Vier Todesfälle und ein Tankstellenraub & Der tote Kapitän im Wald

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6.

Fürstenfeldbruck, Büro des Leiters der Spurensicherung

11. April 2013, 13:07 Uhr

Zurück in der Kriminalpolizeiinspektion suchte Schäringer, den Fahrrad-Mantel unter dem linken Arm und die DVD-Hülle in der Hand, die Abteilung zur Spurensicherung und -auswertung auf. Er klopfte an die Tür eines Büros, trat aber schon ein, noch ehe er dazu aufgefordert werden konnte.

»Grüß dich, Christian. Störe ich gerade?«

Der Mann, der hinter dem überfüllten Schreibtisch saß und die Augen von seinem Computermonitor löste, sah seinen Besucher mit einem so finsteren Gesichtsausdruck an, dass die dünnen, schwarzen Brauen über seinen funkelnden Augen, die durch die Gläser seiner randlosen Brille noch vergrößert wurden, ein großes V wie in Vorsicht bildeten. Er hatte einen runden Kopf und spärliches, dunkles Haar, das er allerdings so frisiert hatte, dass die von Jahr zu Jahr größer werdende kahle Stelle auf seiner Schädeldecke notdürftig verdeckt wurde.

»Grundsätzlich jeder, der zu den regulären Bürostunden durch diese Tür tritt, stört«, antwortete Christian Krautmann, Leiter der Abteilung Spurensicherung und -auswertung, mit knurrender Stimme, als wäre sein Gesichtsausdruck nicht schon Antwort genug. Doch schon im nächsten Moment wurde seine Miene freundlicher. »Aber weil du’s bist, Franz, will ich mal nicht so sein. Komm her und setz dich.«

Schäringer folgte der Aufforderung unverzüglich und nahm auf dem einzigen freien Stuhl vor dem Schreibtisch Platz. Da auf der Tischplatte vor ihm kein Platz war, deponierte er den Fahrrad-Mantel und die DVD auf seinem Schoß. »Sieht nach Arbeit aus«, sagte er und vollführte mit der rechten Hand eine Geste, die nicht nur den Schreibtisch, sondern auch die vollen Regale an den Wänden mit einbezog, in deren Fächern sich neben Fachbüchern unzählige Tüten, Schachteln und Kartons voller Beweismittel stapelten, an deren Auswertung Krautmann gerade arbeitete.

Schäringer und Krautmann hatten fast zur selben Zeit bei der Kripo Fürstenfeldbruck angefangen und seitdem bei zig Fällen zusammengearbeitet. Darüber hinaus hatten sie sich auch schon oft nach Feierabend getroffen und gemeinsam die eine oder andere Flasche Wein geleert, denn beide verband neben der Arbeit die Vorliebe für einen guten Tropfen Rebensaft.

»Viel Arbeit und zwei kranke Mitarbeiter. Allein für die Auswertung aller Spuren der Todesfälle von Oberhofberg von letzter Nacht könnte ich fünf zusätzliche Leute gebrauchen. Du bist vermutlich nicht hier, um dich nützlich zu machen, sondern wegen der beiden Morde, hab ich recht?«

Schäringer nickte. »Unter anderem.«

Krautmann sah ihn erneut mit einem Stirnrunzeln an, das seine Augenbrauen zu zwei Ausrufezeichen werden ließ, sagte jedoch nicht. Er wusste aus Erfahrung, dass Schäringer ihn früher oder später aufklären würde, was seine kryptische Bemerkung zu bedeuten hatte. »Dann schieß los! Was willst du wissen?«

»Wie sieht die Spurenlage im Fall des erschossenen Kassierers in der Tankstelle aus?«

»Gar nicht gut. Wir fanden in der Tankstelle und an den Zapfsäulen zwar unzählige Fingerabdrücke – gewissermaßen ein Paradies für jeden Fingerabdruckexperten –, aber das war an einem solchen Ort, der jeden Tag von unzähligen Kunden aufgesucht wird, auch nicht anders zu erwarten. Die allermeisten dürften ohnehin von den Angestellten, Lieferanten und Kunden der letzten Tage stammen. Wir haben uns daher auf die Verkaufstheke, die Zeitschrift, die darauf lag, die Eingangstür und die Zapfsäule Nummer 2 konzentriert.«

»Wieso ausgerechnet auf diese Zapfsäule?«

»Weil jemand letzte Nacht an dieser Zapfsäule Super-Plus-Benzin für 43,27 Euro getankt hat, unmittelbar bevor der Kassierer ausgeraubt und erschossen wurde. Die Zapfsäule wurde nämlich nicht freigeschaltet. Es könnte also der Mörder gewesen sein.«

