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Drittes Kapitel
Neuansätze
I.Neopatristische Synthese

Wie erwähnt, war es vor allem der russische Theologe Georges Florovsky (1893-1987)105, der durch seine Analyse der Geschichte der russischen Theologie auf die Missstände in der neuzeitlichen orthodoxen Theologie aufmerksam gemacht hat. Er war der erste, der seine kritische Sicht der russisch-orthodoxen Theologiegeschichte bereits 1936 auf dem »Ersten Kongress orthodoxer Theologie«, der vom 29.11. bis 06.12.1936 in Athen stattfand, vorgetragen und in Form seiner »Puti« schriftlich vorgelegt hatte. Er charakterisierte die Entfremdung der orthodoxen Theologie von ihrer Tradition als »babylonische Gefangenschaft«, beklagte ihren Mangel an Kreativität106, die Lebensferne einer »Theologie auf Pfählen«107, die Verwestlichung, die zur »Pseudomorphose«108 wird. Mit seinen anschaulichen Bildern hat Florovsky vor allem die Sprache, in der über die Situation der neuzeitlichen orthodoxen Theologie gesprochen wird, geprägt. Nahezu alle von orthodoxen Theologen in der Analyse der Fehlentwicklungen verwendeten Begriffe, die später auch von Zizioulas, Yannaras und Nellas immer wieder verwendet werden und inzwischen weitgehend zum Allgemeingut geworden sind, gehen auf Florovsky zurück.

Seinen Lösungsvorschlag für die so hart analysierten Probleme hatte Florovsky ebenfalls bereits bei dem erwähnten Athener Kongress 1936 vorgetragen. In seinem zweiten Vortrag bei diesem Kongress »Patristics and Modern Theology«109 präzisierte er sie und entfaltete sie in vielen seiner späteren Schriften weiter. Es ist das Programm einer »Neopatristischen Synthese«. Die Grundlinien dieses Programms übernehmen sowohl Panagiotis Nellas als auch Christos Yannaras und Ioannis Zizioulas von Georges Florovsky.110 Allerdings ist die Neopatristische Synthese, wie sie Florovsky entwirft, kein fertiges geschlossenes System, sondern eher eine Zielbestimmung. Angesichts der Übergangssituation, in der sich die orthodoxe Theologie befand, und um dieser Übergangssituation gerecht zu werden, sagt Florovsky noch 1963 relativierend: »Man könnte das Ziel als 'Neopatristische Synthese' bezeichnen.«111 Was bedeutet 'Neopatristische Synthese'? Die Konsequenz aus der Analyse der Missstände in der orthodoxen Theologie liegt für Florovsky klar auf der Hand:

»Die westlichen Einflüsse … müssen überwunden werden. Vor allem gilt dies für den unorganischen westlichen Stil… Doch kann endgültig die orthodoxe Theologie ihre Unabhängigkeit von den westlichen Einflüssen nur durch ihre geistige Rückkehr zu den väterlichen Quellen und Grundlagen wiederherstellen«, die die Kirche in ihrer liturgischen Praxis auch durch die ‚babylonische Gefangenschaft' hindurch bewahrt hat.«112

Das Programm einer Rückkehr zu den Quellen und der erneuten Hinwendung zu den Vätern kann jedoch in zwei Richtungen missverstanden werden. Weder kann die Tatsache, dass die Väterzeit als interessanter Forschungsgegenstand erscheint, hinreichender Grund für die Beschäftigung mit einer längst vergangenen Epoche sein, noch kann es darum gehen, die Zeit der Kirchenväter idealisiert als verlorenes Paradies zu betrachten, das es wiederherzustellen gilt. In beiden Fällen wäre der Umgang mit den Kirchenvätern rein statisch und damit museal. Das Spezifikum der griechischen patristischen Theologie sieht Florovsky - und sehen mit ihm seine griechischen Schüler - jedoch in der existentiellen Relevanz ihrer Theologie für Menschen jeder Epoche. Diese zeichnet das Denken der Kirchenväter aufgrund seiner durchgängigen soteriologischen Ausrichtung aus, welche geradezu als ein Charakteristikum orthodoxer Theologie gelten kann. »Zu den Vätern zurückkehren, heißt jedoch nicht, aus der Gegenwart oder aus der Geschichte verschwinden, vom Schlachtfelde abtreten. Es gilt vielmehr, nicht nur die heilige väterliche Erfahrung zu bewahren und zu beschützen, sondern sie auch aufzudecken, von ihr aus ins Leben zu treten.«113

