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ERSTER TEIL
Hintergrund und Umfeld


Erstes Kapitel:
»Babylonische Gefangenschaft«
I.Die »Generation der 60er Jahre« in Griechenland

Panagiotis Nellas, Ioannis Zizioulas und Christos Yannaras sind im Abstand von nur wenigen Jahren in den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in Griechenland geboren. Sie werden zur Theologengeneration der » (»Dekaetia tis Exinta«) gezählt, zur »Generation der 60er Jahre«, die unter dieser Bezeichnung zu einem feststehenden Begriff in der griechischen Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts geworden ist.32 Diese Generation hat die griechische Theologie maßgeblich durch ihren Versuch geprägt, die Missstände zu überwinden, die sie in der orthodoxen Theologie und Glaubenspraxis ihrer Zeit wahrnahm. Sie steht für eine geistliche und theologische Neuorientierung angesichts der Herausforderungen der Gegenwart, die gerade in der radikalen Rückkehr zu den Quellen der eigenen Tradition vollzogen werden soll.33 Das Wirken dieser Theologen markiert einen bedeutsamen Einschnitt, ja einen Umbruch und Neuaufbruch innerhalb der griechischen Theologie, der sie bis in die Gegenwart nachhaltig bestimmt. »Es scheint, es gibt keinen Bereich in der heutigen theologischen Wirklichkeit, der nicht den Stempel der Theologengeneration der 60er Jahre trägt.«34

Wegen der grundlegenden Veränderungen, die sie in die neuere orthodoxe Theologie einbrachte, wird ein Teil dieser Generation mit Christos Yannaras als einem ihrer prominentesten Vertreter auch als »Neo-Orthodoxie» bezeichnet.35 Diese Bezeichnung ist teils positiv, teils negativ konnotiert und wird oft recht undifferenziert, mal theologisch, mal politisch verwendet. Dass der Begriff der » Neo-Orthodoxie« in so vieldeutiger Weise verwendet wird und nicht nur eine theologische Strömung bezeichnet, weist auf ein bedeutendes und charakteristisches Merkmal der Bewegung innerhalb der Orthodoxie hin, das mit der Generation der 60er Jahre in Gang kommt. Die neue Hinwendung zur Orthodoxie bleibt nicht auf Theologenkreise beschränkt, sondern wird auf breiter Basis auch in Künstler- und Intellektuellenkreisen übernommen.36 Nicht zuletzt aufgrund seiner heiklen politischen Implikationen, die sich oftmals von den theologischen Grundanliegen weit entfernen, ist der Begriff der Neo-Orthodoxie recht problematisch und in der Sache für die Bezeichnung der Theologengeneration der 60er Jahre wenig hilfreich.

Dass mit dieser Theologengeneration jedoch etwas entscheidend Neues, in der griechischen Theologie vorher so nicht Dagewesenes beginnt, ist unbestritten. Der griechische Theologe Athanasios Papathanasiou, der selbst der Schülergeneration der 'Generation der 60er Jahre' angehört, wendet allerdings ein, es sei falsch, »den Eindruck zu erwecken, mit den 'Sechziger Jahren' bräche in Griechenland die Orthodoxie an«.37 Auch Papathanasiou konstatiert jedoch, dass mit der »Generation der 60er Jahre« der Aufbruch ( - Exodus) weg »von der bisherigen Pseudomorphose«38 der Orthodoxie anbreche. Aber auch ein solcher Aufbruch fällt nicht plötzlich vom Himmel. Er ist eingebettet in Entwicklungen, die ihm den Weg gebahnt haben und zum Teil auch schon deutlich früher einsetzen. Zudem verlaufen neue und alte Strömungen durchaus auch noch zeitgleich nebeneinander her.