»Und? Fingerabdrücke an der Zapfpistole?«

»Nur ein paar Teilabdrücke, der Rest ist verwischt. Ich gehe daher davon aus, dass derjenige, der zuletzt getankt hat, Handschuhe trug.«

»Um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.«

»Oder auch nur, um keine kalten Finger zu kriegen. Gestern Nacht war es nämlich ziemlich kalt.«

»Stimmt. Sonst noch was?«

Krautmann schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Franz. Aber beim Tankstellenmord können wir dir nicht weiterhelfen, weil es einfach keine verwertbaren Spuren gab. An der Zeitschrift auf der Verkaufstheke, der neuesten Ausgabe einer Fahrradzeitschrift namens Trekking Bike, die vielleicht sogar der Mörder dort hinlegte, fanden wir nur die Abdrücke eines Tankstellenmitarbeiters, der die neuen Zeitschriften gestern Vormittag einsortierte. Die übrigen Abdrücke an der Eingangstür und am Tresen werden momentan noch ausgewertet, bislang gab es allerdings keine Treffer.«

»Fandet ihr Abdrücke der anderen Todesopfer von letzter Nacht innerhalb oder in der Umgebung der Tankstelle.«

»Gibt es denn einen Zusammenhang zwischen diesen Fällen?«

Schäringer zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Ich darf diese Möglichkeit zumindest nicht außer Acht lassen. Schließlich lässt schon die zeitliche und räumliche Nähe all dieser Fälle einen Zusammenhang vermuten.«

»Verstehe«, sagte Krautmann, schüttelte aber gleichzeitig den Kopf. »Aber auch hier Fehlanzeige. Wir haben das gleich routinemäßig überprüft, um einen möglichen Zusammenhang frühzeitig ausschließen zu können. Allerdings trugen der erstochene Junkie, der ertrunkene Autodieb und sogar die Selbstmörderin Handschuhe. Es war wirklich kalt letzte Nacht.«

Schäringer nickte, sah dabei aber nicht sehr zufrieden aus. »Gut, wie sieht es im Fall des erstochenen Motorradfahrers im Park aus. Gibt es da wenigstens verwertbare Spuren?«

Krautmann brummte etwas Unverständliches, eine Reaktion, die Schäringer erfahrungsgemäß wenig Hoffnung machte, ehe er antwortete: »Ähnliche Spurenlage wie in der Tankstelle. Immerhin ist der Park ein öffentlicher Ort, an dem sich täglich Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Leute aufhalten. Fingerabdrücke gab es im Bereich um die Leiche natürlich keine, lediglich ein paar weggeworfene Kippen und anderer Müll, den wir natürlich aufgesammelt haben. Allerdings kamen wir noch nicht dazu, diese Spuren auszuwerten.«

»Abdrücke von Schuhsohlen?«

»Ein paar Teilspuren oder verwischte Abdrücke, die meiner Meinung nach allerdings kaum verwertbar sein dürften.«

»Fingerabdrücke am Messer?«

»Nur die des Opfers. Es handelt sich um ein Kochmesser der Marke Zwilling mit einer 16 Zentimeter langen Klinge. In der Wohnung des Opfers fand einer meiner Mitarbeiter den dazugehörigen Messerblock, bei dem dieses Messer fehlte. Das Opfer hat die Tatwaffe also selbst mitgebracht.«

»Aber wozu?«

»Keine Ahnung. Ich suche nur nach Spuren und werte sie anschließend aus. Das Nachdenken über die Motive, die hinter den Taten stecken, musst schon du übernehmen. Aber vielleicht wollte er sich verteidigen können. Denn wenn es tatsächlich ein Drogendeal war, der schiefgegangen ist, hatte er auch Grund genug, vorsichtig zu sein. Allerdings hat ihm das auch nichts genutzt, denn am Ende bekam er sein eigenes Messer in die Brust. Sonst noch was?«

»Gab es Spuren von Fahrrädern in der Nähe der Leiche?«

Krautmann nickte. »Die gab es tatsächlich. Im Park ist das Fahrradfahren zwar verboten, aber viele schieben ihre Räder durch den Park. Wir haben alle Reifenspuren – auch die von Kinderwagen – erfasst und im Computer gespeichert. Mithilfe einer Datenbank des LKA konnten wir die meisten Reifenspuren, sofern sie deutlich und groß genug waren, auch schon den entsprechenden Herstellern von Fahrrad-Mänteln zuordnen.«

