zu den Docks der alten Hafenanlage vor der Kulisse des Tafelbergs. Er beobachtete, wie zwei Kähne von einem Schlepper über den Kanal in das hintere Hafenbecken gezogen wurden, als sein Handy schepperte. Er las den Namen auf dem Display und ahnte, dass etwas schiefgegangen war.

»Wie – sie ist entwischt?«, fragte er so laut, dass die Köpfe einiger Menschen auf der schmalen Brücke herumfuhren, und fühlte Wut in sich aufsteigen. »Verflucht! Wie konnte das geschehen?«, fauchte er.

Der andere erzählte, doch er unterbrach ihn schon nach wenigen Worten.

»Nach Deutschland?« Er überlegte. »Ich bin in ein paar Tagen auch dort. Find du heraus, welchen Flug sie nimmt! Wir kümmern uns dann dort um sie.«

Wieder lauschte er den Informationen, die der andere für ihn hatte.

»Eine Freundin, die für sie einspringen soll? Dieses Biest!«, zischte er. »Diese Frau ist mit allen Wassern gewaschen! Aber gut … aus Deutschland, sagst du …?«

Ein hämisches Lächeln umspielte seine Lippen.

»Das ist vielleicht gar nicht so schlecht …«, murmelte er. »Nein, das ist sogar gut! Solange eine Deutsche kocht, spielt uns das wunderbar in die Karten. Die wird sich freuen, wenn wir ihr ein paar Kräuter aus der Heimat liefern. Einer meiner Mitarbeiter organisiert das.«

Er hörte mit einem Ohr vier Musikern zu, die mit Saxophon, Akkordeon, Kontrabass und Cajon vor dem hellblauen zweigiebeligen Port Captain’s Building Killing me softly spielten, ein fünfter Mann ließ dazu eine Puppe an Fäden tanzen.

»Sie wird unsere Marionette! Nehmt sie unter eure Fittiche, sobald sie da ist, schüchtert sie ein, lasst ihr Handy verschwinden und sorgt dafür, dass sie keinen Kontakt nach außen bekommt.«

Er machte eine Pause, und in seinem Kopf tanzte der Text des Songs. Strumming my pain with his fingers …

»Und sagt ihr, wenn sie nicht in der Spur läuft, tut sie ihrer Freundin keinen Gefallen.«

Ein schönes Bild, dachte er … den Schmerz mit den Fingern klimpern

Und er drückte seine Fingergelenke durch, bis sie laut knackten.

BELINDA

Der »Urlaubsflirt« wartete geduldig in der Apotheke hinter dem Rottenburger Dom.

»Guten Tag«, stammelte Belinda.

Du musst lächeln!, flüsterte Tinker. Die Männer stehen auf dein weißes Lächeln.

»Guten Tag«, antwortete der Robert-Redford-Typ. Und lächelte. Sympathisch, sonore Stimme, charmant.

»Wie kann ich helfen?«

Nicht so förmlich! Sie schluckte trocken und ließ sich das Rezept geben. Asthmaspray, kortisonhaltig.

»Einen Moment«, sagte sie und tippte etwas ein. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Haben wir leider momentan nicht da. Ich bestelle es gerne.«

Er würde wiederkommen müssen.

»Gut«, sagte er. »Es eilt nicht.« Frag ihn was! »Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«

»Ihr Parfum …«, sagte er. Hatte sie sich verhört? Nein, hast du nicht!

»Es ist mir gleich aufgefallen, als ich hereinkam. Nicht der übliche … Apothekenduft. Was ist es?«

Sie starrte ihn an.

Los, sag’s ihm! Doch ihr Mund gehorchte ihr nicht. Ihre Zunge war wie gelähmt.

Los, sag irgendwas! Sie fand zu ihrer charmant schlagfertigen Art zurück und erwiderte etwas keck: »Nicht kortisonhaltig – gibt es daher leider nur im Drogeriemarkt die Straße runter.«

Im selben Augenblick spürte sie die Bewegung in ihrem Rücken. Die schneidende Stimme des Chefs zerschnitt den Traum. Er war mal ein ganz netter Kerl gewesen, ein Kumpeltyp. Jetzt war er nicht mal mehr ein Typ. Unzufrieden mit sich und der Welt, seit der Scheidung, die ihn fast die Apotheke gekostet hatte.