Als griechische Theologen des 20. Jahrhunderts sind Nellas, Yannaras und Zizioulas in einem ähnlichen theologischen und gesellschaftlichen Umfeld aufgewachsen. Sie sind ähnlichen Einflussfaktoren ausgesetzt, die sie, wenngleich in unterschiedlichem Maße, prägen.39 Zunehmend haben sie selbst auch Einfluss auf dieses Umfeld ausgeübt und die theologische Landschaft Griechenlands mitgestaltet. Einige dieser Einflussfaktoren sollen im Folgenden skizziert werden. Die Darstellung beschränkt sich dabei – der systematisch-theologischen Themenstellung dieser Arbeit folgend - auf einige hierfür relevante Punkte. Eine umfassende Darstellung der Theologiegeschichte ist ebenso wenig angezielt wie eine Darstellung der neueren und neuesten Geschichte Griechenlands oder eine eingehende Gesellschaftsanalyse. Auch wenn derartigen Fragen im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter nachgegangen werden kann, ist vorab auf die Wichtigkeit gerade des politischen und gesellschaftlichen Umfeldes für ein adäquates Verständnis der Theologengeneration der 60er Jahre zumindest ausdrücklich hinzuweisen, - nicht nur weil das Umfeld die Theologie eines jeden Theologen und gerade auch seine Anthropologie immer deutlich mitprägt, zumal dann, wenn dieser, wie dies für Nellas, Yannaras und Zizioulas sicherlich zutrifft, ein politisch denkender Mensch ist. Im griechischen Kontext ist über dieses selbstverständliche Faktum hinaus die enge Verbindung von nationaler und religiöser Identität zu bedenken, die in dem bekannten Schlagwort »Grieche sein bedeutet, orthodox zu sein« zum Ausdruck kommt. Die Frage, was es bedeutet, griechisch zu sein und orthodox zu sein, stellt sich für Griechinnen und Griechen sowohl aufgrund der geographischen und kulturellen Lage Griechenlands zwischen Orient und Okzident als auch auf dem Hintergrund einer bewegten Geschichte mit langen Zeiten der Unterdrückung mit besonderer Brisanz.

In Erinnerung zu rufen ist die unruhige Geschichte des noch jungen griechischen Nationalstaats im 20. Jahrhundert, sein intensives Ringen um die eigene Identität bis in die Gegenwart hinein. Zum Erfahrungshintergrund der Theologengeneration der 60er Jahre gehört die Besatzung Griechenlands zuerst durch die Italiener, dann durch die Deutschen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges, während der die Bevölkerung ganzer Dörfer grausam ermordet wurde. Direkt nach Abzug der deutschen Truppen brach dann ein verheerender Bürgerkrieg zwischen Monarchisten und Kommunisten aus.40 Sehr prägend wirkte schließlich noch die Zeit der Militärdiktatur 1967-1974, in der die Kirche auf ausgesprochen problematische Weise mit den politischen Machthabern paktierte. Die negativen Folgen dieser Zusammenarbeit sind bis in die Gegenwart spürbar.

Zu bedenken sind weiterhin die rasanten wirtschaftlichen Entwicklungen in Griechenland seit den 60er Jahren und die damit verbundenen gesellschaftlichen Umbrüche. Die Frage nach dem Verhältnis von nationaler und religiöser Identität, nach dem Verhältnis von Staat und Kirche, oder dem politischen Einfluss der Staatskirche bleiben bis heute in Griechenland sehr virulent. Sie werden umso virulenter in einer Zeit, in der die früher weitgehend vorhandene Homogenität der Gesellschaft immer weniger vorausgesetzt werden kann. Öffentliche Debatten der vergangenen Jahre wie die Diskussion um die Eintragung der Religionszugehörigkeit in den Personalausweis oder um den Gottesbezug in der europäischen Verfassung zeigen dies deutlich.41 In neuerer Zeit ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auch die wirtschaftliche Krise Griechenlands zu nennen. Innenpolitische wie außenpolitische Faktoren trugen dazu bei, dass solche Fragen neue Aktualität erhielten. Die Kirche ist in Bezug auf politische Verflechtungen und ihr soziales Engagement neu angefragt. In der Diskussion über das Verhältnis Griechenlands zu seinen europäischen Bündnispartnern, die durch die Diskussion um den europäischen Rettungsschirm entfacht wurde, erhielt die Frage der nationalen Identität neue Brisanz.

