Weltwissen der Siebenjährigen

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Zu viel? Was möchten Sie von der Liste streichen?

Auch wenn viele Gesprächspartner von dieser Fülle überwältigt waren, fiel es ihnen zu ihrer Verblüffung schwer zu entscheiden, welche dieser Erfahrungen, Kenntnisse im Einzelnen überflüssig, verzichtbar wären. Gelegentlich kam dann der Vorschlag, zusammenzutragen, was den Siebenjährigen erspart bleiben sollte, was in einem Bildungskanon für die ersten Jahre fehlen kann, was auf später verschoben werden sollte. Zeitökonomie, das Konzept »Zeitverschwendung« wurden genannt. Die Kindheit soll die Zeit der nach vorn offenen Zeit sein! Als weiteres Wissen, mit dem man Kinder in ihren frühen Jahren nicht belasten sollte, wurde von einigen Gesprächspartnern die Abtreibung genannt. Phantasien über »unerwünschte« Kinder will man ihnen ersparen. Und in der Vorschulzeit, meinten die meisten Gesprächspartner, sollte es das Privileg der Kinder sein, nicht zwischen »Du« und »Sie« unterscheiden zu müssen.

Kanon-Bildung

Mit der zweiten Liste, nach dreijähriger Recherche, sind wir mitten im Problem: Was wäre heute ein Kanon für Bildungserfahrungen in den frühen Jahren? Brauchen wir einen solchen Kanon?

Die erste Liste war eine Geste mit leichter Hand, unfertig, ein Anstoß. Exemplarisch, eine Skizze, sagten wir den Gesprächspartnern. Stehen wir mit der zweiten Liste nun mit einem Fuß auf dem Terrain empirischer Sozialforschung? Das Netz wurde weit ausgeworfen. Hier spricht nun nicht mehr eine kleine Gruppe von Eltern, ein kleine Gruppe von Erziehern auf einem Workshop. Jetzt ist die Zahl der Beteiligten angewachsen auf die Besetzung eines mittleren Vortragssaals. Hat die zweite, die erweiterte Liste deshalb mehr Gewicht für einen Kanon unverzichtbarer Bildungsgelegenheiten? Hätte sie es umso mehr, wenn immer weitere Gesprächspartner in die Recherche einbezogen würden? Gegen Ende unserer Recherche kam gelegentlich von unseren Gesprächspartnern der Vorschlag, die Liste ins Internet zu stellen. Noch weiter zu sammeln … weltweit…

Ich neige stattdessen dazu, die Frage immer wieder zurückzuholen, im Gespräch immer wieder neu anzusetzen, mit nur wenigen Beispielen für Weltwissen, und dann dem Lauf zu folgen, den die Gesprächspartner einschlagen. Das eigenaktive, das seine Erkenntnis selbst konstruierende Kind ist das neue Leitbild für Lernprozesse in frühen Jahren – aber Erwachsene sind darin nicht anders als Kinder: Wir wollen selbst denken, selbst die Leerstellen füllen, selbst den Kanon der frühen Bildungsjahre neu erfinden können. Lernen ist im weitesten Sinn ästhetisches Lernen – von Filmen erinnert man vor allem die Bilder, die man selbst gemacht hat. Interessant sind für uns vor allem die Gedanken und die Absichten, die wir selbst entwickeln.

Die zweite, die erweiterte Liste, ist in diesem Sinn nicht »vollständiger« als die erste, und eine durch Tausende von Internet-Rückmeldungen weiter verlängerte Zusammenstellung von Bildungsbeispielen wäre keine »zuverlässigere« Grundlage für einen Kanon.

Wie kann ein Kanon für die frühen Jahre aussehen?

Wir verlassen kurz die Bildungsdiskussion im Übergang zur Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Wir schauen uns einen klassischen Kanon an, entstanden im 17. Jahrhundert nach dem Dreißigjährigen Krieg, ein bis weit ins folgende Jahrhundert, bis in die Goethezeit beliebtes Bilderbuch und Schulbuch für den systematischen Aufbau von Weltbildern und Lebenskenntnis in den Kindern der lesenden Stände: der Orbis Sensualium Pictus von Johann Amos Comenius.