»Die Schmitt-Müllerschön ist am Telefon! Sie weiß nicht, wie sie die Tabletten nehmen soll.«

Als der Chef sah, dass Kundschaft in der Offizin war, änderte er schlagartig den Tonfall. »Sie haben sie doch bedient, Belinda, können Sie bitte mal?« Seine Stimme heuchelte Freundlichkeit, und der Urlaubsflirt mutierte zum Kunden mit Asthma.

Nein!, zischte Tinker.

»Ja«, sagte sie und nickte.

»Ich mach hier weiter!«, fügte der Chef noch hinzu und nahm das Rezept. »Das müssen wir bestellen!«, stellte er fest.

»Das sagte Ihre Mitarbeiterin schon«, antwortete Robert Redford.

»Wann wollen Sie es abholen, ist heute Nachmittag ab 14 Uhr okay?«, fragte der Chef kundenfreundlich, und zu ihr sagte er im Befehlston: »Frau Schmitt-Müllerschön war leicht ungehalten. Würden Sie? Bitte!«

»Ist Belinda heute Nachmittag ab 14 Uhr auch da?«

Sie spürte, wie ihr Herz hüpfte.

»Nein. Sie hat später Nachtdienst und daher nachher frei.«

»Warum fragt er nicht, ob wir in der Zeit zusammen einen Kaffee trinken könnten?«, dachte Belinda.

»Darf es sonst noch etwas sein?«, hörte sie den Chef noch, während sie nach hinten verschwand.

»Nichts, womit Sie mir helfen könnten«, sagte der Urlaubsflirt. »Es sei denn, Sie suchen das Parfum aus, mit dem Ihre Mitarbeiterinnen Ihrer Apotheke ein so wunderbares Duftaroma verschaffen.«

Belinda griff zum Telefonhörer und hörte nur noch die Schmitt-Müllerschön geifern. Nach gefühlt ewigen zehn Minuten kam sie wieder in die Offizin zurück. »Er ist sicher weg«, dachte sie. »Oh mein Gott, und das Asthmaspray ist gar nicht für ihn, und nachher kommt womöglich sein Opa und holt es ab!«

Er ist noch da!

»Sie wollten mir noch Ihr Parfum verraten«, sagte die sonore Stimme jetzt, und Robert Redford erhob sich hinter einem der Regale.

 

Das Öffnen der Eingangstür löste erneut die Glocke aus, und Belinda verdrehte die Augen. Der Herr gesetzten Alters, der den Raum betrat, würde sie in den nächsten 20 Minuten beschäftigen. Er war schwerhörig und hatte sein Hörgerät nie dabei.

»Kundschaft!«, rief der Chef aus dem Laboratorium.

»Bin schon da!«, antwortete sie mit einem etwas sarkastischen Ton in der Stimme.

»Ich muss dann. Leider.« Der Urlaubsflirt ging freundlich nickend an dem gebrechlichen Kunden vorbei.

»TULOVE«, sagte Belinda.

Er hob die Augenbrauen.

»Das Parfum«, erklärte sie, »heißt TULOVE«.

»Passender Name«, antwortete er. »Schade, dass Sie nicht da sind, heute Nachmittag ab 14 Uhr.«

»Wir könnten einen Kaffee … heute Nachmittag ab 14 Uhr«, wollte sie noch sagen, doch Robert Redford hatte die Apotheke schon verlassen.

»Mist!«, zischte sie, leider zu laut.

»Wie bitte?«, fragte der Kunde.

Der ist nicht schwerhörig, fiel ihr auf. Belinda sah auf die Uhr. In einer halben Stunde hatte sie Pause bis zur Bereitschaft. Sie huschte zur Tür hinaus und blickte IHM nach.