II.Entwicklungslinien bis zum 20. Jahrhundert

Einen Markstein in der Entwicklung der neueren orthodoxen Theologie stellt der »Erste Kongress orthodoxer Theologie« dar, der vom 29.11. bis 06.12.1936 in Athen stattfand. Dort fasste der russische Theologe Georges Florovsky in seinem deutschsprachigen Vortrag die Thesen seiner zuvor in russischer Sprache veröffentlichten »Puti russkago bogoslovija« (»Wege der russischen Theologie«) zusammen42. Er trug darin seine kritische Sicht der orthodoxen Theologiegeschichte als Geschichte einer zunehmenden Entfernung und Entfremdung von ihren Ursprüngen vor. Florovsky bezog sich zwar vor allem auf die russische Theologie, viele der von ihm beschriebenen Entwicklungen lassen sich jedoch auch auf die gesamte orthodoxe Theologie übertragen. So ging der Vortrag des Athener Theologen Hamilkar Alivisatos auf dem gleichen Kongress in eine ganz ähnliche Richtung. Er sprach von einer »langen Periode äußeren Niedergangs, die ungefähr bis auf unsere Tage gedauert hat«43. Diese Periode lässt Alivisatos schon mit dem Schisma 1054 beginnen. Sie zeige sich auch in der Entfremdung der verschiedenen orthodoxen Teilkirchen voneinander. Wie Florovsky spricht auch Alivisatos von einer »Überfremdung« der östlichen Theologie durch die westliche. Diese bereits 1936 vorgetragenen Einschätzungen werden später mehr oder weniger zum Allgemeingut kritischer Selbstdarstellungen der orthodoxen Theologie.44 Griechische Theologen sehen insbesondere die griechische Theologie seit der Gründung des modernen griechischen Staates zunehmend kritisch. Florovskys Redeweise von der »Babylonischen Gefangenschaft«, in der sich die orthodoxe Theologie befinde, wird geradezu zum Schlagwort für die negativen Entwicklungen im Laufe ihrer Geschichte. Dennoch kommen Bemühungen, Auswege aus dieser »Gefangenschaft« zu finden, auch nach dem genannten Kongress in Griechenland zunächst nur sehr zögerlich in Gang.

 

Panagiotis Nellas, Christos Yannaras und Ioannis Zizioulas haben sich häufig zu den (Fehl-)Entwicklungen in der neuzeitlichen orthodoxen Theologie geäußert. Sie haben die Ausgangssituation analysiert, prägende Einflussfaktoren benannt und auch Reaktionen und Neuansätze beschrieben, die sie selbst in der Theologie ihrer Zeit wahrnahmen. Unterschiedlich sind allerdings Umfang, Stil und Ziel ihrer Äußerungen. Christos Yannaras setzt sich in nahezu allen seinen Veröffentlichungen intensiv mit dieser Thematik auseinander. Die bewusste Abgrenzung gegenüber westlichem Denken prägt seine theologischen und philosophischen Schriften ebenso wie seine politischen und gesellschaftskritischen. Ioannis Zizioulas schildert diese Entwicklungen vor allem unter theologiegeschichtlichem und ökumenischem Blickwinkel. Bei Panagiotis Nellas erfolgt die Auseinandersetzung eher indirekt und vermittelt im Zuge der Untersuchung einzelner Kirchenvätertexte und deren theologiegeschichtlicher Einordnung oder im Zusammenhang mit gesellschaftlichen oder pädagogischen Fragen seiner Zeit. Da sich also alle drei Theologen intensiv mit den theologiegeschichtlichen Entwicklungen ihrer Tradition auseinandergesetzt haben und diese Analysen den Hintergrund für ihr Denken bilden, wird in der nun folgenden Darstellung vorrangig auf die Darstellungen der drei Theologen selbst zurückgegriffen.45