Ein Kanon des Weltwissens: Der Orbis Sensualium Pictus von Comenius

Dem Bedürfnis nach Ordnung in der Welt, nach einem beruhigten Horizont für die Anschauung und die Fragen von Kindern hat Johann Amos Comenius eine klassische Form gegeben.8 Als der berühmte, weitgereiste Gelehrte 1658 gegen Ende seines Lebens sein »Buch der Bücher« für Kinder verfasste, führte er vermutlich einen Auftrag aus seiner eigenen Kindheit aus, einer Kindheit, die gleichermaßen geprägt war vom wüsten Chaos des Dreißigjährigen Krieges und der weltvertrauenden Bildung einer protestantischen böhmischen Sekte.

1592 in Ostmähren geboren, verlor Comenius mit zehn Jahren den Vater, mit elf die Mutter und zwei seiner Schwestern. Eine Tante in Südmähren nahm das Waisenkind auf. Über seine ersten Erfahrungen mit dem Lernen in der Schule einer protestantischen Sekte, der »Brüderunität«, gibt es keine Zeugnisse. Aber man weiß, dass diese Sekten Kindern mit ungewöhnlichem Respekt vor ihrem »eigenen Weg zu Gott« begegneten. Vielleicht waren das in seinem Aufwachsen die einzigen Jahre seines Lebens ohne Angst und Unordnung. Sie enden gewaltsam, als der Ort während des Dreißigjährigen Krieges überfallen und niedergebrannt wird. Zurück im Geburtsort, arbeitet er in der Mühle seines Vormunds. Drei Jahre bäuerliche, handwerkliche Tätigkeiten, eine andere Schule, deren Einfluss lebenslang auf Comenius wirkt. Das Tun mit den Händen, die praktische Intelligenz der Menschen niederen Standes, ihre Entfaltungsmöglichkeiten, die nicht zu ihrem Recht kommen, hat Comenius später, als anerkannter Gelehrter, als Berater von Fürsten, als Bischof der böhmischen Brüdergemeinde nie vergessen.

Im Alter von 16 Jahren darf Comenius endlich wieder eine Schule besuchen: drei Jahre Lateinunterricht und religiöse Unterweisung. Diese gelehrte Schule, keine Hilfe bei seiner Suche nach Welterkenntnis, ist für ihn eine schmerzliche Enttäuschung. Die Erinnerung verfolgt ihn lebenslang. »Von vielen Tausenden bin ich auch einer, ein armes Menschenkind, dem der liebliche Lebensfrühling, die blühenden Jugendjahre mit scholastischen Flausen verdorben wurden…« Das will er anderen ersparen: »Nur eines bleibt und eins ist möglich, daß wir die Hilfe, die wir unseren Nachkommen leisten können, wirklich leisten. Haben wir nämlich gezeigt, in welche Irrtümer uns unsere Lehrer hineingestürzt haben, so müssen wir nun zeigen, auf welchem Weg man diese Irrtümer vermeiden kann.«9

Die Energie für seinen lebenslangen Versuch des Ordnens, des enzyklopädischen Umkreisens der Welt auf der Suche nach einer Weltharmonie, die sich in einem harmonischen Kanon von Weltwissen abbilden würde, speist sich bei Comenius aus der Erfahrung von Chaos und Mangel. Da ist nicht die Erfahrung des Privilegs, des mühelosen Beschenktwerdens wie etwa in der Kindheit von Goethe. »Wer empfing, der möchte geben« – diese Selbstverpflichtung eines Erwachsenen im dankbaren Rückblick an eine auf Händen getragene Kindheit konnte kein Motiv von Comenius sein. Belagerung und Verzweiflung blieben wiederkehrende Erfahrungen in seinem frühen Mannesalter. 1622 muss er vor katholischen Truppen aus seinem böhmischen Heimatort Fulnek fliehen. Wieder ist aller Halt verloren: Die Stadt wird niedergebrannt, seine Frau und seine beiden Söhne sterben an den Folgen der Pest. Und, trostlos auch, seine gesamte Bibliothek wird vernichtet.