In der neopatristischen Synthese geht es folglich nicht darum, Vätertheologie zu wiederholen, sondern die bleibende Wahrheit der christlichen Botschaft in jeder Zeit und für jede Zeit je neu zu formulieren. Es bedarf eines kreativen Prozesses, einer neo-patristischen Syn-These, die je neu in der ungebrochenen Tradition der Kirche erfolgt. Ihr theologischer Ausgangspunkt und ihr Kriterium ist das »Leben in Christus«, wie es sich in und durch die Kirche mitteilt. Das »Kriterium neopatristischer Theologie ist die Katholizität der Kirche«.114 Insofern impliziert die Rückkehr zu den Vätern Kirchlichkeit. Es darf den Theologen »nicht so sehr [darum gehen,] ihre eigenen Ideen oder Sichtweisen zu entwickeln, sondern nur Zeugnis abzulegen für den unbefleckten Glauben von Mutter Kirche.«115

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum es für Florovsky und in seinem Gefolge auch für seine Schüler von so entscheidender Bedeutung ist, dass trotz aller Fehlentwicklungen in der neuzeitlichen orthodoxen Theologie die spirituelle und liturgische Tradition ungebrochen blieb. Zugleich erhellt daraus auch, warum es aus der Sicht der Theologen der neopatristischen Synthese so dringend notwendig ist, die falsche Trennung zwischen wissenschaftlicher Theologie und dem Leben der Kirche zu überwinden und ihre Einheit wiederherzustellen. Diese Einheit von Theologie und Leben der Kirche ist der Ermöglichungsgrund für eine kreative Rückkehr zu den Vätern. Sie allein kann die Kontinuität in der Wahrheit wahren und damit gewährleisten, dass die Kirche nicht von der Wahrheit der Orthodoxie abweicht. Die Übereinstimmung mit der Tradition der Kirche ist deshalb auch das Kriterium für die Unterscheidung der Geister im Umgang mit den Herausforderungen der eigenen Zeit, z.B. beim Prüfen moderner Philosophie.116

»Nicht darin liegt die Überwindung des westlichen Ärgernisses für die orthodoxe Theologie, dass man die westlichen Ergebnisse ablehnt oder gar umstößt, sondern darin, dass man sie überwindet und in neuer schöpferischer Tätigkeit übertrifft. Nur die schöpferische Rückkehr zu den eigenen und alten Tiefen wird für den orthodoxen Gedanken selbst ein echtes 'Gegengift' gegen die offenen und verborgenen oder noch gar nicht erkannten sogenannten 'westlichen Vergiftungen' sein. Die orthodoxe Theologie ist berufen, auf die westlichen Fragen aus den Tiefen ihrer ununterbrochenen Erfahrungen zu antworten und den Schwankungen des westlichen Gedankens die unveränderliche Wahrheit der väterlichen Orthodoxie gegenüberzustellen«117

Als beispielhaft für eine solche Synthese gelten die griechischen Kirchenväter. Ihnen ist es gelungen, die biblische Botschaft in ihrer existentiellen Bedeutung für das Leben des Menschen vor der Herausforderung und in den Begriffen der hellenistischen Philosophie auszudrücken. Hierfür hat Florovsky den Begriff des »Christlichen Hellenismus« geprägt, den er bereits beim Ersten Theologischen Kongress 1936 ins Gespräch brachte. Sein Vortrag »Patristics and Modern Theology« mündet deshalb in den Appell: »Laßt uns griechischer sein, um wirklich katholisch, um wirklich orthodox zu sein.«118 In der Rezeption der Neopatristischen Synthese in Griechenland, vor allem auch in der Theologie von Ioannis Zizioulas, wird der Begriff des »Christlichen Hellenismus« weiter ausgearbeitet und erhält besonderes Gewicht. Allerdings bot er sich auf dem Hintergrund der speziellen Beziehung von religiöser und nationaler Identität in Griechenland geradezu dazu an, um missverstanden, politisch ausgeschlachtet und missbraucht zu werden.

Die von Florovsky und anderen auf den Weg gebrachten Veränderungen wurden in der Folgezeit von so vielen orthodoxen Theologen und so weitgehend rezipiert, dass ihre Schwerpunkte inhaltlicher wie methodologischer Art heute weitgehend als Charakteristika »typisch orthodoxer« Theologie gelten.

