Vier Todesfälle und ein Tankstellenraub & Der tote Kapitän im Wald

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2.

Oberhofberg, Rosenstraße

11. April 2013, 9:45 Uhr

Nachdem Schäringer kurze Zeit später ebenfalls das Büro verlassen hatte, fuhr er ins 25 Kilometer von Fürstenfeldbruck entfernt gelegene Oberhofberg, das in der letzten Nacht durch die unerklärliche Häufung von Gewaltdelikten traurige Berühmtheit erlangt hatte. Sein erster Weg führte ihn zur örtlichen Polizeiinspektion, wo der Diebstahl des Trekking Bikes angezeigt worden war. Er ließ sich eine Kopie der Diebstahlanzeige geben, auf der nicht nur die Anschrift der Eigentümer stand, sondern auch Informationen über das gestohlene Fahrrad festgehalten worden waren, die eine Identifizierung des Diebesguts ermöglichten.

Anschließend fuhr er zu der Adresse und parkte seinen Wagen am Straßenrand vor dem gepflegten Garten eines hübschen Einfamilienhauses. Er stieg aus und ging zur Doppelgarage, deren Tore geschlossen waren. Anscheinend hatten die Eigentümer aus dem Diebstahl gelernt und ließen die Tore nicht mehr für längere Zeit unbeaufsichtigt offen stehen.

Noch bevor er zur Haustür gehen und klingeln konnte, tauchte an der Hausecke eine etwa dreißigjährige, blonde Frau auf, die einen pflegeleichten Kurzhaarschnitt hatte und ein schlichtes, blaues Kleid trug, das sich eng an ihren schlanken Körper schmiegte. Sie blieb stehen, als sie ihn bemerkte, und sah ihn misstrauisch an. »Sie wünschen?«

»Schäringer, Kriminalpolizei«, antwortete er, zückte gleichzeitig seinen Dienstausweis und ging auf die Frau zu, die sich daraufhin sichtlich entspannte. »Sind Sie Frau Hartwig?«

Sie nickte unsicher. »Kriminalpolizei?«

»Ja. Wir ermitteln in den beiden Mordfällen, die gestern Nacht hier im Ort verübt wurden. Vermutlich haben Sie davon gehört. Im Rahmen unserer Ermittlungen gehen wir auch allen anderen Delikten nach, die gestern in unmittelbarer Nähe zu den Tatorten verübt wurden. Aus diesem Grund hätte ich auch an Sie ein paar Fragen wegen des gestohlenen Trekking Bikes, Frau Hartwig.«

Sie musterte den Dienstausweis aufmerksam und verglich das Foto mit seinem tatsächlichen Aussehen. Allem Anschein nach hatte er immer noch genügend Ähnlichkeit mit seinem Ausweisfoto, um keine Zweifel an seiner Identität bei ihr aufkommen zu lassen, denn sie sagte: »Da müssen Sie meinen Mann fragen. Ihm gehörte das Rad. Aber Markus ist momentan nicht da, sondern im Büro.«

Schäringer nickte. »Vielleicht können Sie mir trotzdem ein paar Fragen beantworten, wenn Sie gerade Zeit haben, Frau Hartwig.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hab um halb elf einen Termin beim Augenarzt, aber für ein paar Fragen habe ich natürlich Zeit. Was wollen Sie wissen, Herr Kommissar?«

Er holte die Kopie der Diebstahlanzeige aus der Innentasche seines Jacketts. »Bei dem Fahrrad handelte es sich nach Angaben Ihres Mannes um ein Maranello Light Trekking Bike von KTM im Wert von 1.100 Euro. Ist das korrekt?«

Sie verzog das Gesicht und zuckte erneut mit den Schultern. »Wenn mein Mann das bei der Polizei so angegeben hat, dann wird das auch stimmen. Ich selbst kenne mich damit nicht aus.«

»Und das Fahrrad stand zum Zeitpunkt des Diebstahls in der Garage.«

»Das kann ich bestätigen! Ich kann Ihnen sogar die Stelle zeigen, wenn Sie wollen.«

Er nickte.