»Das hört sich doch ausnahmsweise schon mal ganz gut an«, sagte Schäringer und nahm den Fahrrad-Mantel vom Schoß, den er mitgebracht hatte. »Könntest du dann mal rasch überprüfen, ob ihr auch Abdrücke dieses Fabrikats gefunden habt?«

»Kein Problem«, sagte Krautmann und nahm den Reifen entgegen. Er las Herstellernamen, Typbezeichnung und Größe ab und gab die Daten dann, nachdem er die entsprechende Datenbank geöffnet hatte, in den Computer ein. Die Suche dauerte nur wenige Sekunden. »Treffer, versenkt!« Er richtete den Blick auf Schäringer und schüttelte den Kopf. »Woher wusstest du das bloß wieder, du alter Fuchs? Und woher hast du den Fahrrad-Mantel?«

»Zeitunglesen bildet, solange es nicht die Bild ist. Es gab gestern nämlich nicht nur vier Tote in Oberhofberg, sondern auch einen Fahrraddiebstahl. Dabei wurde ein Trekking Bike gestohlen. Das da ist ein Ersatzmantel, der dem am Fahrrad entspricht.«

»Also gibt es vielleicht schon einmal einen Zusammenhang zwischen dem Mord im Park und dem Fahrraddiebstahl, wenn sich das gestohlene Fahrrad tatsächlich dort befand, als der Junge getötet wurde. Aber wieso sollte ein Drogendealer in der Nähe ein Fahrrad klauen, um damit zu einem Treffen mit einem Drogensüchtigen zu fahren? Das ergibt für mich irgendwie keinen Sinn.«

»Für mich, ehrlich gesagt, auch nicht. Aber daran, einen Sinn in diese ganze Geschichte zu bringen, arbeitete ich ja noch. Sonst noch was, was du mir über den toten Junkie sagen kannst?«

Krautmann zuckte mit den Schultern. »Da der Tatort ein öffentlicher, viel besuchter Ort ist, fanden wir in der Nähe der Leiche natürlich jede Menge Müll – Zigarettenkippen, weggeworfene Getränkeflaschen und -dosen, zerknüllte Verpackungen, Papiertaschentücher und sogar zwei benutzte Kondome –, der vermutlich nichts mit dem Mord zu tun hat. Interessant könnten allerdings Faserspuren sein, die wir an einer Wurzel des Baums fanden, in dessen unmittelbarer Nähe der Tote lag. Die Fasern hatten sich in der Rinde einer Baumwurzel verfangen, so als wäre jemand darauf gelegen.«

 

»Wurden die Fasern bereits analysiert? Und habt Ihr schon eine Idee, wo sie herstammen?«

»Das haben wir in der Tat«, antwortete Krautmann, und der Stolz über die gute Arbeit seiner Abteilung war ihm deutlich anzusehen. »Es handelt sich um grüne Fasern, die hauptsächlich aus Viskose und Aramid bestehen, sowie einen geringen Anteil Antistatik-Fasern. Das Material, das aus einem derartigen Fasergemisch hergestellt wird, gilt als sehr temperaturbeständig, strapazierfähig, reiß- und abriebfest. Aufgrund der prozentualen Zusammensetzung und der Farbe bin ich mir ziemlich sicher, dass die Fasern von einer Bundeswehr-Fliegerkombination der Heeresflieger stammen.«

»Prima! Ausgezeichnete Arbeit, Christian! Sonst noch was zum Mord im Park?«

»Nein, das war’s eigentlich schon. Und du? Noch Fragen?«

»In der Tat. Mich würde nämlich interessieren, ob es Auffälligkeiten im Fall des ertrunkenen Autodiebs gibt.«

»Also vermutest du auch hier einen Zusammenhang zu den anderen Fällen?«

Schäringer nickte.