II.Methodische Konsequenzen

Die von Florovsky und anderen erhobene Forderung nach einer Rückkehr zu den Vätern in der Form einer »neopatristischen Synthese« zieht entscheidende Konsequenzen auf der methodischen Ebene nach sich. Quellen und Grundlage des Theologietreibens sind nun nicht mehr nur wissenschaftliche theologische Abhandlungen. Vielmehr werden in Übereinstimmung mit dem Theologieverständnis der Väter auch Liturgie und liturgische Texte als Quelle für die und als Gegenstand der Theologie wiederentdeckt. Gleiches gilt für andere Texte der geistlichen Tradition.119

In der bis dahin vorherrschenden akademischen Tradition wäre es nicht denkbar gewesen, liturgische Texte als Basis einer systematisch-theologischen Abhandlung heranzuziehen. Dass heute eine maßgebliche Richtung innerhalb der gegenwärtigen orthodoxen Theologie sich als »Eucharistische Theologie« versteht, markiert deutlich den erfolgten Paradigmenwechsel. Von einem Unterkapitel der Sakramentenlehre, das vielleicht darüber hinaus noch innerhalb der praktischen Theologie behandelt wird, wird die eucharistische Erfahrung zum Kristallisationspunkt für Ekklesiologie, Christologie und Trinitätslehre. Liturgie wird zum integralen Bestandteil der Theologie, dem entscheidender Erkenntniswert für dogmatische Aussagen zukommt. Analoges gilt für die Ikonen als Ausdruck geistlicher Erfahrung. In der orthodoxen Theologie des 20. Jahrhundert wird eine Ikonentheologie entwickelt, die der Aussage der Ikone einen dogmatisch relevanten Rang zuerkennt.

Die Veränderungen in der Methodik zeigt auch ein Blick in die Bibliographien der theologischen Abhandlungen. Diejenigen Kirchenväter, deren Texte jetzt die Grundlage für neuere Ansätze bilden, wurden zuvor in der Tradition der »akademischen« dogmatischen Handbücher kaum zitiert. So erleben die Schriften von Pseudo-Dionysios Areopagita, Johannes Climacus, Maximus Confessor, Symeon dem Neuen Theologen u.a. eine wahre Renaissance. Textsammlungen aus der geistlichen Tradition wie die Philokalie oder die Apophthegmata Patrum rücken wieder in das Zentrum des Interesses und werden Gegenstand theologischer Wissenschaft. Eines der eindrücklichsten und bekanntesten Beispiele für diese Veränderung in der theologischen Methodik ist die zum Klassiker gewordene »Theologie der morgenländischen Kirche« von Vladimir Lossky, die das »in unserem Sinne 'theologische' Problem, die Frage der Gotteserkenntnis, anhand der Schriften vorwiegend asketischer Schriftsteller behandelt«.120 Wie noch zu zeigen ist, hat dieses Buch zudem auch einen wichtigen Beitrag zur erkenntnistheoretischen Reflexion des erwähnten Paradigmenwechsels geleistet.

 

Auch die Themen der frühen Arbeiten, (z.B. der Dissertationen) von Nellas, Yannaras und Zizioulas zeigen dieselbe Tendenz, sich solchen Theologen zuzuwenden, die zuvor kaum Beachtung gefunden haben: Zizioulas arbeitet über Maximus Confessor, Nellas über Nikolaos Kabasilas und Yannaras über Pseudo-Dionysios Areopagita.

III.Themenfelder orthodoxer Theologie des 20. Jahrhunderts

Neuerungen auf der Ebene der Methodologie stehen in Wechselbeziehung zu veränderten Inhalten, denen sich die Theologen der Neopatristischen Synthese zuwenden. An den Themenfeldern, die in der neueren orthodoxen Theologie dominieren, zeigen sich die Einflüsse der westlichen Theologie ebenso wie die Notwendigkeit, die methodische Neuorientierung weiter theologisch zu reflektieren und schließlich auch die Themen, die in den Texten der Kirchenväter und der geistlichen und liturgischen Tradition behandelt werden. Das Bemühen, die existentiellen Fragen des heutigen Menschen ernst zu nehmen und der modernen Welt vorurteilsfrei und offen zu begegnen hatte zusammen mit der grundsätzlichen methodischen Neuorientierung zur Folge, dass man sich in systematischen Arbeiten vor allem den großen, grundsätzlichen Themen zuwandte. Hier versuchte man, die zentralen Gedanken der Theologie der Kirchenväter neu herauszuarbeiten, um so wieder zu einer ursprünglicheren, »eigentlich orthodoxen« Theologie zu gelangen.121 Wenn im Folgenden einige dieser Themenfelder, die in der orthodoxen Theologie des 20. Jahrhunderts diskutiert werden, kurz skizziert werden, so geschieht dies nicht nur, um deutlich zu machen, in welchem theologischen Umfeld die Entwürfe von Panagiotis Nellas, Christos Yannaras und Ioannis Zizioulas entstanden sind. Es werden darüber hinaus bereits hier einige Grundzüge orthodoxer Theologie erkennbar, die oft als »typisch« oder unterscheidend orthodox charakterisiert werden.122