»Nur eines bleibt und eines ist möglich, daß wir die Hilfe, die wir unseren Nachkommen leisten können, wirklich leisten.« Der Wunsch nach Wiedergutmachung, nach Selbst-Heilung, stellvertretend an Kindern, bestimmt das Lebenswerk von Comenius. »Wartung der Geister«, nannte er es. Aus welchen Bildern und Erfahrungen nahm er die Kraft für die Vision eines selbstbestimmten, freudigen Lernens? Vielleicht aus den wenigen glücklichen Jahren in der Schule der böhmischen Brüderunität. Die Brüder stützten sich in ihrer Achtung des Kindes auf das Evangelium. Die Taufe von Kindern in frühen Jahren verstanden sie als eine nur vorläufige Einführung in die Gemeinde; im Laufe des Erwachsenwerdens sollte sie durch eine bewusste, selbstständige Entscheidung abgelöst werden.

Comenius verstand die Selbsterziehung und die Bildung von Kindern als eine dem Menschen gestellte Lebensaufgabe. Das hat er unerschütterlich gegen alle Demoralisierung während des Dreißigjährigen Krieges behauptet. Auf allen Stationen seines Lebens, an Universitäten, Höfen, in Holland, Deutschland, Italien, suchte er nach Ordnungsprinzipien, nach einem Halt in der Wissens-Explosion seiner Zeit. Comenius war ein gelehrter Mann, nicht nur mit der theologischen und philosophischen Tradition vertraut, sondern auch mit den neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit. Wie mit der Fülle des neuen Wissens umgehen? Wie dieses Wissen nutzen, ohne sich, enzyklopädisch, an die »Dinge zu verlieren«?

Das Labyrinth, eine barocke Metapher für den Zustand der Welt, erscheint auch als Labyrinth der Informationen. Durch scholastisches Pauken kann aber die verstörende Komplexität des Lebens während der Glaubenskriege nicht bezwungen werden, so kann keine Ordnung entstehen. Die »Geistesfolter« (Große Didaktik, 1985, 100), »Kopfmarterung« (Orbis Pictus, Vorrede), als die Comenius die Lateinschule erlebt hatte – und Folter war für einen Menschen seiner Zeit etwas sehr Konkretes–, schien ihm ein Beispiel für gottferne Gewalt am Menschen. Die »vernünftige Kreatur« Mensch könne so nicht behandelt werden, durch Zwang zum Gehorsam werde der Mensch zum Nicht-Mensch. »Gewalt sei ferne den Dingen« ist das Motto der Pansophie, seines Spätwerks.

Wissen war für Comenius zuallererst persönliches, in primären Beziehungen verankertes Wissen. Die Mütter hat er geschätzt, ihren Bildungsauftrag anerkannt. Nicht »Präzeptores und Prediger« sollen die ersten Lehrer der Kinder sein, sondern, so schreibt er ausdrücklich, »worin die Kinder geübet« werden, das könnten die Mütter am besten. In seiner Mutterschul (1626) beschreibt Comenius die Erziehungsaufgaben für die ersten Jahre.

Die Mutterschul ist gedacht für alle Kinder und Mütter aller Schichten, und es ist nicht wenig, was da aufgebaut werden soll. Das beginnt mit einer Grundhaltung des Kindes,

 

Temperantia, womit nicht nur die Befolgung der Zehn Gebote gemeint ist, sondern auch, was man heute Sozialverhalten nennen würde. Darüber hinaus soll die Mutter dem Kind Grundkenntnisse der »Künste«, der Artes, vermitteln. Als da sind:

Physicis: Unterschied zwischen Regen, Schnee, Unterschiede der Gewächse, der Tiere

