Absprachen im Strafprozess

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3. Terminologie und Gang der Darstellung

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Begrifflich löst sich indes die hier gegebene Darstellung bis zum gewissen Grade vom Gesetz. Soweit dieses nun in § 257c den allgemeinen Begriff der Verständigung auf die Urteilsabsprache einzuengen scheint, sieht man sich auf den ersten Blick gezwungen, einen neuen Oberbegriff für alle verfahrensbeendende Verständigungen zu finden. Wir nehmen uns die Freiheit, die Verständigung, wie das Gesetz sie regelt, als Spezialfall der verfahrensbeendigenden Verständigung allgemein zu betrachten, was dem Gesetz nicht zu entnehmen ist, aber auch nicht im Widerspruch zu den Formulierungen in § 257c steht. Daher wird hier im Folgenden die Urteilsabsprache als Verständigung im Sinne des § 257c bezeichnet, während die Begriffe Verständigung und Absprache in einem allgemeinen Sinne als Synonyme gebraucht werden und einfach wertneutral den Vorgang der kommunikativ zustande gekommenen Übereinstimmung zwischen Verfahrensbeteiligten entweder über ein bestimmtes Verfahrensergebnis oder über einzelne Verfahrensschritte beschreiben.

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Nach der zuletzt genannten Distinktion richtet sich sodann der Aufbau des Werks im Übrigen: Wir behandeln einverständliche Verfahrensbeendigungen in den Teilen zwei und drei, ihre Folgen in Teil vier sowie konsensuale Verfahrensweisen (Absprachen), die auf andere, nicht verfahrensbeendende Maßnahmenentscheidungen gerichtet sind, in Teil fünf. In Teil sechs folgen einige Praxishinweise.

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Was aus dem Vorgängerwerk bleibt, ist die Ablehnung des Begriffs „Deal“. Urteile werden im deutschen Strafprozessrecht nach wie vor nicht ausgehandelt, und es werden auch keine vertragsähnlichen Vereinbarungen geschlossen. Vielmehr schlägt das Gericht in einer bestimmten Form eine bestimmte Verfahrensweise vor und die anderen Verfahrensbeteiligten stimmen zu. Begriffe, die an Vertragsmodelle allgemein oder gar an anrüchige, von der Rechtsordnung nicht tolerierte Formen des Leistungsaustauschs erinnern, sollten tunlich vermieden werden.

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Vollständig erledigt ist die allgemeine Befassung mit dem Phänomen der Urteilsabsprache sowie den schon länger von der StPO geregelten, dieser verwandten Arten konsensualer Verfahrenserledigung, aber auch mit diesen Hinweisen zur Terminologie jedoch noch nicht. Neben der pur rechtsdogmatischen Perspektive sollte sich der in der Praxis handelnde Strafjurist als Bürger eines demokratisch verfassten Rechtsstaats stets auch die Frage nach der ethischen Dimension seines Verhaltens stellen. Dafür spielt nicht alleine das Gesetz eine Rolle, sondern auch das rechtshistorische, rechtskulturelle und rechtsethische Umfeld, in dem sich der Einzelne bewegt. Die Forderung nach anständigem Verhalten aller Beteiligten rechtfertigt den Blick zurück (Wie hat sich die StPO eigentlich zu einer für „abgesprochene“ oder sonst von Konsens getragenen Verfahrensbeendigungen empfängliche Prozessordnung entwickelt?) wie auch nach vorne (Wie ist, speziell aus Sicht des Strafverteidigers einerseits, das Gebundensein an das geltende Recht, andererseits die Verpflichtung, die Interessen des Mandanten zu wahren, im Verhältnis zueinander zu sehen?). Auf diese beiden Gesichtspunkte sei im Folgenden, diesen ersten Teil abschließend, noch eingegangen.