»Hallo?«, rief der gut hörende Schwerhörige. »Wird man hier nicht mehr bedient?«

Belinda sah, wie ER in Richtung des Drogeriemarkts verschwand. Sie lächelte.

Er holt das Parfum für dich!

»Belinda! Was soll das?« Der Chef stand in der Offizin und hatte Mühe, seine Wut zu verbergen. Sein Ton war laut, denn er wusste, dass der Kunde schwerhörig war. »Sie können ab Morgen die Laborarbeit machen, und Jenny geht in den Verkauf! Haben wir uns verstanden?«

Belinda holte Luft und schnaubte laut. Die Bilder vom letzten Emotionsdebakel ihres Chefs tauchten auf, es war an jenem Tag, an dem sie gleich noch ihren Ex entsorgt hatte. Gleichzeitig hörte sie die Worte ihrer Oma: »Bleib nicht beim Erstbesten.« Wahrscheinlich hat sie damit auch ihren Chef gemeint. Und was hatte Oma damals noch gesagt? »Du kannst noch ein großes Ding drehen!«

Sie riss die Druckknöpfe des Kasacks auf, zog die weiße Verkaufsjacke aus, knäuelte sie zusammen und warf sie dem Chef an die Brust.

»Sie können mich mal!« zischte sie.

Bravo!, flüsterte Tinker.

»Bravo!«, rief der Schwerhörige. »Endlich sagt’s dem Arsch mal einer!«

Als sie eine halbe Stunde später den »Urlaubsflirt« im Eiscafé auf dem Marktplatz sitzen sah, erstarrte sie. Er hielt einen Flakon TULOVE in der Hand und besprühte damit den schlanken Hals und das Dekolleté einer wasserstoffblonden, unterernährten Barbieinkarnation.


Belinda parkte ihr schwarzes A3 Cabriolet vor Alex’ neuer Wohnung und verschwendete keinen Gedanken darauf, weshalb ein racinggelber Porsche Turbo in seinem Carport stand. Zu sehr konzentrierte sie sich auf die Worte, mit denen sie ihn dazu überreden wollte, noch einmal in Ruhe über alles zu sprechen, zumindest den Streit zu begraben oder ihnen sogar eine Chance zu geben.

Als sie die Stimmen aus dem Garten hörte, blieb sie abrupt stehen und lauschte. Mit wem säuselte Alex denn da so innig? Als sie die Stimme der Frau erkannte, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Gaby! Ihre Freundin aus dem »Du-kannst-so-gut-wie-alles-schaffen«-Kurs!

Ihr kurzer Aufschrei genügte, um ihren Ex aufblicken zu lassen.

Kratz ihr die Augen aus!, befahl Tinker, doch Belinda hatte sich und ihre Wut im Griff. Lässig ließ sie den Wagenschlüssel ihres A3 aufklappen und genoss das schabende Kratzgeräusch, als sie im Vorbeilaufen den racinggelben Porsche Turbo mit einem Längsstreifen verzierte.

»Belinda!«, schrie Alex, der sie erkannt hatte, aufgesprungen war und ihr jetzt nacheilte. »Sag mal, hast du sie noch alle?«

Belinda drehte sich nicht um, stieg in ihr Cabriolet, startete den Wagen und reckte im Vorbeifahren ihren linken Arm mit ausgestrecktem Mittelfinger nach oben. Alex brüllte ihr irgendetwas nach, das nicht sehr freundlich klang, doch sie hatte kein schlechtes Gewissen.

An der ersten roten Ampel griff sie wie in Trance zu ihrem Handy auf dem Beifahrersitz und tippte nur ein einziges Wort mit Ausrufezeichen: »Arschloch!«

Senden! Zwei blaue Häkchen erschienen auf ihrem Display.

Tinker schwieg. Und Belinda wusste, da waren sie wieder, die berühmten 800 Probleme …


»Achthundert. Was ist das schon?«, dachte Belinda, »Eine 8 mit zwei Nullen.«

Sie war ziellos Richtung Tübingen gefahren und schmunzelte jetzt. Im Schönreden von Problemen war sie schon immer eine Meisterin gewesen. Genau darum hatte sie auch so lange an der Beziehung mit Alex festgehalten.