1.Pneumatologie

Ein wichtiges Themenfeld in der neueren orthodoxen Theologie ist die Pneumatologie. In der Thematik des »Filioque« (der trinitätstheologischen Frage nach dem Hervorgang des Heiligen Geistes aus Vater und Sohn bzw. nur aus dem Vater) bildet sie den traditionellen Konfliktpunkt zwischen der römisch-katholischen und der orthodoxen Kirche, der im unterschiedlichen Trinitätsverständnis in der Ost- und der Westkirche begründet liegt. Im 20. Jahrhundert erfährt die Pneumatologie aber nicht nur als kontroverstheologischer Streitpunkt Aufmerksamkeit, auch wenn durch die Ökumenische Bewegung auch diese konfessionellen Unterschiede den orthodoxen Theologen erneute Auseinandersetzungen und Stellungnahmen abfordern. Vielmehr sind es Entwicklungen innerhalb der westlichen Theologie des 20. Jahrhunderts, die den energischen Widerspruch orthodoxer Theologen hervorrufen. Insbesondere dem protestantischen Theologen Karl Barth wird von orthodoxen Theologen der Vorwurf gemacht, er errichte seine Theologie auf einer exklusiv christologischen Basis. Scharfe Kritik an seinem und an ähnlich gelagerten Entwürfen westlicher Theologie üben die orthodoxen Theologen Vladimir Lossky und Nikos Nissiotis. Es ist vor allem der russische (Exil-)Theologe Vladimir Lossky (1903-1958), der der westlichen Theologie »Geistvergessenheit« vorwarf.123 Der Grieche Nikos Nissiotis (1924-1986) greift die Kritik Losskys auf, führt sie weiter und prägt den Begriff des »Christomonismus« der Westkirche. Aus dem gleichen Grund, dass nämlich der Pneumatologie nicht die ihr zukommende Rolle eingeräumt werde, äußern orthodoxe Theologen auch Kritik am Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanums. Dort werde die Kirche zunächst christologisch hergeleitet und erst »danach«, sekundär, in pneumatologischer Hinsicht betrachtet. Gegenüber solchen westlichen Tendenzen fordern orthodoxe Theologen, die Pneumatologie müsse eine konstitutive Rolle innerhalb der Systematischen Theologie spielen. Sie dürfe nicht nur in Abhängigkeit von der Christologie gedacht werden. Lossky spricht sogar von einer speziellen »Ökonomie des Heiligen Geistes« neben der »Ökonomie des Sohnes«. Zizioulas bezeichnet Entwürfe dieser zugespitzten Ausprägung als »Extrempositionen« in der orthodoxen Theologie. In einer präziseren Herausarbeitung der Funktion der Pneumatologie und in der theologischen Verhältnisbestimmung zwischen der christologischen und der pneumatologischen Dimension sieht er ein wichtiges Desiderat der neueren orthodoxen Theologie.124 Zizioulas hat sich dieser Aufgabe selbst in einigen seiner Arbeiten gewidmet. Die Verhältnisbestimmung zwischen Pneumatologie, Christologie und Ekklesiologie ist in seiner Theologie zentral.125

Aufgrund der konstitutiven Rolle, die der Pneumatologie innerhalb der orthodoxen Theologie zukommt und ohne die auch das Konzept einer Neopatristischen Synthese nicht zu denken ist, ist sie von zentraler Bedeutung quer durch alle theologischen Traktate hindurch. Für eine orthodoxe theologische Anthropologie ist sie besonders im Blick auf die Ekklesiologie und die Sakramententheologie relevant, die geradezu als »Entfaltung« einer orthodoxen theologischen Anthropologie betrachtet werden kann.