Teil 1 Grundlagen: Für den Konsens, gegen den „Deal“ › C › II. Mutmaßliche Ursachen der Stärkung konsensualer Elemente im Strafprozess

II. Mutmaßliche Ursachen der Stärkung konsensualer Elemente im Strafprozess

1. Von der Vergeltung zur Prävention

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Fragt man nach den Ursachen der Entwicklung des Strafprozesses weg vom Konfrontativen hin zum Konsensualen spricht dabei zunächst manches für die Annahme, dass der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte Paradigmenwechsel in der Strafzwecklehre mit dem Siegeszug der präventiven Theorien nicht ohne Rückwirkungen auf die Art und Weise der Durchführung von Strafverfahren geblieben ist.[22]

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Unter dem Regime der zuvor herrschenden Vergeltungstheorien lag es nahe, das Strafverfahren als nicht-kommunikativen, nicht-konstruktiven, nicht auf Konsens ausgerichteten Vorgang zu begreifen. Schließlich ist die Perspektive der Vergeltungstheorie rückwärtsgewandt. Es geht nicht um zukünftige Entwicklungen, um Wirkungen der Verurteilung auf den Täter oder die Gesellschaft, sondern primär um das Ideal der Gerechtigkeit, um dessentwillen der in der Vergangenheit geschehene, individuell zurechenbare Rechtsbruch eine Übelszufügung zu Lasten des Zurechnungssubjektes nach sich ziehen muss. Aus diesem Verständnis heraus ist es folgerichtig, Wahrheitsfindung und strikte Grundsatztreue einschließlich der Wahrung der Formen, stets mit dem Ziel des möglichst gerechten Urteils, möglichst ohne Abstriche zu verwirklichen.

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Durch die Präventivtheorien wird die aufklärerische Sicht von der Notwendigkeit der Strafe selbst nach vollständiger Auflösung des Gemeinwesens nicht oder jedenfalls nicht mehr in völliger Konsequenz durchgehalten. Dafür rücken – je nach Spielart der jeweils vertretenen Lehre – Gesichtspunkte wie das Signal, das von Führung und Ergebnis des Strafverfahrens für die Gesellschaft ausgeht, die Einsicht des Täters in das Unrecht seiner Tat, sein „Nachtatverhalten“ und allgemein die Frage der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Bestrafung, die nur relativ zu bestimmten damit verfolgten Zwecken bestimmt werden kann, in den Vordergrund. Das dürfte auch für die Theorie der positiven Generalprävention gelten: Wenn die Straftat ein Skandalon darstellt, auf das zur Beruhigung oder Einübung in Normtreue reagiert werden muss, dann ermöglicht es zumindest ein justiz-alltägliches Verständnis dieser Strafzwecklehre, die Art und Weise der staatlichen Reaktion in Relation zu der konkret empfundenen Befindlichkeit der öffentlichen Meinung, aber auch der Verfahrensbeteiligten zu setzen. Zugespitzt: Straftheorien, in denen Gerechtigkeit ganz oder teilweise unter den Vorbehalt der Zweckmäßigkeit gestellt wird, begünstigen ein Strafverfahren, in dem Wahrheitsfindung auch unter Opportunitätsgesichtspunkten gesehen wird.[23] Dass diese Entwicklung längst nicht abgeschlossen ist, zeigt beispielsweise die im Jahr 2009 eingeführte Vorschrift § 46b StGB[24], nach der nicht nur Aufklärungs-, sondern auch Präventionshilfe strafmildernd berücksichtigt werden kann – und das nach der ursprünglichen Fassung dieser Vorschrift selbst dann, wenn sie im Zusammenhang mit ganz anderen als der aktuell verfolgten (vermeintlichen) Tat geleistet wird.

2. Das „Opfer“ als Prozesssubjekt

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Die Relativierung von Idealen wie Wahrheit und Gerechtigkeit zu Gunsten eher pragmatischer und zweckorientierter Betrachtungsweisen hat eine besondere Ausprägung auch in der Stärkung der Rolle der von Straftaten (mutmaßlich) betroffenen Personen gefunden, die heute vielfach in der StPO vorzufinden ist. Vor dem Hintergrund viktimologischer Studien ist in den letzten Jahrzehnten das „Tatopfer“ vom Rand deutlich mehr in das Zentrum des öffentlichen Bewusstseins und sodann auch des Strafprozesses und des Strafprozessrechts gerückt.