Die Entwicklung der orthodoxen Theologie bis zum 20. Jahrhundert fasst Joannis Zizioulas im Anschluss an die Thesen Georges Florovskys in vier Punkten zusammen46:

1.Die Entwicklung nach dem Fall Konstantinopels im 15. Jahrhundert

Einen gewichtigen Einschnitt innerhalb der Geschichte der orthodoxen Theologie markiert der Fall Konstantinopels im 15. Jahrhundert.47 In Reaktion auf die veränderte politische Situation nach dem Fall Konstantinopels tritt die orthodoxe Theologie in eine Phase des Stillstands ein, die gekennzeichnet ist durch das Phänomen des Konservatismus (»il fenomeno del conservatorismo«)48, des bloßen Festhaltens am Überlieferten. Das wichtige und verständliche Anliegen, angesichts der veränderten politischen Situation unter nun erschwerten Bedingungen das Erbe der Väter bewahren, es »konservieren« zu wollen, geht einher mit einem Verlust an Kreativität. Verloren geht die Fähigkeit, dieses Erbe der Väter unter den veränderten Umständen der eigenen Zeit je neu auszulegen. Zizioulas verfolgt die Spuren dieses Konservatismus zurück bis in die Zeit des Johannes Damascenus (675-749), dessen »Darstellung des orthodoxen Glaubens« lange Zeit unhinterfragt die bindende Auslegung der Väter und Konzilientexte blieb. Allein Symeon der Neue Theologe, Gregorios Palamas und Nikolaos Kabasilas werden zu den wenigen Ausnahmen gezählt, denen die Fähigkeit zu einem lebendig-kreativen Umgang mit den Vätern erhalten blieb. Für weite Kreise der Orthodoxie wurde die Lehre der Väter mehr und mehr zu einem »kostbaren archäologischen Objekt« (»prezioso oggetto archeologico«). Durch die lange Zeit der ottomanischen Herrschaft hindurch waren es nicht die Universitäten, sondern vornehmlich die Klöster, die als Wächter über die patristische Literatur fungierten. Die sorgfältige Bewahrung des hochgeschätzten Erbes lag somit in den Händen des Mönchtums, damit jedoch immer weniger beim gesamten Volk. Mit dieser »Musealisierung« der Kirchenväter schwand zunehmend der lebendige Bezug der Nicht-Fachleute zur Theologie der Väter. Durch die außerdem auch insgesamt wachsende Distanz zwischen Mönchtum und Laien wurde diese Tendenz noch verstärkt. Die Lehre der Kirchenväter war zwar weiterhin hoch angesehen und geschätzt, verlor jedoch mehr und mehr an Lebensbezug.

2.Übernahme scholastischer Methodik

Zeitgleich mit diesen Entwicklungen im Umgang mit der patristischen Tradition treten orthodoxe Theologen stärker in Kontakt mit westlicher Theologie und übernehmen in der Folgezeit immer mehr deren Fragen und Methoden. In der Übernahme der scholastischen Methodik konzentriert sich die orthodoxe Theologie darauf, Antwort auf Fragen zu geben, die sie von der westlichen Form, Theologie zu betreiben übernimmt, ohne dass die westliche Problematik selbst hinterfragt würde.49 Es sind also häufig der Orthodoxie ursprünglich fremde Fragestellungen, mit denen sich die orthodoxe Theologie jetzt auseinandersetzt. Zentrale Inhalte der Vätertradition werden im Gegenzug hierdurch in den Hintergrund gedrängt. Die Kirchenväter dienen dabei als »literarische Quelle«, die in theologischen Debatten herangezogen wird, um die Problematik und die Interessen der westlichen scholastischen Theologie. Infolge dieser Ausbildung einer »orthodoxen Scholastik« stellt sich eine zunehmende Distanz zwischen Theologie und Liturgie, bzw. zwischen der Theologie und dem Leben der Kirche ein. Die ursprüngliche Einheit von lex orandi und lex credendi wird brüchig. In der liturgischen Praxis und der geistlichen Erfahrung bleibt die Vätertradition allerdings gewahrt.50