2.Ekklesiologie

Die geforderte konstitutive Rolle der Pneumatologie innerhalb der Theologie wird deutlich in einem weiteren wichtigen Themengebiet der orthodoxen Theologie des 20. Jahrhunderts, der Ekklesiologie. Zizioulas bezeichnet sie sogar als »das theologische Thema unseres Jahrhunderts«.126 Dass die Ekklesiologie in einer Theologie, die sich so stark ihrer kirchlichen Tradition und Verortung bewusst ist, eine wichtige Rolle spielt, ist zunächst nicht ungewöhnlich. Neu von der Pneumatologie und deren zentraler Bedeutung für die Ekklesiologie her bedacht wurde die Ekklesiologie bereits in der russischen Theologie des 19. Jahrhunderts von Chomjakov und der Bewegung der Slawophilen. Unter dem Begriff der »Sobornost«, kennzeichnete sie eine eigene Strömung innerhalb der russischen Theologie, die jedoch schon bald innerhalb der orthodoxen Theologie (u.a. von Florovsky) heftig kritisiert wurde.127 Diskutiert wird in der neueren orthodoxen Theologie im Anschluss an die von Chomjakov angeregte Debatte vor allem das Verständnis der Katholizität der Kirche und in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Ortskirche und Universalkirche sowie das Verhältnis von Eucharistie und Kirche.

Das Verhältnis von Eucharistie und Kirche steht im Zentrum der Eucharistischen Ekklesiologie, die im 20. Jahrhundert von orthodoxen Theologen entfaltet wurde. Sie versteht Kirche zuallererst als eucharistische Gemeinschaft. Wenn sich die Kirche an einem Ort versammelt, um Eucharistie zu feiern, um durch den Empfang des Leibes Christi selbst zum Leib Christi zu werden, dann entsteht Kirche.128 Diese Eucharistische Ekklesiologie stützt sich auf eine lange biblische (vor allem 1 Kor 10,16f.) und patristische Tradition. Für ihre moderne Ausprägung steht zuerst der russische Theologe Nikolaj Afanas'ev (1893-1966). In der zur Eucharistie versammelten konkreten Einzelgemeinde sah er die katholische Kirche in ihrer Vollgestalt verwirklicht. Entscheidende Korrekturen erhielt die Eucharistische Ekklesiologie durch Alexander Schmemann und Joannis Zizioulas. Der lange Zeit in Amerika lehrende russische Theologe Alexander Schmemann gab der neueren orthodoxen Theologie durch seine Arbeiten auch in einem weiteren wichtigen Themenfeld, der Liturgie, wichtige Impulse. Auch Nellas, Yannaras und Zizioulas verdanken ihm wichtige Anstöße. Eng mit der Ekklesiologie und dem Liturgieverständnis verknüpft sind zudem weitere Fragen der Sakramententheologie und Amtstheologie, die durch den Ökumenischen Dialog neue Dringlichkeit erfahren.

Für die Anthropologie von Ioannis Zizioulas, Christos Yannaras und Panagiotis Nellas bildet die Liturgie als zentraler Ort der ekklesialen Erfahrung einen entscheidenden Bezugspunkt. Die systematische Durchdringung einer Eucharistischen Ekklesiologie steht im Denken von Ioannis Zizioulas in engster Verbindung mit dem Personsein des Menschen. Die Eucharistie ist gewissermaßen das »Herz«129 seiner gesamten Theologie. Von seinem personalistischen Denkansatz her reflektiert er die Ekklesiologie, wie er umgekehrt von seiner Eucharistischen Ekklesiologie her sein Personverständnis entwickelt.

3.Theologische Erkenntnislehre

Ein zentrales Thema gegenwärtiger orthodoxer Theologie ist weiterhin die Theologische Erkenntnislehre. In ihr bündeln sich die methodologischen und epistemologischen Fragen sowie die Fragen einer theologischen Hermeneutik, die sich aus dem von der Neopatristischen Synthese geforderten Paradigmenwechsel ergeben.

Angeregt durch die Wiederentdeckung der mystischen und asketischen Tradition erfolgte in der orthodoxen Theologie des 20. Jahrhunderts eine Rückbesinnung auf die alte Tradition der apophatischen Theologie.130 Erste Ansätze einer solchen apophatischen Theologie wurden bereits von Gregor von Nazianz entwickelt, später dann entscheidend von Pseudo-Dionysios Areopagita und Maximus Confessor herausgearbeitet und schließlich im 11. Jahrhundert im Zuge des Hesychastenstreits von Gregorios Palamas breiter entfaltet und systematisiert. Die theologische Richtung, die diese Tradition im 20. Jahrhundert wieder neu aufleben lässt, wird deshalb auch als »Neopalamismus« bezeichnet.