Optica: Farben unterscheiden können

Astronomie: Sonne und Mond und einige Sterne kennen

Geographie: seinen Heimatort kennen und elementare geographische Bezeichnungen wie Feld, Berg, Fluss

Chronologie: Das Kind sollte Stunden, Tage, Wochen und Jahreszeiten unterscheiden können

Historia: sich an etwas drei oder vier Jahre Zurückliegendes erinnern können

Ökonomie–, Zugehörigkeit zum »Haus« beschreiben können (Verwandtschaftsbeziehungen, soziale Abhängigkeiten, wer gehört zum Gesinde und wer nicht)

Politica: Das Kind sollte eine Vorstellung von der Rolle eines Bürgermeisters oder Vogts haben, sich unter einer Bürgerversammlung etwas vorstellen können

Dialectice: den Unterschied zwischen Frage und Antwort kennen, auf eine Frage zielgerichtet antworten können (»nicht dass einer vom Knoblauch, der andere von Zwiebeln rede«)

Arithmetica: bis zwanzig zählen können, elementare Mengenlehre, elementare mathematische Operationen ausführen können

Geometrie: Erste Kenntnis der Maße sollten vorhanden sein

Musica: Jedes Kind sollte einige Lieder auswendig singen können

Poesia: einige Verse auswendig können.

Und zuletzt noch eine Ergänzung von Comenius, für die er offensichtlich keine lateinische Kategorie vorfand:

Handwerkliche Geschicklichkeit: etwas schneiden, zubinden, schaben, zusammenfalten können.

Comenius hatte eine hohe Meinung von Kindern – das alles traute er ihnen zu, das forderte er für sie, für die Kinder aller Schichten. In Gesprächen zwischen Mutter und Kind würde diese Bildung einfließen. Respektvoll sollte es dabei zugehen, das Gespräch begleitet sein von der »Höflichkeit der Gebärden«.

Fünfundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen der Mutterschul, nachdem Comenius durch Deutschland, England, Schweden, Ungarn, Holland gereist war, berühmt durch über hundert Veröffentlichungen, nach weiteren Schicksalsschlägen, nach Exil und Vertreibung und vielfältiger Anschauung von Unrecht auf der Welt, stellt der 56jährige 1658 dieser Erfahrung eine Welt-Ordnung, ein gemeinschaftsstiftendes Welt-Wissen entgegen: den Orbis Sensualium Pictus.

Es ist ein Kanon des Wissenswerten, der Realien, aber auch der Formen des menschlichen Zusammenlebens. Ein »kurzer Begriff der ganzen Welt und der ganzen Sprache« (Vorrede), nichts weniger. Ein enzyklopädischer Versuch, ähnlich wie Leibniz versucht hat, den möglichen Umfang des Wissens – in seinem Versuch sind es die Bücher – systematisch auf einen Kern zu reduzieren. (Leibniz schwebte ein Raum vor, eine Bibliothek, die in drei oder vier Räumen ein zweites Gedächtnis für den Gelehrten werden könnte. Dort wäre alles versammelt, dort würde er alles wiederfinden, was ihm entfallen war.)

Um den Raum des Wissens zu ordnen, holt Comenius Kinder zu Hilfe, er verdichtet das Weltwissen stellvertretend für sie. Die Aufmerksamkeit will er wecken, ihre Beobachtungsgabe schärfen. Nicht nur mit dem Kopf soll gelernt werden, Gemüt und Hände sind beteiligt. Wissen, Tun und Sprechen, dies zusammen sei das »Salz des Lebens«.