»Dein Optimismus wird dir eines Tages noch das Leben retten«, hatte ihre Oma schon vor Jahren zu ihr gesagt, als sie kurz davor war, ihr Abi zu vergeigen. Eine Sechs in Mathe! Ihr Vater wäre damals ausgeflippt, wenn sie damit rausgerückt wäre. Nur dank ihrer guten Noten in den Fremdsprachen hatte sie es doch noch zu einem ordentlichen Schnitt gebracht. Oma hatte das ihr anvertraute Geheimnis mit dem Absturz in Mathe gehütet wie einen Schatz.

Die Acht steht für die Zukunft, sagte Tinker, also mach das Beste draus!

»Aber wie?«, wollte sie schon zurückfragen, als sie das in Meeresfarben leuchtende Plakat am Straßenrand wahrnahm. Gourmet Voyage. DIE Messe in Stuttgart! Die Themenbereiche der beiden beliebtesten Freizeitbeschäftigungen Essen und Reisen machten sie zu mehr als einem Publikumsmagneten. Wie oft wollte sie schon dorthin? Sie hatte es noch nie geschafft.

Sie sah auf die Uhr. Der halbe Tag lag noch vor ihr. Wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt, setzte sie den Blinker und bog auf die B 27 nach Stuttgart ab.

»Gourmet Voyage!«, murmelte Belinda.

Bilder tauchten vor ihr auf. Bilder von gutem Essen, fernen Welten, neuen Horizonten. Sie fühlte sich unbeschwert und leicht wie schon seit Langem nicht mehr. Selbst die Tatsache, dass sie ihren Ex gerade noch mit einem Schimpfwort per WhatsApp attackiert und einem sündhaft teuren gelben Porsche ein neues Design verpasst hatte, ließ sie völlig kalt. Irgendwie hatte sie das Gefühl, das Richtige zu tun. 800 Probleme, was solls! In diesem Moment spürte sie kein einziges davon, und genau genommen waren es theoretisch sogar nur noch 799, denn Alex war sie endgültig los.

798, widersprach Tinker, deinen Chef und die Apotheke kannst du auch abhaken, wenn du jetzt nicht umkehrst!

Sie grinste und gab Gas. Zwanzig Minuten später hatte sie den A3 auf dem Flughafenparkplatz gegenüber dem Messegelände abgestellt und ging noch auf einen Sprung ins Terminal 1. Flughäfen übten eine seltsame Anziehungskraft auf sie aus, und sie genoss die Atmosphäre zwischen den wartenden und abreisenden Passagieren, die Durchsagen und die Anzeigen der Flüge nach London, Teneriffa oder Istanbul. Ihr selbst genügte ein Cappuccino in einem der Airport-Cafés, um ihr Fernweh zu bekämpfen.

Der nächste Flug nach Paris wurde aufgerufen. Belinda lauschte der professionellen Stimme aus dem Flughafenlautsprecher, die alle Passagiere des Air-France-Flugs AF1809 zu ihrem Gate in Terminal 3 bat. Auf der Anzeigentafel blinkte der nächste Flug nach Palma. Boarding. Jetzt.

»Opa würde staunen, wenn du ihn auf Mallorca besuchst.« So abwegig kam ihr die Idee auf einmal gar nicht mehr vor. Ihr letzter Urlaub mit Alex war ewig her und ein einziger Albtraum gewesen, geprägt von einem endlosen Streit, der vom Abheben der Maschine in Stuttgart begonnen und bis zur Landung nach dem Rückflug angedauert hatte.