»Ich dachte, das war ein Unfall?«

»Kann sein, dass mehr dahintersteckt«, sagte Schäringer. »Dr. Mangold von der Gerichtsmedizin fand bei der Obduktion heraus, dass der Autodieb tatsächlich ertrunken ist, nachdem er beim Aufprall aufs Wasser mit dem Kopf gegen das Lenkrad prallte und das Bewusstsein verlor. Allerdings bekam er unmittelbar zuvor noch eine Ladung Pfefferspray direkt in die Augen, die ihn zeitweise blind werden ließ.«

Krautmann hob überrascht die Brauen, die wie flinke Tausendfüßler fast bis zu seinem Haaransatz hinaufkrochen. »Kein Wunder, dass er die Kontrolle über den Wagen verlor, die Kurve verpasste und durch den Zaun bretterte. Ich hab mich schon gewundert, dass es überhaupt keine Bremsspuren gab.«

»Und was habt ihr sonst noch gefunden?«

»Lass mich kurz überlegen«, sagte der Leiter der Spurensicherung und richtete den Blick für ein paar Sekunden in Richtung Decke, während er konzentriert nachdachte. »Das Fahrerfenster war offen, als der Wagen in den Weiher fuhr. Deshalb füllte sich der Innenraum auch sehr schnell mit Wasser, und das Auto, ein BMW 116i, grau metallic, der kurz zuvor in Friedberg, etwa 50 Kilometer vom Fundort entfernt, gestohlen worden war, ging praktisch sofort unter. Wäre der Fahrer bei Bewusstsein gewesen und hätte er besonnen genug reagiert, hätte er sich leicht befreien können, sobald der Fahrzeuginnenraum voller Wasser war. Er hätte nur aus dem offenen Fenster nach draußen und an die Wasseroberfläche schwimmen müssen. Der Teich ist nicht einmal besonders tief. Das Wagendach befand sich gerade einmal zwanzig Zentimeter unter Wasser. Selbst wenn der Autodieb nicht schwimmen konnte, hätte er aufs Dach klettern und von dort problemlos zum Ufer springen können. Wenn er allerdings das Bewusstsein verlor, hatte er natürlich keine Chance.«

»Was kannst du mir sonst noch erzählen?«

Krautmann seufzte. »Wie schon erwähnt, trug der Mann Handschuhe aus schwarzem Leder. Für einen Autodieb, der keine Fingerabdrücke hinterlassen will, natürlich nicht ungewöhnlich. Außerdem war es gestern Nacht entschieden zu kalt für diese Jahreszeit.«

»Hatte er irgendwelche Hilfsmittel bei sich, mit deren Hilfe er rasch sein Aussehen verändert oder zumindest unkenntlich gemacht haben könnte? Ein Halstuch oder einen falschen Bart?«

Krautmann schüttelte den Kopf. »Ein Bayern-Schal wäre gestern vermutlich niemandem als ungewöhnlich aufgefallen. Aber da war nichts. Glaubst du etwa, der Autodieb hat die Tankstelle überfallen und den Kassierer erschossen?«

»Warum nicht? Ist doch die klassische Vorgehensweise. Erst klaut er den Wagen, fährt damit hierher und überfällt dann die Tankstelle.«

»Aber wo sind dann die Beute und die Tatwaffe? Im Auto jedenfalls nicht. Außerdem haben wir heute in aller Herrgottsfrühe den Weiher von Tauchern absuchen lassen. Aber die haben auch nichts gefunden außer altem Müll, der in den letzten Jahrzehnten ins Wasser geworfen wurde. Und wenn er tatsächlich der Täter war, wer hat ihm dann das Tränengas in die Augen gesprüht? Ein Komplize, der mit im Wagen saß?«

»Gut möglich. Sie sind zu zweit, als sie die Tankstelle überfallen. Der mit der Schusswaffe, der den Kassierer in Schach halten soll, verliert die Nerven und schießt ihm in den Kopf. Im Wagen geraten sie darüber in einen Streit. Der Komplize, der nur mit einer Pfefferspraydose bewaffnet ist, sprüht dem Fahrer damit ins Gesicht. Er schnappt sich die Pistole und die Beute, öffnet die Tür und springt aus dem Auto, während der Fahrer die Kontrolle verliert und durch den Zaun fährt.«