Anschaulich vor allem soll das sein, es soll berühren. »Die Menschen müssen so viel wie möglich ihre Weisheit nicht aus Büchern schöpfen, sondern aus Himmel und Erde, aus Eichen und Buchen, sie müssen die Dinge selbst kennen und erforschen und nicht nur fremde Beobachtungen und Zeugnisse darüber… alles soll wo immer möglich den Sinnen vorgeführt werden, was sichtbar dem Gesicht, was hörbar dem Gehör, was riechbar dem Geruch… wenn ich nur einmal Zucker gekostet, einmal ein Kamel gesehen, einmal den Gesang einer Nachtigall gehört habe… so haftet das alles fest in meinem Gedächtnis und kann mir nicht wieder entfallen.«10

Schule solle aus Bildern bestehen, hatte Comenius geschrieben. Die 150 Bilder im Orbis Pictus sind keine dem Inhalt untergeordneten Hilfsmittel, sie sind mehr als bloße Illustration. Die Bilder stellen die Dinge und Zusammenhänge vor, gleichwertig zum Text in deutscher und lateinischer Sprache. Bilder und Text steigern sich gegenseitig.

Alles für alle, auf alle erdenkliche Weise! Der Orbis Pictus soll das Buch schlechthin sein, ein Vademecum für die Kleinen und die Größeren, für die Jungen und Mädchen, für Kinder aller Schichten. Omnia omnes omnina! Alle können das Wesentliche von allem verstehen, auch Kinder auf ihre Weise, davon ist Comenius überzeugt.

Das Buch umkreisen sie, ihrem Alter gemäß. Die nicht lesekundigen Kinder nähern sich ihm mit den »Sinnen, den vornehmsten Führern des zarten Alters«. Auf der nächsten Entwicklungsstufe, »wenn sich das Gemüte … in die unkörperliche Betrachtung der Dinge erschwinget« (Vorrede), kommt die Sprache dazu, beim Vorlesen, dann die Schrift, und schließlich das Lateinische. Man gebe Kindern das wertvolle Buch »nach eigenem Belieben« zur Hand! empfiehlt Comenius, der Großherzige, der weitergeben, teilen möchte. Für sich allein sollen die Kinder sich »belustigen« können, der Orbis soll ihr erstes Bilderbuch sein (Vorrede, III, I). Aber auch ausmalen sollen sie die Bilder dürfen, »so sie Lust dazu haben, so sie keine haben, muß man ihnen Lust dazu machen« (Vorrede, IV). Die älteren Kinder kehren zu diesem Buch der Bücher zurück, um in der Muttersprache die Gegenstände und »Lebens-Verrichtungen« (Berufe) zu bezeichnen. Einige Jahre später kehren sie erneut zu dem Werk zurück, um die Bezeichnungen nun im Lateinischen zu lernen. So ist der Orbis auch ein erstes Beispiel für ein »Spiralcurriculum«.

Der Orbis Pictus ist mehr als eine Aneinanderreihung von wissenswerten Fakten. Für Comenius war er nichts weniger als »die Welt« selbst, Kanon, Welt-Ordnung für Kinder. Dieser Kanon existiert schon vor dem Orbis, meint Comenius, so wie es auch die Welt immer schon gibt. Man muss diesem bereits vorhandenen Kanon nur Gestalt geben, ihn zu Wort und Bild bringen, in dieser barocken Verschränkung von Bild und Schrift.

Der Orbis Pictus ist, verglichen mit anderen Schriften von Comenius, eher nüchtern, rationalistisch. Keine Visionen, keine Utopie, keine ungelösten Fragen. Er will die Welt beruhigen, er will der Welt für Kinder das Labyrinthische nehmen, ihre Komplexität reduzieren. Da ist er dann auch nicht immer auf der Höhe des Zeitwissens – wenn er z.B. erstaunlicherweise am ptolemäischen Weltbild festhält. Comenius will nicht stimulieren, es geht ihm nicht um mehr und noch mehr. Nicht der horror vacui ist sein Motiv, eher schon der horrorpleni, die Angst vor der Überfülle. Dieser Wunsch nach Reduktion macht ihn auch heute aktuell. Es geht Comenius nicht primär um mehr Wissen, es geht um Integration, um durch Wissen gestiftete Gemeinschaft. Heute ist das die Frage nach dem Zusammenhang der einzelnen Informationen. Das spricht der Orbis Pictus allerdings nicht an. Was die Welt zusammenhält, bleibt unausgesprochen, bleibt geglaubt.