»Es wäre Zeit, mal wieder zu verreisen«, überlegte Belinda, »und ganz wichtig: Allein. Weit weg!«

Ihre Gedanken wurden von den Wegweisern zur Messe abgelenkt. Sie ging hinüber zur Rolltreppe, die zur Ausgangsebene führte. Ein seltsames Geräusch ließ sie nach unten blicken, ein Knattern, wie von Papier im Wind. Sie sah ein seltsam geformtes Stück bunten, glänzenden Kartons, der sich mit einer Art dünnem Band am Ausgang des Handlaufs verfangen hatte. Die leuchtende Meeresfarbe des Bands stach ihr ins Auge, die Farbe der Gourmet Voyage!

Belinda griff nach dem flatternden Kartonstreifen und befreite das meerblaue Band aus dem Ende der Rolltreppe.

Eine Eintrittskarte für die Messe? Ein Ausweis für Mitarbeiter oder Aussteller?

Sie betrachtete die Karte genau. Die ist neu, stellte sie erstaunt fest, und für heute ausgestellt. Irgendjemand hatte mit einem schwarzen Permanentmarker einen Namen darauf gekritzelt.

»Bella« las sie, oder »Belle«, das war nicht so genau zu entziffern. Darunter noch ein paar Buchstaben und Zahlen, die eine Art Code zu ergeben schienen.

Sie überprüfte noch einmal das Datum und hängte sich das Band um.

»Einmal Eintritt gespart«, lachte sie und ließ sich mit dem Menschenstrom zum Messeeingang treiben.


Belinda steuerte gezielt auf die Eintrittsautomaten zu, um ihr Fundstück zu scannen. Wenn es schiefging, konnte sie immer noch zur Kasse gehen. Tatsächlich, das Drehkreuz bewegte sich nicht.

»Darf ich mal?«, fragte eine Mitarbeiterin der Messe in dezentem grauem Kostüm und griff nach der Karte.

»Erwischt!«, dachte Belinda. Sicher war die Karte ungültig oder gefälscht. Quatsch!, sagte Tinker, bleib ganz cool!

»Sie müssen bitte da hinüber, zum VIP-Eingang«, wies sie die Messedame freundlich an, »aber Sie sollten sich beeilen, die Show hat – glaube ich – schon angefangen.«

»Show?«, wollte sie schon fragen, doch Tinkers Pst! hielt sie davon ab. Sie ging zu dem Einlassbereich, über dem groß und leuchtend die Buchstaben V-I-P prangten, und hielt die Karte dem freundlich lächelnden Mitarbeiter in seinem sehr modischen und perfekt sitzenden dunkelblauen Anzug hin.

»Danke sehr«, sagte er mit ruhiger und klangvoller Stimme, »haben Sie Ihre Einladung auch dabei?«

Belinda schluckte trocken und schüttelte verlegen den Kopf. »Ich wusste nicht …«, stammelte sie.

»Kein Problem, das ist alles im Code Ihrer Karte hinterlegt, Augenblick!«

Er scannte die Karte an einem der Lesegeräte.

»Vielen Dank, Belle, wenn ich Sie so nennen darf. Ich glaube, man wartet schon auf Sie. Die Show hat gerade begonnen. Kommen Sie, ich bringe Sie hin!«

Er fasste sie am Handgelenk und zog sie fort.

Belinda wusste nicht, wie ihr geschah, doch irgendwie ahnte sie, dass hier etwas gründlich schieflief. Offensichtlich schlitterte sie mit dieser Eintrittskarte – oder was immer es war – in eine Verwechslung. Es sei denn, sie rückte mit der Wahrheit ans Licht. Jetzt und hier!

»Entschuldigen Sie, aber …«, begann sie, doch ihr gut aussehender Wegbahner drängte sich mit ihr im Schlepptau zwischen den Menschenmassen hindurch. Belinda hatte Mühe, ihm zu folgen. Verzweifelt versuchte sie, den Namen Belle einzuordnen. Wo und wann war er ihr schon einmal begegnet? Hieß nicht eine Schauspielerin so? Oder eine von diesen Schlagersternchen?

Oh Gott, wenn er sie jetzt auf eine Bühne schleifte und sie singen musste? Karaoke? Katastrophe! Chance!, flüsterte Tinker. »Schnauze!«, zischte Belinda.