»Aber warum war das Fenster der Fahrertür offen?«

»Vielleicht brauchte der Fahrer frische Luft. War er Raucher?«

Krautmann schüttelte den Kopf. »Sieht nicht danach aus. Er hatte weder Zigaretten noch ein Feuerzeug bei sich. Und falls der Beifahrer tatsächlich während der Fahrt ausgestiegen ist, muss die Beifahrertür wieder ins Schloss gefallen sein, bevor das Auto den Zaun durchbrach. Wäre sie da nämlich noch offen gewesen, hätten wir Aufprallspuren an der Tür finden müssen. Da waren aber keine. Allerdings befinden sich an der Fahrertür unterhalb des offenen Fensters schwarze Spuren, die wir bislang noch nicht analysieren konnten und die nach Aussage des Fahrzeughalters vor dem Diebstahl noch nicht da waren. Aber weil du vorhin das gestohlene Trekking Bike erwähnt hast, kommt mir gerade die Idee, dass es sich dabei um Spuren von den Griffstücken eines Fahrzeuglenkers handeln könnte. Wir werden das natürlich noch genauer untersuchen.« Er nahm einen Notizblock und einen Kugelschreiber, die neben der Computertastatur gelegen hatten, und notierte sich etwas in seiner krakeligen, unlesbaren Handschrift, die außer ihm kein Mensch lesen konnte, ehe er sich wieder an Schäringer wandte, der mit in sich gekehrtem Blick nachdachte. »Ansonsten gab es weder im noch am Wagen etwas Ungewöhnliches. Das einzige Detail, das noch für deine Theorie spricht, dass der Autodieb auch der Tankstellenräuber war, ist der Tank, der fast randvoll war. Laut Fahrzeughalter war der Tank zum Zeitpunkt des Diebstahls aber nur ungefähr halbvoll. Wenn man die Hälfte des Tankvolumens von 50 Litern mit dem momentanen Preis für Super-Plus-Kraftstoff multipliziert, kommt man ungefähr auf den Betrag in Höhe von 43,27 Euro, für den vor dem Tod des Kassierers an Zapfsäule Nummer 2 Benzin getankt wurde.«

Schäringer nickte nachdenklich. Er schrieb sich keine der Daten und Fakten auf, die Krautmann ihm nannte, sondern speicherte alles im Kopf.

»Prima, Christian!«, sagte er anerkennend und zeigte Krautmann den erhobenen Daumen. »Wie immer bist du mir eine riesengroße Hilfe. Und schön langsam nimmt die ganze Angelegenheit da oben hinter der …« Er tippte sich mit dem Zeigefinger der rechten Hand an die Stirn. »… Regio frontalis deutlichere Konturen an.«

»Regio was?«

Schäringer winkte ab. »Nicht so wichtig.«

»Du kannst mir ja demnächst bei einer Flasche Rotwein erzählen, was das bedeutet und wie nun alles zusammenhängt. Sonst noch Fragen? Ich hab nämlich noch jede Menge Arbeit zu erledigen und wollte vorher eigentlich noch in die Kantine.«

»Eine Sache noch«, sagte Schäringer und zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Wir haben noch gar nicht über den vermeintlichen Selbstmord vor dem Tunnel gesprochen. Was kannst du mir denn dazu sagen?«

»Da muss ich im Computer nachsehen, weil der Kollege Roth den Fall bearbeitet. Warte mal einen Augenblick.« Er rief die digitale Akte der Spurensicherung auf und klickte sich dann durch die Seiten. »Ah ja, da haben wir es ja schon.« Während seine Augen rastlos über den Bildschirm huschten, las er laut vor, was dort stand. »Unbekannte, weibliche Leiche. Keine Papiere, Identität unbekannt. Ihr Mobiltelefon wurde durch die Wucht des Aufpralls völlig zerstört. SIM-Karte ist ebenfalls beschädigt, und die Daten nicht wiederherstellbar. Anhand der Bruchstücke konnten immerhin Marke und Typ des Handys festgestellt werden. Es handelte sich demnach um ein Samsung Galaxy S2 Mini. Der hohe Zerstörungsgrad des Mobiltelefons legt die Vermutung nahe, dass die Unbekannte es nicht in einer Tasche ihrer Jacke oder Hose verstaut hatte, sondern es in der Hand hielt, als der Zug sie erfasste.« Er klickte eine Seite weiter. »Hier ist eine Liste der Kleidungstücke, die die Tote trug. Schwarze, knöchelhohe Schnürstiefel der Marke Dr. Martens. Ein Paar schwarze Nike-Tennissocken. Die Unterwäsche bestand aus einem hellgrauen Slip und einem Spaghetti-Top aus Baumwolle von vivance active. Kein BH. Eine schwarze Zip-off-Funktionshose von OCK. Ein schwarzer Baumwollpullover von Esprit. Schwarze Wollhandschuhe, Marke unbekannt. Eine schwarze Softshell-Jacke von Jack Wolfskin.« Der nächste Mausklick. »Weitere Spuren. Ah, das ist ja interessant!«