3.Konfessionalisierung

Die weiteren Entwicklungen im Westen ließen in der Folgezeit durch die Kontakte orthodoxer Theologen mit westlichen Kollegen wiederum eine neue Situation entstehen, in der sich die oben gezeigten Tendenzen weiter verfestigen. Im Zuge der zunehmenden Konfessionalisierung im Westen sieht sich die östliche Theologie in der Zeit während und nach der Reformation herausgefordert, zu den im Abendland diskutierten Streitfragen ebenfalls Stellung zu beziehen. In ihrem Bemühen, eine eigene konfessionelle Identität herauszubilden, nimmt sie die im Westen aufgekommenen Fragestellungen und Methodik auf und bemüht sich eine eigene Antwort zu formulieren. Dabei versucht sie inhaltlich zumeist eine Mittelstellung zwischen den römisch-katholischen und den protestantischen Standpunkten einzunehmen.

»In der Not, in der er sich befand, sich irgendwie zu der fortlaufenden Debatte zwischen Katholiken und Protestanten verhalten zu müssen, verfasste der Osten in dieser Zeit seine eigenen 'Bekenntnisschriften'. Er übernahm dabei völlig kritiklos die Problematik, die der Westen von der mittelalterlichen Scholastik geerbt hatte, und versuchte, den Protestanten zu antworten, in dem er römisch-katholische Argumente gebrauchte, und umgekehrt51

Beispiele solcher orthodoxer Bekenntnisschriften sind die Werke der von der römisch-katholischen Scholastik beeinflussten Theologen Petrus Mogilas (1596-1647) und Dositheus von Jerusalem (1641-1707). Eher von der protestantischen Theologie beeinflusst zeigen sich hingegen die von Kyrillos Lukaris (1570-1638) und Metrophanes Kritopoulos (1589-1639).52 Diese Schriften bereiten den Weg für einen orthodoxen Konfessionalismus, der die orthodoxe Theologie über Jahrhunderte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägen sollte.53 Eine Reaktion auf diese Form der Theologie manifestierte sich im Russland des 19. Jahrhunderts in der Bewegung der »Slawophilen«, deren bedeutendster Repräsentant der Laientheologe A. Chomjakov ist. Sie versuchte bestehende Polarisierungen in der orthodoxen Theologie zu überwinden und zu einer ursprünglicheren Orthodoxie zurückzufinden. Allerdings geschieht dies um den Preis anderer Polarisierungen vor allem der zwischen Ost und West.54

4.Ausbildung einer akademischen Theologie

In der Zeit der Übernahme der scholastischen Methodik und der Ausbildung eines orthodoxen Konfessionalismus kommt auch in den Ostkirchen zunehmend die Idee einer »akademischen Theologie« auf. Diese Entwicklung der Theologie zum akademischen Lehrfach hat Florovsky am Beispiel Russlands aufgezeigt und kritisiert. Im 19. Jahrhundert vollzieht sie sich in ähnlicher Weise in Griechenland. Nach der Befreiung Griechenlands von der Türkenherrschaft und der Gründung des neuzeitlichen griechischen Staates wird 1837 die Athener Universität gegründet. Ihre Theologische Fakultät wird exakt nach dem Vorbild deutscher theologischer Fakultäten eingerichtet.55 Auch die zweite große theologische Fakultät Griechenlands in Thessaloniki wurde noch hundert Jahre später mit der gleichen Fächeraufteilung und dem gleichem Studienprogramm errichtet.56 Dass sich bei beiden Fakultätsgründungen weder seitens der Kirchenleitung noch seitens der Theologen Bedenken oder gar Widerspruch gegen die Kopie westlicher Ausbildungsordnungen regte, wird von Yannaras und Zizioulas als Zeichen dafür gewertet, wie stark in jener Zeit die Trennung der Theologie vom Leben der Kirche und die kritiklose Übernahme westlichen Denkens in die orthodoxe Kirche Einzug gehalten hatte.