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Das zeigt sich neben anderem beispielsweise an § 46a StGB, dem so genannten Täter-Opfer-Ausgleich, der dem Beschuldigten die Möglichkeit eröffnet, durch Kontaktaufnahme mit dem (vermeintlich) Geschädigten sowie ein Bemühen um Wiedergutmachung eine mildere Strafe oder Straffreiheit zu erlangen. Es ist kein Zufall, dass in Folge der Einführung dieser Vorschrift einige Zeit danach auch § 153a geändert und die §§ 155a, 155b mit dem Ziel eingefügt wurden, eine Durchführung des so genannten Täter-Opfer-Ausgleichs in der Praxis zu erleichtern und zu fördern. Nach § 155a „soll“ die Staatsanwaltschaft sogar auf einen Ausgleich zwischen Verdächtigem und mutmaßlichem Opfer „hinwirken“.

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Es ist leicht zu sehen, dass die dahinter stehende Vorstellung (auch) darin besteht, das Strafverfahren könne die Bereitschaft des Beschuldigten fördern, auf sein „Opfer“ zuzugehen, und falls dies mit der Folge eines schiedlich-friedlichen Auseinandergehens gelinge, müsse der staatliche „Strafanspruch“ nicht mehr in der gleichen Schärfe durchgesetzt werden, wie dies ansonsten der Fall wäre.[25] Mit diesem Konzept sind ersichtlich auch eine Aufwertung des Gedankens des Rechtsfriedens und insgesamt eine weitere, partielle Anerkennung des Konsensgedankens für den Bereich des Strafprozesses verbunden.[26]

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Dies ist bis zu einem gewissen Grade verallgemeinerungsfähig: Je größer die Bedeutung ist, die dem Geschädigten im Strafverfahren zukommt, desto mehr hängen Ob und Wie der Strafe auch von dessen Interesse und seinem Willen ab. Wo also die Strafe ursprünglich gerade im Unterschied zu zivilrechtlichen Ansprüchen nicht der materiellen Kompensation, sondern der Bekräftigung des Rechts gegenüber dem Rechtsbrecher diente, soll heute auch das Opfer zufrieden gestellt werden. Damit aber erlangt die Frage, ob zwischen dem Beschuldigten und dem oder den Geschädigten Konflikt oder Konsens vorherrscht, im Strafprozess in mehrfacher Hinsicht Bedeutung, was natürlich nicht ohne Auswirkungen auf das Verständnis des Strafprozesses insgesamt bleibt.[27]

 

3. Problematische Ausweitungen von Strafbarkeitsbereichen

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Begünstigt wurde und wird die Neigung zum Verzicht auf die Durchführung des „klassischen“ Strafverfahrens weiterhin durch eine Fehlentwicklung des materiellen Strafrechts.

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Hier besteht immer noch und sogar in deutlich verschärfter Weise der Missstand, den Eberhard Schmidt schon im Jahre 1952 (!) beklagt hat.[28] Schmidt schildert in seiner Kommentierung zu § 153 zunächst, über Jahrzehnte hinweg seien gerade im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts ständig neue Straftatbestände, die der Sache nach aber Ordnungswidrigkeiten oder bloßes Verwaltungsunrecht darstellten, geschaffen worden. Er fährt sodann fort:

„StPO §§ 153 bis 154b sorgen dafür, dass sich die Verfolgungsbehörden und die Gerichte von der Bearbeitung bagatellarischer sowie solcher Angelegenheiten entlasten können, an deren strafrechtlicher Erledigung ein beachtliches Interesse vom Standpunkt deutscher Strafrechtspflege aus nicht besteht. So unentbehrlich das ist, darf nicht verkannt werden, dass die in den §§ 153 bis 154b StPO gefundene Lösung solange eine Halbheit darstellt, als nicht eine Generalbereinigung des Kriminalstrafrechts bis in die Tatbestände des StGB hinein von allem bloßem Verwaltungsunrecht, von allen Ordnungswidrigkeiten stattgefunden hat. Es unterliegt keinem Zweifel, dass auch nach dieser Generalbereinigung nicht zum strengen Legalitätsprinzip zurückgekehrt werden kann. In welchem Ausmaß aber dann noch das Legalitätsprinzip durchbrochen werden müsste, ist eine Frage, die hier nicht erörtert werden kann.“

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Heute, über fünfzig Jahre später, ist zu konstatieren, dass im Großen und Ganzen das Gegenteil der von Schmidt gewünschten „Generalbereinigung“ durchgeführt worden ist, und ein Ende ist nicht in Sicht. Nicht nur, aber besonders im Wirtschaftsstrafrecht, existiert heute eine Vielzahl von Straftatbeständen, bei denen schon im Regelfall – ganz zu schweigen von problematischen Fallkonstellationen in den jeweiligen Randbereichen – der für das Strafverfahren zu betreibende Aufwand in keinem auch nur entfernt angemessenen Verhältnis zum Unrechts- und Schuldgehalt und mithin zu dem zu erwartenden Verfahrensausgang steht. Zudem sind die Schutzgüter vielfach so unklar, dass sich Wissenschaft und Rechtsprechung schwer tun, jeweils die exakten Anwendungsbereiche zu bestimmen und damit klare Aussagen darüber zu treffen, welches eigentlich diejenigen Verbrechen im materiellen Sinne sind, gegen die das Strafrecht als ultima ratio des Rechts eingesetzt werden soll.[29] Damit dürfte übrigens auch zusammenhängen, dass viele gerade neu eingeführte oder mit der üblichen Ausweitungstendenz reformierte Straftatbestände sich in der Praxis recht selten tatsächlich in Gerichtsurteilen wieder finden.[30]

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Auch die höchstrichterliche Rechtsprechung trägt hier ein gewisses Maß an Mitverantwortung, weil der BGH in einigen Bereichen des Straf- insbesondere auch des Wirtschaftsstrafrechts für einzelne Tatbestände ständig neue Fallgruppen eröffnet und die Grenze zwischen bloß rechtswidrigem Verhalten, insbesondere reinen Vertragsverletzungen und strafbaren Handlungen zusehends verwischt wird.[31] Staatsanwaltschaften entwickeln zudem in der Praxis nicht selten die Tendenz, bisher höchstrichterlich nicht geklärte Fragen exemplarisch anhand geeigneter Fälle vor Gericht zu bringen, um so – auf dem Rücken der Beschuldigten – zur Rechtsfortbildung beizutragen.[32] Es liegt auf der Hand, dass die Beschuldigten vielfach daran interessiert sind, es nicht so weit kommen zu lassen und mithin konsensuale Ergebnisse innerhalb und außerhalb des Hauptverfahrens nicht selten deswegen gerade von den Verteidigern angestrebt werden, weil völlig offen ist, was der BGH am Ende eines mehrjährigen, öffentlichen, für den Mandanten mit zahlreichen Belastungen verbundenen Strafverfahrens in der jeweiligen Konstellation entscheiden würde. Dabei sind die Perspektiven der Beteiligten durchaus unterschiedlich, und bis zu einem gewissen Grade müssen sie es auch sein: Während Staatsanwaltschaft und Gericht die Tatvorwürfe in rechtlicher Hinsicht für begründet halten müssen, möglicherweise aber die Verkürzung der Beweisaufnahme oder die Schaffung von Rechtsfrieden anstreben, kann aus Sicht der Verteidigung die Urteilsabsprache gerade deswegen attraktiv sein, weil die materielle Rechtslage als unklar eingeschätzt wird. Die dem Gesetzgeber und auch der Rechtsprechung der Revisionsgerichte zuzurechnenden Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten bei der Beurteilung der jeweiligen Rechtsfragen, die in relativ vielen Verfahren im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts auftreten, dürften auch deswegen eine Mitursache für die Häufigkeit einvernehmlicher Verfahrensbeendigungen sein.