Der Orbis Pictus beschreibt eine begrenzte, aber keine heile Welt. Das comenianische System ist nicht »geschlossen«. Lebenslang versteht sich Comenius als ein Lernender. »Ich danke meinem Gott, daß er mich mein ganzes Leben hindurch einen Mann der Sehnsucht hat sein lassen.«11

In seinen späten Schriften in Holland, in der Allgemeinen Beratung, an der er bis zu seinem Tod arbeitete, hat Comenius nicht nur Kindheit und Jugend, sondern das gesamte Leben des Menschen als Lernen, als eine Schule verstanden. Der alte Comenius spricht sogar von vorgeburtlichem Lernen, von »Anfängen der Weisheit im Mutterschoß«.

»Nicht aufzugeben, ein Leben lang, war das Schwerste«, schreibt Heydorn über Comenius. »Für den heutigen Leser ist die comenianische Gewissheit oft schwer begreiflich. Inmitten von Unruhe, am Rande der Vernichtung ist eine unendliche Ruhe, als wäre alles schon längst zurückgenommen. Das Erwartete ist schon gegenwärtig.«12

Was lässt Comenius so verwandt, so zeitgenössisch erscheinen, wenn wir heute das Weltwissen der Siebenjährigen umwandern? Ist es seine Stimme des unbedingten guten Willens, die durch die Jahrhunderte spricht? Nachgeborene sind empfindlich gegenüber pädagogischer Besserwisserei. Aber die Haltung von Comenius, sein ehrfürchtiger und sein sachlicher Umgang mit den Phänomenen der Natur und des Sozialen hat in späteren Epochen immer wieder gefallen. Über 250 Ausgaben des Orbis Pictus hat es über die Jahrhunderte gegeben. Goethe erinnerte sich gern an dieses Buch seiner Kindheit.

Es ist ästhetische Feinheit, es ist auch Eleganz im Orbis Pictus. Den Kupferstecher für die Vignetten hat Comenius sorgfältig ausgewählt. Sigmund von Birken, der frühbarocke Dichter, hat den lateinischen Text von Comenius in ein präzises und anmutiges Deutsch gebracht. Mit wenigen Worten entstehen Situationen des Lebens, aus der alltäglichen Umgebung wie aus einer ferneren Welt. Auch den Islam – »den mahometischen Glauben« – führt Comenius den Kindern vor. Nicht als exotische Welt, sondern tolerant, sachlich.

Weitere Themen: Das Schwimmen! Der Honig! Das Jüngste Gericht! Jede Miniatur ist für sich ein kleiner Orbis, ein Rundgang um Bild und Text. Der Ton ist erzählend, freundlich, heute würde man sagen: partnerschaftlich. Er setzt beim Kind Interesse und Verständnis voraus, aber er bemüht sich um Einfachheit, um Nähe zum Kind. Ein sanfter Pädagoge, das Kind soll nicht unnötig belastet werden. »Der aber zuwege bringt, daß von den Würzgärtlein der Weißheit die Schrecksachen hinweg bleiben, der hat etwas Großes geleistet« (Vorrede).

Bei abstrakteren Begriffen – wie »die Gerechtigkeit«, »die Müdigkeit« – werden Kinder in die emblematische Darstellungsform eingeführt: Hinter dem Sichtbaren erscheint ein anderer Sinn, die Wahrnehmung auf mehreren Ebenen wird geübt, sie werden angehalten, unter die Oberfläche zu schauen…


Doppelseite aus dem Orbis Pictus

Insgesamt sind alle Szenen knapp gehalten, manchmal nüchtern, nie pedantisch. Comenius ist nicht beschaulich, keine heile Welt malt er aus. Marter und Todesstrafen werden vorgestellt und das Jüngste Gericht. Sie gehören für ihn ebenso in den Horizont der Kinder wie der Buchladen und die Mondfinsternis.