»Wie bitte?«, fragte ihr Guide irritiert und deutete im Vorbeilaufen auf einen der großen Monitore, auf denen irgendeine Kochshow in der Messe übertragen wurde. Belinda erkannte im Vorbeihechten das Logo der Gourmet Voyage über einer Küchenszenerie und eine Handvoll Leute mit Kochschürzen und einheitlichen, in der Meerfarbe der Messe gehaltenen Käppis.

Sie bogen jetzt nach links in einen Seitengang ab. Bei einer Tür, über der in roter Leuchtschrift »Bitte Ruhe« blinkte, blieb er kurz stehen und sah sich um. Schließlich öffnete er die Tür einen Spalt, linste hindurch, nickte und zog Belinda mit sich hinein.

Sie erkannte eine Szenerie aus schwarzen Moltonvorhängen, Mischpulten, Monitoren und Scheinwerfern, die nach vorne strahlten. Menschen in dunklen Poloshirts und mit Klemmbrettern in der Hand huschten geschäftig hin und her, und ihr Begleiter hielt eine Mitarbeiterin am Arm fest, um ihr etwas zuzuflüstern. Die junge Frau nickte und griff zum Funkgerät. Belinda vernahm nur ein vages »Belle ist da!«, registrierte, wie ihr schöner Guide sie losließ und sich jemand bei ihr unterhakte.

 

»Schön, dass Sie da sind«, hörte sie ein Flüstern an ihrem Ohr, »wir müssen nur noch rasch in die Maske!«

»Aber …«, versuchte sie zu widersprechen, doch ihre Stimme ging im Beifall unter, der von jenseits der Kulisse aufbrandete. Der Albtraum einer peinlichen Karaoke-Show blitzte in ihr auf, und sie spürte, wie ihre Knie weich wurden.

»Hier entlang«, sagte die Stimme neben ihr und schob einen Vorhang beiseite.

In einem winzigen Raum leuchteten ihr die Glühbirnen einer Schminkkommode entgegen, eine Hundertschaft an Pinseln ragte wie Orgelpfeifen nebeneinander in die Höhe und bildete einen Rahmen um Puderdosen in allen Hauttönen. Belinda wurde von zwei zärtlichen Händen sanft an der Schulter gefasst und vorsichtig auf einen bequemen Stuhl gedrückt.

»Sie scheinen ja ganz schön nervös zu sein, meine Liebe«, sagte eine beruhigend wirkende, offensichtlich männliche Stimme mit dem Charme eines Guido Maria Kretschmer, und sie fühlte den sanften Hauch eines warmen Atems an ihrem Ohr.

Jetzt spürte sie die superweichen Naturfasern eines Orgelpfeifen-Pinsels wohltuend auf ihren Wangen und am Kinn, schloss widerspruchslos die Augen und ließ sich treiben. Hier und da huschte eine sanfte Handbewegung über ihr Gesicht, begleitet von einem wie aus einer anderen Welt kommenden »Wunderschön!« oder »Traumhaft«. Das klang wie die Stimme dieses beliebten Fernsehmoderators, dem man glaubte, wenn er in seiner Show zu sagen pflegte: »Du siehst aus wie eine Göttin!«

Viel zu schnell hörte Belinda den Guido Maria Kretschmer-Traum »So, schon fertig, meine Schöne!« sagen und öffnete vorsichtig die Augen.

Sie betrachtete im Spiegel das Gesicht einer jungen, hübschen Frau, auf deren Kopf adrett ein in der Meerfarbe der Messe gehaltenes Käppi saß. Dunkle Haare blitzten frech unter der Mütze hervor, die Augenbrauen waren exakt nachgezogen worden, und ihre Wangen erschienen durch das aufgelegte Makeup schmaler und kantiger. Auf ihren Lippen schimmerte ein hautfarbener Lipgloss, und ihre Augen erschienen ihr selbst ausdrucksvoller und größer als sonst. Belinda war mit dem Endergebnis zufrieden.