»Augenblick, ich muss nur erst das Tor aufmachen. Einer der elektrischen Garagentoröffner liegt im Hausflur.«

Sie wandte sich um und verschwand um die Hausecke, hinter der sie hervorgekommen war.

Schäringer drehte sich um und ging langsam zurück zur Garage. Er sah sich aufmerksam um und suchte dabei vor allem auf der Zufahrt zur Garage nach Spuren, konnte auf den Pflastersteinen allerdings nichts entdecken.

Nach zwei Minuten begann sich das linke Tor, das näher an der Haustür lag, rumpelnd und quietschend zu heben. Die Haustür ging auf, und Frau Hartwig kam heraus. Sie warteten, bis das Tor sich vollständig geöffnet hatte und zum Stillstand gekommen war, ehe sie die Garage betraten. Der linke Stellplatz war verwaist. Vermutlich stand hier sonst das Auto des Ehemanns, mit dem er heute früh ins Büro gefahren war. Hinter dem geschlossenen Tor stand ein roter Fiat 500. In den Ecken standen Felgenbäume mit Winterreifen, an den Wänden hing Werkzeug, und an der Wand vor der Motorhaube des Fiat lehnte ein Damenfahrrad an der Wand.

»Hier stand auch das Fahrrad meines Mannes.«

»War es abgesperrt oder sonst irgendwie gesichert?«

Frau Hartwig seufzte. »Doch nicht hier in der Garage.«

»Aber die Garage war offen?«

»Bedauerlicherweise ja. Als ich nämlich nach dem Einkaufen nach Hause kam, wollte ich nur schnell die Einkäufe in die Küche bringen und sofort danach das Tor zumachen. Aber dann klingelte das Telefon, und hinterher hab ich vergessen, dass es noch offen war. Erst als mein Mann um halb zehn am Abend nach Hause kam, bemerkten wir, dass die Garage die ganze Zeit offen gestanden hatte. Und da stellten wir dann auch fest, dass das Fahrrad fehlte. Mein Mann hat gleich die Polizei angerufen und wurde gebeten, heute Vormittag auf seinem Weg ins Büro vorbeizukommen, um eine Diebstahlanzeige aufzugeben.«

»Also war es purer Zufall, dass die Garage gestern offen war, weil sie sonst immer verschlossen ist?«

Sie nickte. »Immer. Außer natürlich, wenn einer von uns gerade raus- oder reinfährt. Aber danach machen wir das Tor sofort wieder zu.«

»Was ist mit Kindern, die so etwas öfter mal vergessen, Frau Hartwig?«

Sie schüttelte den Kopf. »Markus und ich haben noch keine Kinder.«

»Da Sie vom Einkaufen gekommen waren, gehe ich davon aus, dass das rechte Tor offen stand. Dann konnte man das Fahrrad von der Straße vermutlich sehen.«

»Davon gehe ich aus. Der Dieb sah das Rad, hatte keine Lust mehr zu laufen, nutzte seine Chance, rannte in die Garage, schnappte sich das Rad und fuhr weg. Der Diebstahl dauerte vermutlich nur wenige Sekunden.«

Schäringer nickte. »Sie haben aber niemanden gesehen, oder?«

»Nein. Ich war ja die ganze Zeit über im Haus und habe auch bei meiner Ankunft niemanden in unserer Straße bemerkt.«

Schäringer sah sich in der Nähe des Platzes um, an dem das gestohlene Fahrrad gestanden hatte, bückte sich und begutachtete den Boden, ob es dort irgendwelche Spuren gab. Doch der gegossene Betonboden war makellos sauber. Es gab weder Fuß- noch Reifenabdrücke, und es lag auch kein Dreck herum.