»Was hast du gefunden?«

»An der Oberbekleidung der Toten wurden grüne Fasern gefunden, die allerdings noch nicht analysiert wurden. Würde mich aber gar nicht großartig überraschen, wenn sie mit den Fasern übereinstimmen, die wir an der Baumwurzel im Park gefunden haben. Anscheinend hast du mal wieder den richtigen Riecher bewiesen und bist auf der richtigen Spur, Franz, alter Fuchs.«

Schäringer machte ein nachdenkliches Gesicht, während er nickte, als bestätigten die Ergebnisse der Spurensicherung nur seine eigenen Überlegungen. »Gibt es bereits nähere Angaben zur Personenbeschreibung oder besondere Merkmale, die uns bei der Identifizierung der Toten helfen können?«

Krautmann klickte ein paar Mal, ehe er den Kopf hin und her wiegte. »Bis jetzt nur ein paar vage Angaben. Schulterlanges, dunkelbraunes Haar. Augenfarbe braun. Weitere Angaben liegen aber bislang noch nicht vor, weil der Körper vom ICE überrollt und dabei in mehrere Einzelteile zerstückelt wurde. Aber die Gerichtsmedizin wird dir nach der Obduktion bestimmt mehr sagen und Angaben zu Gewicht, Körpergröße und Alter machen können.«

»Hatte die junge Frau denn überhaupt keinen Schmuck bei sich?«

»Doch«, antwortete Krautmann, der schon die richtige Seite vor sich hatte. »Allerdings nur eine Halskette mit rechteckigem Anhänger aus 925er Silber. In den Anhänger ist das Wort Ela eingraviert.«

»Ella?«

»Nein, nur mit einem L«, korrigierte Krautmann. »Ela. Wahrscheinlich die Kurzform eines Vornamens, zum Beispiel Michaela, Manuela oder Daniela.«

»Oder Consuela. Ob das ihr eigener Name ist?«

»Vielleicht auch der Name eines nahen Angehörigen oder eines geliebten Menschen. Aber immerhin hast du damit etwas in der Hand, das dir vielleicht bei der Identifizierung hilft.«

»Sonst wurde nichts gefunden?«

»Tut mir leid, Franz, aber das war alles. Wird schwer werden, anhand dessen rasch ihre Identität zu ermitteln. Wahrscheinlich musst du warten, bis nach der Obduktion eine genauere Personenbeschreibung vorliegt, die man an die Presse herausgeben kann. Zusammen mit dem Hinweis auf die Halskette müsste das aber genügen, damit jemand sich meldet, der ihren Namen kennt.«

»Ich habe allerdings eine Idee, wie wir ihre Identität unter Umständen schon vorher herausfinden können«, sagte Schäringer.

Krautmann sah sein Gegenüber misstrauisch an und hob die Augenbrauen. »Deine tollen Ideen sind in der Regel mit Arbeit für mich verbunden. Das bedeutet vermutlich, dass meine wohlverdiente Mittagspause verschoben wird und ich meinen knurrenden Magen noch etwas länger ertragen muss. Aber was soll’s. Also sag schon, was du von mir haben willst.«

»Soweit ich weiß, wurde in der Nähe des Ortes, an der die junge Frau vom Zug überrollt wurde, kein Fahrzeug gefunden.«

Krautmann nickte. »Das ist richtig. Nicht einmal ein Trekking Bike, falls du darauf hinauswillst, dass sie mit dem Rad zu den Gleisen gefahren ist, nachdem sie es aus einer Garage geklaut und den Junkie im Park niedergestochen hat. Und meine Leute haben den Bereich wirklich gründlich abgesucht.«

Schäringer schmunzelte. »Daran zweifle ich nicht. Aber wie ist sie dann dorthin gekommen?«

»Vielleicht ist sie per Anhalter gefahren und das letzte Stück gelaufen. Möglicherweise meldet sich in den nächsten Tagen jemand, der sie mitgenommen hat.«

»Das ist möglich. Meiner Meinung nach gibt es aber eine viel näherliegendere Möglichkeit.«

»Und die wäre? Mach es nicht so spannend, Franz. Ich hab Hunger! Also raus damit!«

»Ich könnte mir vorstellen, dass sie ihr Auto an der Raststätte abgestellt hat und es noch immer dort steht. Das ist nämlich die nächstgelegene Parkmöglichkeit.«

 

»An der Raststätte?«, echote Krautmann und dachte nach. Zweifellos vergegenwärtigte er sich in Gedanken eine Karte der Gegend. »Aber die liegt doch auf der anderen Seite der Autobahn. Bis man von dort zu der Stelle kommt, an der sie vom Zug erfasst wurde, muss man bis zur nächsten Überfahrungsmöglichkeit. Zu Fuß ist man da die halbe Nacht unterwegs. Da liegt sogar das Zentrum von Oberhofberg näher.«