Sie stand zögernd und unbeholfen auf, als hätte sie soeben eine stundenlange Wellnessbehandlung genossen oder wäre aus einem tiefen, wohltuenden Schlaf mit wunderschönen Traumsequenzen erwacht. Wie ein Blitzschlag traf sie die Realität, als sich der zärtliche, schwule Maskenbildner mit Kretschmer-Stimme als schwergewichtige, dralle Matrone Mitte siebzig mit der Figur einer ägyptischen Seekuh entpuppte, die sie mit tatschenden Fingern sanft durch den Vorhang aus dem Make-up-Raum schob und ihr ein leises »Wir sehen uns hoffentlich wieder« ins Ohr raunte.

Schon griff die nächste Hand nach ihr, diesmal sah sie sich die Person genauer an und erkannte das Mädchen mit dem Klemmbrett und dem Funkgerät.

»Ich bin Kim«, sagte sie, »Wir gehen jetzt direkt zur Bühne.«

»Die Schürze!«, rief eine Stimme aus dem Dunkeln.

Belinda, die immer noch wie in Trance alles tat, was man ihr sagte, steckte ihren Kopf durch das Halsband der Schürze und ließ sich den Bändel um ihre Taille schnüren. Dann hörte sie Kim durch das Funkgerät sagen: »Letzte Kandidatin ist bereit. Auftritt Belle!«

Kim schob einen der schwarzen Moltonvorhänge auf, und Belinda wurde von dem grellen Licht geblendet. Sie sah etwas, das wie die Küchenausstellung eines skandinavischen Einrichtungshauses aussah, bemerkte blitzende Pfannen, Töpfe und leuchtenden Edelstahl, hörte die Stimme des Moderators, der etwas wie »Belle!« sagte, und wurde hinausgeschoben. Mit einem Schlag war sie hellwach. Sie stand tatsächlich vor dem bekannten Moderator Marcel Larouge!

»Das also ist unsere siebte und letzte Kandidatin hier beim großen Kochwettbewerb ›Schwäbische Küche für die Welt – raffiniert serviert‹ aus der Halle 3 der internationalen Messe Gourmet Voyage. Ihr Beifall für ein weiteres Nachwuchstalent im Himmel der Jungköche, Belle!«

Jetzt hatte auch sie es kapiert. Von wegen Schlager-Karaoke-Show! Ein Kochwettbewerb!

Na also!, flüsterte Tinker, kochen, das kannst du!

»Aber doch nicht in einem Kochwettbewerb«, widersprach Belinda, »und dann auch noch in einer falschen Rolle!«

Doch! Wo ist sie denn, die wirkliche »Belle«? Die hatte wohl einfach keine Lust?

Marcel Larouge ließ ihrem guten Gewissen keine Zeit für weitere Überzeugungsarbeit. »Sonst kocht Belle in einem Hotel im Schwarzwald, und heute versucht sie, die Teilnahme beim internationalen kulinarischen Event Gala Chakalaka in Kapstadt für sich zu entscheiden. Sieben Kandidaten aus renommierten Restaurants verfolgen das gleiche Ziel, eine spannende Aufgabe für unsere Jury!«, verkündete der Moderator und nannte die Namen der Juroren, von denen Belinda nur den des Juryvorsitzenden kannte: Franz Berlin, seines Zeichens Sternekoch des Gourmetrestaurants Berlins KroneLamm in Bad Teinach-Zavelstein.

Seine Mitjuroren waren ein Fernsehkoch, ein Kochbuchautor aus Ratzenried in Oberschwaben, ein Gastrokritiker aus Upflamör und der ehemalige Chefredakteur der Zeitschrift Genuss Global.

Die Herren der hochkarätigen Jury schüttelten jetzt den sieben Kandidaten und Kandidatinnen die Hand, wobei Belinda es vermied, ihnen direkt in die Augen zu sehen. Wie peinlich, wenn einer von ihnen die wahre Belle kannte und sie hier vor dem anwesenden Messepublikum und laufenden Kameras entlarvte!