»Haben Sie vielleicht etwas gefunden, was dem Dieb gehört haben könnte?«

»Nein. Tut mir leid, aber hier war nichts.«

Schäringer musterte das Damenfahrrad. »Ihr Fahrrad ist ja von derselben Marke.«

Sie nickte strahlend. »Natürlich! Wir haben Sie vor anderthalb Jahren zusammen gekauft, ein Damen- und ein Herrenfahrrad.«

»Ich würde mir gern einen Abdruck eines Ihrer Reifen machen, um diesen dann gegebenenfalls mit Spuren an den Tatorten zu vergleichen, wenn Sie nichts dagegen haben, Frau Hartwig.«

»Da habe ich eine viel bessere Idee«, sagte sie, ging an ihm vorbei zur Seitenwand, wo unter anderem eine Aluminiumleiter an der Wand hing, und nahm einen von zwei Fahrrad-Mänteln, die unter der Leiter an einem Haken hingen und die er bislang gar nicht bemerkt hatte. »Sie können sich für die Dauer Ihrer Ermittlungen gern diesen Mantel ausleihen. Er ist nämlich identisch mit den Reifen am Rad meines Mannes. Markus ist immer übervorsichtig und hat sich deshalb schon beim Kauf der Räder Ersatz-Mäntel geben lassen, falls mal einer kaputtgeht.«

»Perfekt!«, sagte Schäringer und nickte anerkennend.

»Ich hoffe, ich konnte Ihnen damit helfen. Der Verlust des Fahrrads ist zwar bedauerlich, aber im Vergleich zu den anderen Dingen, die letzte Nacht geschahen, nicht so schlimm. Viel furchtbarer finde ich es ja, dass die Mörder der beiden jungen Männer noch immer auf freiem Fuß und vielleicht noch immer irgendwo in der Nähe sind. Ich hoffe, Sie schnappen die Kerle bald.«

»Das hoffe ich auch«, antwortete Schäringer. »Und ich bin sehr zuversichtlich, dass uns das bald gelingen wird.«

3.

Umgebung von Oberhofberg, Eisenbahntunnel

11. April 2013, 10:33 Uhr

Mit dem Fahrrad-Mantel auf dem Beifahrersitz fuhr Schäringer durch Oberhofberg. Er hatte sich alle Tatorte – die Tankstelle, den Weiher, den öffentlichen Park in der Ortsmitte, die Garage der Hartwigs und die Stelle des Selbstmords der jungen Frau vor dem Eisenbahntunnel auf einer Karte markiert. Sie bildeten zwar keine schnurgerade Linie, die eine Systematik erkennen ließ, lagen aber dennoch aufgereiht wie Perlen auf einer leicht gewundenen Schnur, die insgesamt von Nordwesten nach Südosten verlief.

Er folgte gerade dem letzten Teil dieser Linie und fuhr auf einem engen Kiesweg durch den Wald. Als er schon wieder zwischen den Bäumen heraus und ins Freie kam, lag linker Hand des Weges ein verlassener, heruntergekommener Bauernhof. Das Wohnhaus musste schon vor Jahren niedergebrannt sein. Die Scheune daneben stand völlig schief und machte den Eindruck, als könnte sie jeden Moment beim feinsten Windhauch einstürzen.

Er konzentrierte sich auf den schmalen Feldweg, der ihn zum Bahndamm führte und dann parallel dazu verlief. Er fuhr noch ein Stück neben der Böschung her, bis der Weg vor ihm erneut scharf nach links abknickte, weil geradeaus der Steilhang der vielbefahrenen, sechsspurigen Autobahn lag, die wie eine Messerklinge die Landschaft teilte. Die Schienen auf dem Bahndamm verschwanden in einem Tunnel, der unter der Autobahn hindurchführte. Genau vor dieser Tunnelöffnung hatte sich die junge Frau vor den ICE gestürzt.

 

Er ließ den Wagen stehen und stieg zum Bahndamm hinauf. Der Lärm der Autos auf den sechs Fahrspuren, drei in jede Richtung, war sehr laut. Anscheinend herrschte um diese Zeit besonders viel Verkehr. In der Nacht, als die Unbekannte überrollt worden war, musste jedoch weit weniger los und der Geräuschpegel nicht so hoch gewesen sein. Vielleicht sollte er noch einmal zum Zeitpunkt des Unfalls hierher zurückkehren, um die Lautstärke der Verkehrsgeräusche von der Autobahn zu überprüfen.