»Nicht, wenn man durch den Tunnel geht.«

»Durch den Tunnel?«

»Ja. Das geht. Ich hab es vorhin selbst ausprobiert.«

»Du bist durch den Tunnel marschiert? Mensch, Franz, bist du etwa auch lebensmüde. Das ist doch hochgefährlich. Und das in deinem Alter. Du spinnst doch!«

»Ach was«, winkte Schäringer ab und verschwieg die Panikattacke und die Angst, die er bei der Durchquerung des Tunnels ausgestanden hatte. »Die Strecke ist nicht gerade viel befahren, ungefähr alle 45 Minuten ein Regionalexpress oder ein ICE. Und der Tunnel ist gar nicht so lang, höchstens 40 Meter. Wenn man den richtigen Zeitpunkt abpasst, kann man gefahrlos durchmarschieren und zur anderen Seite kommen. Von dort ist es dann gar nicht mehr weit bis zur Raststätte.«

»Aber wieso sollte sie erst durch den Tunnel gegangen sein, wenn sie sich ohnehin das Leben nehmen wollte. Das hätte sie doch auch auf der Seite der Raststätte tun können.«

Schäringer erinnerte sich, dass der Geschäftsführer der Raststätte denselben Einwand vorgebracht hatte. Er winkte ab. »Vielleicht war ihr langweilig, während sie auf den Zug wartete. Oder sie wollte, dass der Zug erst durch den Tunnel fuhr, damit sie ihn nicht sehen musste. Was weiß ich? Solche Detailfragen können wir hinterher immer noch klären. Lass uns doch erst mal herausfinden, ob wir nicht an der Raststätte ihren Wagen ausfindig machen können.«

»Und wie stellst du dir das vor? Sollen wir eine Staffel der Bereitschaftspolizei mobilisieren und alle Fahrzeuge an der Raststätte kontrollieren lassen?«

»Nein. Ich hab da an eine andere, viel einfachere Möglichkeit gedacht.« Schäringer nahm die DVD-Hülle vom Schoß und hob sie in die Höhe. »Tatarataaa!«

»Die hab ich schon bemerkt, als du hereinkamst. Da dachte ich aber noch, du bringst mir einen Bollywood-Streifen mit, den ich mir nach Feierabend mit Frau Krautmann ansehen kann. Was ist das?«

Aus Gründen, die keiner bei der Kriminalpolizei Fürstenfeldbruck nachvollziehen konnte, waren die Krautmanns glühende Anhänger sogenannter Bollywood-Filme, die in großer Zahl im indischen Mumbai gedreht wurden, zumeist furchtbar grell, bunt, schwülstig und viel zu lang waren und darüber hinaus zahlreiche Tanzszenen enthielten.

»Diese DVD enthält die Aufnahmen der Überwachungskameras an der Raststätte der letzten 24 Stunden.«

Krautmann nickte. »Aha. Trotzdem dürfte es schwierig und vor allem ziemlich zeitaufwändig sein, die Aufnahmen anzusehen, um unter Hunderten oder Tausenden von Fahrzeugen ein einzelnes Auto zu finden, das den ganzen Tag nicht bewegt wurde. Vermutlich ohnehin nur vergebliche Mühe, weil du die Identität der Toten über die Medien schneller herausfindest.«

»Ich hab mir das so vorgestellt«, sagte Schäringer, der sich von den Einwänden nicht beirren ließ. »Nach Aussage des Geschäftsführers der Raststätte beträgt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer seiner Gäste 20 Minuten. Wenn wir nun aus der Videoaufnahme des ganzen Parkplatzes Einzelbilder im Abstand von, sagen wir mal, einer Stunde ausdrucken und miteinander vergleichen, müssten wir doch rasch die Fahrzeuge finden können, die länger auf dem Parkplatz standen. Und wenn wir bis gestern Nacht zurückgehen, stoßen wir womöglich auf ein Auto, das die ganze Zeit dort geparkt war.«

Krautmann dachte kurz nach. »Das könnte sogar funktionieren. Aber ich hab noch eine bessere Idee. Wir können die Einzelbilder mithilfe eines Computerprogramms miteinander vergleichen, mit dem wir sonst bei Fingerabdrücken oder Gesichtern nach Übereinstimmungen suchen. Das geht viel schneller. Gib mir mal die Scheibe.«

Schäringer reichte ihm die DVD-Hülle über den Schreibtisch hinweg. Krautmann holte den silbernen Datenträger heraus und schob ihn in den Computer.