Dass die universitäre Theologie nach wie vor auf diese – der orthodoxen Theologie eigentlich unangemessene - Weise strukturiert ist, wird denn auch als wesentlicher Grund dafür gesehen, dass die »babylonische Gefangenschaft« der orthodoxen Theologie bis weit in das 20. Jahrhundert hinein noch nicht überwunden ist. Spezialisierung und Konfessionalismus nennt Zizioulas noch 1980 als die beiden größten Probleme der orthodoxen theologischen Fakultäten.57 Aus der »theologia« der Kirchenväter ist eine akademische Disziplin geworden, deren »Ort« nicht das Leben der Menschen, sondern die Universität ist. Theologie wird zur Wissenschaft, die zergliedert ist in Disziplinen wie Dogmatik, Exegese, Historische Theologie und Moraltheologie. Diese werden von hochspezialisierten Fachvertretern gelehrt, die oft kaum die anderen theologischen Disziplinen, geschweige denn andere Wissenschaften im Blick haben.

Als Musterbeispiele einer so geprägten orthodoxen Theologie gelten die dogmatischen Handbücher von Christos Androutsos und Panagiotis Trembelas, die noch lange Zeit als Standardwerke galten. Für Yannaras ist Androutsos die »Inkarnation aller möglicher westlicher Einflüsse«.58 Die vernichtende Kritik der Generation der 60er Jahre an den Werken von Androutsos und Trembelas erstreckt sich auf inhaltliche wie auf methodische Punkte, auf Einzelfragen wie auf Grundannahmen. Glaube werde, so der grundlegende Vorwurf von Yannaras, Zizioulas und anderen, einseitig als »intellektueller Prozess« betrachtet. Ein solches Denken gehe davon aus, der durch die Gnade erleuchtete Verstand des Menschen sei in der Lage, die von Gott offenbarte Wahrheit in den tradierten Formeln und Dogmen einzusehen und anzunehmen. Die Akzeptanz bestimmter Prämissen führe zur Akzeptanz der einzelnen Glaubenssätze. In einem Prozess der »Subskription« werde diese von der Zeit der Apostel an über die Konzilien festgelegte und tradierte Lehre von Generation zu Generation übernommen. Der Theologie falle dann die Aufgabe zu, die Voraussetzungen zu systematisieren. Dabei komme der exakten Formulierung sehr große Bedeutung zu, die geistliche Erfahrung spiele hingegen kaum eine Rolle. In einer solchen als »rationalistisch« verurteilten Glaubensauffassung, die mit einem Defizit an Erfahrung einhergehe59, bündeln sich nach Yannaras, Nellas und Zizioulas alle negativen Entwicklungen der neuzeitlichen orthodoxen Theologie. In ähnlicher Weise lassen sie sich an jeder theologischen Einzelfrage aufzeigen60 und jeweils auf dieselben theologischen Defizite zurückführen. Yannaras beklagt zudem den Mangel an Dialog- und Kritikfähigkeit in der wissenschaftlichen Theologie Griechenlands und das Fehlen einer entsprechenden Diskussionskultur, etwa in der Form wissenschaftlicher theologischer Zeitschriften.61

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Nach dem Urteil der Theologengeneration der 60er Jahre ist die Situation der orthodoxen Theologie Griechenlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet durch die Isolation einer spezialisierten und konfessionalistischen akademischen Theologie,

•die sich in Einzelfragen verliert,

•die kaum Bezug zu den existentiellen Lebensfragen heutiger Menschen hat,

•die jeden lebendigen Bezug zu ihrer eigenen patristischen Tradition verloren hat,

•weil sie sich in der Übernahme fremder Fragestellungen und Methoden

•vom Leben und der mystischen Erfahrung der Kirche getrennt hat

•und so die ursprüngliche organische Einheit von Liturgie und Theologie aufgegeben hat,

wodurch die Einheit von lex orandi und lex credendi nicht mehr gewahrt ist.62