Er erreichte das obere Ende des Hangs, blieb allerdings in respektvollem Abstand zu den Gleisen stehen und sah sich um. Reste von Absperrbändern lagen herum und flatterten im leichten Wind, dazwischen weggeworfene Einweghandschuhe. Und wenn man die Schienen, die Holzbohlen und den Schotter des Gleisbetts ein wenig genauer ansah, konnte man hier und da noch immer Flecken und Tropfen aus getrocknetem Blut entdecken. Alles andere, einschließlich jeder Menge weggeworfenen Mülls, war fein säuberlich eingesammelt und eingetütet worden, um es im Labor kriminaltechnisch zu untersuchen. Schließlich wurde momentan nur vermutet, dass es sich um einen Suizid handelte, bis ein Fremdverschulden zweifelsfrei ausgeschlossen werden konnte.

Auch alle Bruchstücke eines Handys, die man gefunden hatte, waren eingesammelt worden. Allerdings waren Gerät und PIN-Karte dermaßen zerstört gewesen, dass man daraus vermutlich nichts mehr über den Anschluss und den Eigentümer herausfinden konnte. Außerdem hatte man einen Teil der Bruchstücke gar nicht mehr gefunden, weil sie entweder zu klein waren, um sie im Gras der Böschung beiderseits des Gleisbetts zu entdecken, oder aufgrund der Wucht des Aufpralls und der Geschwindigkeit des Zuges zu weit weggeschleudert worden waren.

Da die Tote auch keinerlei Papiere bei sich gehabt hatte, war bislang jeder Versuch gescheitert, sie zu identifizieren. Wenn es tatsächlich ein Selbstmord gewesen war, worauf zumindest der erste Anschein hindeutete, hätte die junge Dame es ihnen auch leichter machen können, denn sie hatte nicht einmal einen Abschiedsbrief hinterlassen. Und wie war sie überhaupt hierhergekommen? Vom Ortsrand bis hierher waren es viereinhalb Kilometer. Schäringer hatte das auf der Fahrt mit seinem Kilometerzähler überprüft. Zu Fuß ein ziemliches Stück. Wenn man allerdings mit dem Fahrrad unterwegs war, sah die Sache schon anders aus. Allerdings war kein Fahrrad in der Nähe gefunden worden. Wäre ja auch zu schön gewesen.

Schäringer rief sich die Karte ins Gedächtnis und suchte nach dem nächstbesten Ort, an dem man einen Wagen abstellen konnte, ohne dass es sofort jemandem auffiel. Er erinnerte sich, dass es ganz in der Nähe, ungefähr zwei bis drei Kilometer von hier, eine Autobahnraststätte gab. Allerdings lag sie auf der anderen Seite der Autobahn. Die kürzeste Art, von hier dorthin zu kommen, war der Weg durch den Tunnel.

Schäringer runzelte unwillig die Stirn, beugte sich dann ein wenig nach vorn und sah in den dunklen Tunnel. Da er nur bis zur anderen Seite der Autobahn reichte, konnte er das andere Ende als hellen Rundbogen etwa 40 Meter entfernt sehen. Momentan war zwar weit und breit kein Zug zu sehen, er wollte jedoch auf keinen Fall mitten im Tunnel überrascht werden. Rechts und links der Gleise gab es zwar genug Platz, wenn man sich dort flach auf den Boden legte oder gegen die Tunnelwand presste, würde einen der vorbeirauschende Zug auch nicht erwischen. Allerdings befürchtete Schäringer, der Luftzug eines mit Hochgeschwindigkeit durch die enge Röhre fahrenden ICE könnte einen Menschen mitreißen und unter die Räder wirbeln.

Er lauschte angestrengt, würde wegen der Verkehrsgeräusche von der Autobahn aber vermutlich erst dann hören, dass ein Zug angebraust käme, wenn er bereits darunter läge. Er griff in die linke Innentasche seines Jacketts und holte den Fahrplan heraus, den er sich nach dem Besuch bei Frau Hartwig am Bahnhof geholt hatte. Er fuhr mit dem Zeigefinger über die Spalten und Zeilen, bis er fand, wonach er gesucht hatte. Der nächste planmäßige Zug würde aus dieser Richtung durch den Tunnel fahren und nach diesem Fahrplan erst in ungefähr 27 Minuten kommen. Ein ICE aus der anderen Richtung musste kurz vor seiner Ankunft vorbeigekommen sein. Hoffentlich hatte der heute nicht Verspätung.