»Der Geschäftsführer sagte, die Aufnahmen würden digital gespeichert werden.«

»Noch besser. Allerdings gibt es mehrere Dateien.«

»Es gibt insgesamt fünf Kameras. Als er mir die DVD überreichte, sagte er, die Kamera, die den ganzen Parkplatz überwacht, sei die Nummer 3.«

»Gut, dann öffne ich mal die Datei Cam3. Nimm doch einfach deinen Stuhl und setz dich neben mich, Franz, dann kannst du auch gucken.«

Schäringer stand auf, stellte seinen Stuhl neben den von Krautmann auf der anderen Seite des Schreibtischs und nahm wieder Platz. Jetzt konnte er den Bildschirm sehen, wo sich soeben ein Fenster öffnete, in dem eine Videoaufnahme abgespielt wurde. Der Parkplatz vor der Raststätte war von schräg oben zu sehen. Die Autos und Menschen im Vordergrund waren gut zu erkennen, doch je weiter sie von der Kameraposition entfernt waren, desto kleiner und undeutlicher wurden sie. Und angesichts der unüberschaubar großen Menge an Fahrzeugen und der ständigen Bewegungen von Fußgängern und Autos verlor Schäringer schon nach wenigen Sekunden den Überblick. Ihm wurde klar, dass sie allein anhand der Videoaufzeichnung vermutlich nie ein einzelnes Fahrzeug finden würden, auch wenn es sich die ganze Zeit über nicht bewegt hatte.

Krautmann machte ein paar Mausklicks, worauf die Aufnahme in rasendem Tempo abgespielt wurde. Die Balkenanzeige unter dem Bild bewegte sich rasch von links nach rechts. Alle paar Sekunden klickte der Leiter der Spurensicherung und erzeugte damit vermutlich ein Einzelbild. Als die Aufzeichnung zu Ende war, wurde der Fensterausschnitt schwarz.

»Ich hab jetzt mehrere Einzelaufnahmen hergestellt, jeweils im Abstand von ungefähr einer Stunde. Als Nächstes vergleiche ich zwei dieser Bilder mithilfe der Software, von der ich sprach. Ich würde vorschlagen, dass wir dazu zum einen die aktuellste Aufnahme und zum anderen eine eher frühere Aufnahme von letzter Nacht benutzen. Wann wurde die junge Frau vom Zug überrollt?«

»Das weiß ich auch nicht genau«, sagte Schäringer. »Aber ich glaube, es war ungefähr um halb zwölf, also noch vor Mitternacht.«

»Also müsste ihr Auto, wenn sie es denn tatsächlich dort geparkt hat, bereits gegen Mitternacht dort gestanden haben. Ich nehme deshalb diese Aufnahme hier, die kurz nach Mitternacht aufgenommen wurde. Nachts dürfte auf der Raststätte ohnehin weniger los sein, womit die Chance, einen Treffer zu erzielen, höher sein dürfte. Allerdings muss ich die Helligkeit der Nachtaufnahme der vom Tag anpassen, damit die Software beides besser miteinander vergleichen kann.«

Schäringer nickte zutiefst beeindruckt. Er selbst hätte sich auch gern besser mit Computern ausgekannt, doch alles, was er konnte, beschränkte sich darauf, das Textverarbeitungsprogramm zu bedienen, um damit Briefe und Berichte zu schreiben und auszudrucken, seine E-Mails abzurufen und im Internet zu surfen.

Nachdem Krautmann die Nachtaufnahme mithilfe eines Bildbearbeitungsprogramms aufgehellt hatte, startete er die Vergleichssoftware und lud die beiden Aufnahmen. Sie wurden nebeneinander abgebildet. Die beiden Bilder, die denselben Ort zeigten, aber im Abstand von ungefähr 10 Stunden aufgenommen worden waren, hätten im Grunde nicht unterschiedlicher sein können. Auf den ersten Blick tat sich Schäringer schwer, irgendwelche Gemeinsamkeiten zu entdecken. Dann sah er eine Sitzbank, die Autobahn im Hintergrund, eine Fahrbahnbegrenzung, Straßenmarkierungen und Schilder, die sich natürlich nicht verändert hatten. Alles andere jedoch erschien im komplett unterschiedlich. Er seufzte.

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