Ihr Herz drohte stehen zu bleiben, als ausgerechnet der sympathische Sternekoch aus Bad Teinach-Zavelstein und Juryvorsitzende auf die Teilnehmerliste schielte und leise, fast unhörbar sagte: »Hallo, Belle, ich muss gestehen, ich hätte Sie nicht mehr erkannt, wenn da nicht Ihr Name auf der Liste stehen würde. Aber schön, Sie zu treffen. Sabrina habe ich auch schon eine Weile nicht mehr gesehen, und Sylt ist ewig her.«

Sie schluckte trocken und unterdrückte einen Hustenanfall.

»Ja«, brachte sie gerade noch heraus, »ich freu mich auch.«

»Unsere Jury wird sich jetzt zurückziehen«, fuhr Larouge fort »und erst wieder in Erscheinung treten, wenn unsere sieben Kandidaten fertig gekocht haben. Die Juroren werden nicht erfahren, welches Gericht von welchem Kandidaten stammt. ›Blind Tasting‹ nennen wir das.«

»Na prima«, dachte Belinda.

»Und jetzt wollen wir auch von unserer letzten Kandidatin noch erfahren, was sie kochen wird«, sagte Larouge, »und wen Sie als Joker dabeihaben.«

»Als Joker?«, fragte Belinda unsicher.

»Ja. Sie wissen doch, jeder Kandidat hat die Möglichkeit, sich von einer Person beim Kochen unterstützen und beraten zu lassen.«

Belinda überlegte.

»Geht auch ein Telefonjoker?«, hakte sie nach. Larouge nickte.

Nimm Oma!

»Dann nehme ich meine Großmutter!«

»Die werte Grand-mère«, kommentierte Larouge, »très bien. Welche Kreation der regionalen Köstlichkeiten kochen Sie für uns? Sie wissen, die Herausforderung ist groß: ›Schwäbische Küche für die Welt – raffiniert serviert‹, oder wie der Franzose sagt: ›La cuisine souabe pour le monde – servie de manière raffinée.‹ Wie Sie wissen, bedient sich die Haute Cuisine oft und gerne der französischen Sprache.«

Marcel Larouge, der weltläufige Moderator mit Wurzeln im Elsass, lächelte süffisant. »Und nun, welche Variante dürfen wir von Ihnen erwarten?«, fragte er neugierig.

»Sacs de bouche grand-mère«, antwortete Belinda schlagfertig.

»Sacs de bouche?«, hakte Larouge nach.

»Ja«, antwortete Belinda, »denn die Haute Cuisine bedient sich oft und gerne in ihren Ursprüngen auch der traditionellen Hausmannskost.«

Marcel Larouges eingefrorenes Grinsen verriet, dass er es durchaus nicht verstanden hatte.

»Sacs de bouche … grand-mère«, sie machte eine Pause und sagte schließlich mit einem entwaffnenden Lächeln: »Maultaschen. Nach Großmutters Art.«


Marcel Larouge hatte die Spielregeln bekannt gegeben. Es standen den Köchen zwei Stunden Zeit zur Zubereitung ihrer Gerichte zur Verfügung, die sie im Anschluss der Jury vor dem anwesenden Messepublikum präsentieren sollten.

Sie hatte gleich nach Bekanntgabe der Gerichte ihre Oma angerufen, die glücklicherweise zu Hause war und ihr euphorisch ihre Unterstützung zusagte.

»Pass auf, Oma. Ich bin in diesen Kochwettbewerb hineingeschlittert und habe keine Ahnung, was hier passiert. Du kennst mich ja gut genug und weißt, wenn ich was mache, dann mit Schwung und Anlauf, damit es eine Punktlandung wird! Und wenn ich jetzt schon mal die Chance hab, dann will ich das Ding auch rocken, verstehst du?«

»Ja, aber was soll ich dabei, Kind?«, fragte ihre Oma hörbar ratlos.

»Das ist in einem Satz erklärt. Ich werde Maultaschen machen. Und zwar deine! Und du unterstützt mich am Telefon. Du kennst das doch von Günther Jauch! Telefonjoker, verstehst du?«