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Der von Eberhard Schmidt seinerzeit verwendete Begriff „Halbheit“ jedenfalls würde heute einen veritablen Euphemismus darstellen.

4. Vom Strafprozess zum Meta-Verfahren

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Die Neigung der Beteiligten zu konsensualen Verfahrensweisen wird schließlich, zumindest in Teilbereichen wie etwa dann im Wirtschaftsstrafrecht, im weitesten Sinne durch die massiv gestiegene Komplexität begünstigt, die Wirtschaftsstrafverfahren ab einer gewissen Größenordnung in der heutigen Informations- und Mediengesellschaft angenommen haben und die sie für die handelnden Personen nur noch schwer beherrschbar macht.

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Was hiermit gemeint ist, sei an einem Beispiel verdeutlicht: Wenn der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank von einer deutschen Staatsanwaltschaft bei einem deutschen Landgericht wegen Untreue angeklagt wird und sich in zwei langen Hauptverhandlungen verantworten muss, dann wird nicht mehr ausschließlich die Frage geklärt, ob unter vielen weißen ein schwarzes Schaf ausgemacht worden ist, ob also der Angeklagte schuldhaft einen Straftatbestand erfüllt und sich damit gegen den konsentierten Grundbestand der zentralen Werte unserer Gesellschaft gestellt hat, kurz: zum Verbrecher im materiellen Sinne geworden ist. Vielmehr werden Sachverhalte verhandelt, die bereits in tatsächlicher, erst recht aber in normativer Hinsicht nicht einmal mehr vom Fachpublikum, noch weniger von den beteiligten Journalisten und erst recht nicht von der Öffentlichkeit in ihrer Gesamtheit überhaupt noch vollständig überblickt und verstanden werden können. Zumindest in den Augen der Öffentlichkeit steht hier im Grunde auch nicht lediglich das Verhalten einzelner Personen auf dem Prüfstand. Vielmehr geht es um die Übernahme eines weltweiten Konzerns durch einen anderen, die Frage, ob und inwieweit Deutschland als Wirtschaftsstandort durch Adaption oder Abweichung von internationalen Gepflogenheiten im Aktien- oder Bilanzrecht oder auch nur in der Managementkultur geschwächt oder gestärkt wird. Es wird diskutiert, ob und inwieweit die Anklageerhebung, aber auch später die Zustimmung zur Einstellung des Verfahrens politisch gesteuert oder beeinflusst war oder sein sollte; Politiker geraten in den Sog größerer Wirtschaftsstrafverfahren, es kommt zu Rücktritten, es werden gesetzgeberische Aktivitäten gefordert und häufig als Reaktion auf einzelne Verfahren auch mit heißer Nadel umgesetzt, EU-Kommission oder US-Börsenaufsicht schreiten ein und vieles mehr.

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Kurz: Wo im klassischen Bild des Strafprozessrechts der Tatvorwurf in der Regel[33] klar umrissen, die Tatbestände für jeden einigermaßen gebildeten Bürger verständlich, die Öffentlichkeitswirkung des Verfahrens relativ beschränkt und seine Folgen im Wesentlichen auf den konkreten Fall eingrenzbar gewesen sein dürften, ist das Strafverfahren im Allgemeinen, die Hauptverhandlung aber im Besonderen, im Wirtschaftstrafrecht heute vielfach zu einem medial aufbereiteten, gesellschaftlichen Großereignis mit unüberschaubaren Ursachen und Wirkungen mutiert.[34] Auch aus diesem Blickwinkel ist es nahe liegend, dass die Beteiligten nach Auswegen suchen, und ein solcher besteht eben darin, das Verfahren entweder von vornherein unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu führen oder es unter Beschränkung auf seinen fassbaren Kern, der zumindest zwischen den Verfahrensbeteiligten auch einer auf sachliche Aspekte konzentrierten Kommunikation zugänglich ist, in einer kurzen, abgesprochenen Hauptverhandlung zu erledigen.