Es war vor allem Vladimir Lossky, der in seinem Buch »Die Theologie der morgenländischen Kirche« die Tradition der apophatischen Theologie neu aufgriff und in ihr die differentia specifica der ostkirchlichen Theologie gegenüber der westlichen sah. Entscheidend für das Verständnis der apophatischen Theologie ist, dass es ihr nicht um eine theologische Einzelfrage geht, sondern um eine grundsätzliche Haltung, in der Theologie betrieben wird. Noch immer wird dies von vielen orthodoxen Theologen als Spezifikum vor allem in Abgrenzung zu westlichen Entwürfen einer »Negativen Theologie« hervorgehoben. Ausgangspunkt der apophatischen Theologie ist die grundsätzliche Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Gotteserkenntnis. Kann der Mensch Gott erkennen? Und was ist das, was er in der mystischen Schau erkennt? Ist es Gott selbst? Oder etwas von Gott Unterschiedenes? Ist der Mensch angesichts der grundsätzlichen Alterität Gottes überhaupt fähig, Gott selbst erkennen? Die apophatische Theologie in der Tradition des Gregor Palamas antwortet auf diese Frage mit einer großen Skepsis gegenüber den Möglichkeiten des menschlichen Verstandes, Gott zu erkennen. Sie grenzt sich in diesem Punkt deutlich von westlichen scholastischen Konzeptionen ab. Gleichwohl hält sie daran fest, dass der Mensch unter bestimmten Voraussetzungen und nur durch das Gnadenwirken Gottes Gott erfahren kann. Der entscheidende Begriff zum Verständnis der apophatischen Theologie lautet daher Erfahrung.

In der Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Erfahrung unterscheidet die ostkirchliche Theologie in der Tradition des Gregorios Palamas zwischen der Ousia Gottes, die dem Menschen immer unzugänglich bleibt, und den Energien in Gott. Seinem Wesen (Ousia) nach ist und bleibt Gott unerkennbar. Um überhaupt für den Menschen erkennbar zu sein, muss Gott selbst sich dem Menschen durch sein Gnadenwirken mitteilen. Diese Mitteilung geschieht mittels der »Energien« Gottes. Nur sie sind der Erfahrung des Menschen zugänglich, wobei eine solche Erfahrung stets ein gnadenhaftes Geschehen bleibt. Die Unterscheidung zwischen der Ousia und den Energien Gottes und vor allem die Energienlehre selbst sind im Laufe der Tradition verschieden weiterentwickelt und ausdifferenziert worden.131 Hat sich ein Mensch durch entsprechende Vorbereitung und Askese für ein solches Gnadenwirken Gottes disponiert, so wird er in der mystischen Erfahrung umso tiefer die Größe und Unbegreiflichkeit Gottes erkennen. Im Bemühen, dem Erfahrenen sprachlichen Ausdruck zu verleihen, wird er bemerken, dass das Erfahrene seine sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten bei weitem sprengt. Um ihm wenigstens annäherungsweise Ausdruck zu verleihen, scheinen am ehesten negative Formulierungen geeignet.

 

Losskys Auffassung wurde in der Folgezeit breit rezipiert, so dass der Apophatismus heute als ein Grundzug ostkirchlichen Denkens gilt. Entscheidende Präzisierungen zu einer modernen orthodoxen theologischen Erkenntnislehre trug im 20. Jahrhundert der griechische Religionsphilosoph Nikos Nissiotis bei. 1965 erschien seine Arbeit » : To (»Prolegomena einer theologischen Erkenntnislehre: Die Unfassbarkeit Gottes und die Möglichkeit der Gotteserkenntnis«)132. Für den Philosophen Christos Yannaras bildet die Auseinandersetzung mit der Theologischen Erkenntnislehre seiner Tradition, der apophatischen Theologie und mit neuzeitlichen philosophischen Konzeptionen zu dieser Frage den expliziten Ausgangspunkt seiner theologischen Anthropologie. Der Erfahrungsbegriff ist in seiner Theologie zentral. Auch Zizioulas und Nellas stehen in der gleichen Tradition und greifen vielfach auf Lossky, Nissiotis und auch auf Yannaras zurück. An entsprechender Stelle wird daher noch mehrfach auf diese Thematik zurückzukommen sein.