Schäringer steckte den Fahrplan wieder ein und seufzte tief, bevor er nach einem letzten Blick auf seinen Wagen neben den Schienen in den Tunnel ging. Er hielt sich möglichst nah an der linken Tunnelwand, ohne sie allerdings zu berühren, und sah geradeaus zum Ende des Tunnels. Dort konnte er allerdings nur einen Rundbogen aus Tageslicht und nichts von der Landschaft sehen, die dahinter lag. Wenn ein Zug kommen sollte, würde er ihn vermutlich erst sehen, sobald er in den Tunnel fuhr und das Tageslicht blockierte. Und hören würde er ihn vermutlich noch später, denn die Fahrzeuggeräusche von der Autobahn erschienen ihm im Tunnel noch viel lauter. Außerhalb des Tunnels hatte er anscheinend nur die Geräusche von den näher gelegenen Fahrspuren gehört, und das war schon verhältnismäßig laut gewesen. Innerhalb des Tunnels fühlte er sich wie in einem Schalltrichter, der jeden zusätzlichen Laut verstärkte, denn er hörte jedes einzelne Fahrzeug, das darüber hinwegfuhr, in Form eines dumpfen Dröhnens, das ihm durch Mark und Bein ging und seine fest aufeinandergepressten Zähne vibrieren ließ.

Alle fünf Schritte sah er über die Schulter nach hinten, ob sich von dort ein Zug näherte. Das wäre zwar immer noch mehr als 20 Minuten zu früh und für die Deutsche Bahn eher untypisch, aber man wusste ja nie.

Im Tunnel war es viel wärmer als draußen, als staute sich hier die Luft, und ihm traten Schweißperlen auf die Stirn.

Warte nur ab, bis der nächste Zug wie ein Sturm hier hindurchfegt und mehr frische Luft mitbringt, als dir guttut.

Allerdings wollte er längst nicht mehr hier sein, wenn es dazu kam. Er beschleunigte seine Schritte unwillkürlich, als er seiner Schätzung nach die Hälfte der Strecke geschafft hatte. Über ihm musste nun der Mittelstreifen der Autobahn liegen, an dem in diesem Moment unzählige Fahrzeuge in beiden Richtungen vorbeirauschten, deren Reifen ein tiefes Dröhnen auf dem Asphalt erzeugten, das Schäringer allmählich Kopfschmerzen verursachte.

Schon mal was von Flüsterasphalt gehört?

Sein Kopf ruckte so abrupt herum, dass es in seinen Halswirbeln knackte und ein stechender Schmerz durch seine Wirbelsäule fuhr, als er plötzlich das Gefühl hatte, ein kühler Luftschwall hätte ihn von hinten getroffen. Im ersten Moment ging er davon aus, dass es sich um die verdichtete Luft handelte, die ein Zug vor sich herschob, der durch einen Tunnel fuhr. Er rechnete bereits damit, direkt ins Führerhaus eines Triebwagens zu blicken, und machte sich bereit, sich augenblicklich gegen die Wand zu pressen. Doch hinter ihm war nur der leere Tunnel.

Er schluckte, holte tief Luft und wischte sich mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn, bevor sie ihm in die Augen laufen konnten. Dann sah er rasch wieder nach vorn. Er hatte das Gefühl, die Tunnelwände zögen sich um ihn herum immer enger zusammen, als wollten sie ihn zwischen sich zerquetschen. Er erhöhte seine Geschwindigkeit noch einmal, lief nun beinahe im Dauerlauftempo, geriet noch mehr ins Schwitzen und atmete keuchend.

Nie wieder!, sagte er sich im Rhythmus seiner Schritte, jede einzelne Silbe ein Schritt. Nie wieder! Nie wieder! Nie wieder!

Nie wieder würde er aus freien Stücken in einen Tunnel gehen, wenn auch nur die entfernteste Möglichkeit bestand, dass ein Zug kommen könnte! Er war definitiv zu alt für solche Abenteuer.