5. Zwischenfazit

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Die Aufzählung möglicher Ursachen ist sicher nicht vollständig. Es sollte aber schon jetzt deutlich geworden sein, dass die in der veröffentlichten Meinung zuweilen recht schlicht ausfallenden Ursachenbeschreibungen der Komplexität des Phänomens nicht angemessen sind. Insbesondere die verbreitete These, die Praktiker benähmen sich eben aus Unachtsamkeit, Bequemlichkeit oder Gleichgültigkeit daneben und müssten und könnten wie ungezogene Kinder durch ein Machtwort des Gesetzgebers oder der Rechtsprechung erzogen und buchstäblich auf den Weg des Rechts zurückgeführt werden, greift angesichts der Hintergründe der Entwicklung – ganz gleich, ob man diese begrüßt oder ablehnt – bei weitem zu kurz.

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Weitaus näher liegt die Annahme, dass die handelnden Strafjuristen in aller Regel schlicht bemüht sind, sich einerseits an die in vielerlei Hinsicht geänderten Verhältnisse anzupassen und andererseits nach Möglichkeit den Boden des Rechts nicht zu verlassen. Dass die auf staatlicher Seite handelnden Juristen immer mehr zur Verfahrensverkürzung per Verständigung neigen, verwundert im Übrigen auch deswegen nicht, weil nicht nur seit Generationen von Seiten des Gesetzgebers dem Postulat der „Prozessökonomie“ immer größere Bedeutung zugemessen worden ist, sondern auch analog hierzu die Geschwindigkeit der Erledigung von Rechtssachen für die Justizverwaltungen zu dem oder zumindest einem wesentlichen Kriterium bei der Beurteilung ihrer Beamten und damit zum bedeutenden Aufstiegskriterium geworden ist. Verteidiger wiederum finden oft nur schwer Alternativen zur Absprache, wenn es darum geht, Mandanten zufrieden zu stellen, die nicht um Freisprüche kämpfen, sondern kurze, kalkulierbare und aus ihrer Sicht tragbare Verfahrensverläufe und -ergebnisse erwarten. Wirtschaftlich wäre die Durchführung einer langwierigen und aufwändigen Hauptverhandlung dagegen für den Strafverteidiger oft lukrativer.

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Wer sich also mit der gestiegenen Bedeutung konsensualer Verfahrensweisen im Strafprozess auseinandersetzt, kommt kaum daran vorbei, zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass die Praxis des Strafprozesses sich nicht im luftleeren Raum entwickelt hat, sondern im Wesentlichen durch politische Vorgaben bestimmt ist, die ihrerseits gesellschaftlichen Entwicklungen, beispielsweise der in allen Lebensbereichen moderner Industriegesellschaften gestiegenen Bedeutung ökonomischer Betrachtungsweisen, aber eben auch gewandelten Vorstellungen von Zweck und Funktion des Strafrechts folgen. Das beinhaltet zwar für sich genommen natürlich noch keine Bewertung, und die Existenz der §§ 153 ff., 257c, 407 ff. stellt selbstverständlich keine Legalisierung oder auch nur Legitimation jeder Verständigung dar.[35] Das Bewusstsein von den oben skizzierten Zusammenhängen sollte aber immerhin dazu beitragen, das Phänomen der konsensualen Vorgehensweisen im Allgemeinen und der Urteilsabsprache im Besonderen nicht von vornherein aus einem verengten, vorurteilsbehafteten Blickwinkel zu betrachten und zu bewerten.

Teil 1 Grundlagen: Für den Konsens, gegen den „Deal“ › C › III. Erste praktische Konsequenzen der Bindung an das geltende Recht