Die letzten Meter legte Schäringer im Spurt zurück. Kaum hatte er das Tunnelende erreicht und kam ins grelle Tageslicht, trat er rasch zur Seite und lehnte sich mit dem Rücken erschöpft gegen die Wand neben der Tunnelöffnung. Er schnappte nach Luft, während er mit zitternden Händen ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche fummelte und sein schweißüberströmtes Gesicht trocken wischte.

»Nie wieder!«, sagte er noch einmal laut, auch wenn niemand in der Nähe war, der ihn hören konnte. Da er nun aber auf dieser Seite des Tunnels war und sein Auto noch immer auf der anderen, stellte sich die Frage, wie er wieder zurück zu seinem fahrbaren Untersatz kam. Er beschloss, von der Autobahnraststätte entweder ein Taxi oder einen Streifenwagen zu rufen, der ihn zurückbrachte. Immerhin hatte er durch seine wahnwitzige Aktion bewiesen, dass man auf diesem Weg rasch auf die andere Seite der Autobahn gelangen konnte, wenn man nur wagemutig genug war. Allerdings bestand natürlich auch die Gefahr, dass man, wenn man nicht aufpasste, von einem Zug überrollt wurde. Und genau das war letzte Nacht einer jungen, bislang noch unbekannten Frau geschehen.

Nachdem Schäringer wieder halbwegs zu Atem gekommen war, sah er sich um. Um zur Autobahnraststätte zu kommen, musste er sich nach rechts wenden. Und dazu musste er zunächst das Gleis überqueren. Er trat wieder näher an die Schienen, bis er in den Tunnel sehen konnte. Dies war seiner Meinung nach der gefährlichste Moment, wenn man von der Seite vor den Tunnel trat und nicht wusste, ob gerade ein Zug hindurchfuhr. Hören konnte man ihn wegen der Geräusche von der Autobahn vermutlich ohnehin nicht. Und wenn man darüber hinaus in Gedanken versunken oder abgelenkt war, oder wenn man sich vielleicht aufgrund unvorhergesehener Ereignisse verspätet hatte und die berechneten Zeiten nicht mehr stimmten, dann konnte leicht ein Unglück passieren.

Er blickte in den Tunnel, der noch immer leer war. Kein bedrohlich schwarzer Umriss eines heranrasenden, brüllenden Ungetüms verdunkelte die Tunnelöffnung auf der anderen Seite, von der er gekommen war und die ihm nun gar nicht mehr so weit entfernt vorkam. Gerade eben im Tunnel war ihm der Weg viel länger erschienen. Er sah auf die Uhr. Bis der nächste Zug eintraf, dauerte es noch immer ungefähr 20 Minuten, sofern er pünktlich war.

In einer mondlosen Nacht würde man allerdings keine helle Tunnelöffnung am anderen Ende sehen können, sondern nur tiefschwarze Dunkelheit. Unter Umständen die Lichter des näher kommenden Zuges, aber vielleicht war es dann schon zu spät.

Schäringer sah noch einmal wie ein artiges Schulkind, das auf dem Nachhauseweg die Straße überqueren musste, in beide Richtungen, um ganz auf Nummer sicher zu gehen, dass tatsächlich kein Zug kam, ehe er rasch über die Schienen lief. Auf der anderen Seite ging es wieder eine steile Böschung nach unten, wo es einen weiteren Feldweg gab, der am Rand der Autobahn entlang aufwärts führte. An seinem Ende konnte er bereits die Raststätte sehen.

Während er vorsichtig die Böschung hinunterging, um nicht zu stürzen, suchte er den Boden nach Fußabdrücken und Reifenspuren von Fahrrädern ab. Er fand jedoch nur einen schmalen Pfad aus festgetretener, trockener Erde, auf dem keine Spuren zu finden waren. Es sah ganz so aus, als würde dieser Weg regelmäßig benutzt werden. Allerdings musste man Schäringers Meinung nach Nerven wie Drahtseile haben, um mehr als einmal durch den Tunnel zu gehen.

Als er das Ende der Böschung und den Feldweg erreichte, blieb er nicht stehen, um zu verschnaufen, sondern marschierte sofort zügig weiter.