Absprachen im Strafprozess

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Teil 1 Grundlagen: Für den Konsens, gegen den „Deal“ › C. Einordnung der Entwicklung

C. Einordnung der Entwicklung

Teil 1 Grundlagen: Für den Konsens, gegen den „Deal“ › C › I. Positionsbestimmung

I. Positionsbestimmung

1. Rechtspolitik, Rechtsdogmatik, Rechtsanwendung

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Wie eingangs erwähnt, kann man sich aus unserer Sicht auch nach Einführung der neuen gesetzlichen Regelungen mit dem VerstG nicht auf den Standpunkt zurückziehen, die Diskussion über grundsätzliche Fragen der Urteilsabsprache sei für die Praxis erledigt und nun müssten eben schlicht die neuen Regeln angewandt werden.

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Dies gilt zum einen, weil nach wie vor gewichtige Stimmen aus der strafprozessualen Literatur (insbesondere aus der Strafprozesswissenschaft) trotz Aufnahme der Urteilsabsprache in das Gesetz behaupten, diese sei mit der StPO im Übrigen nicht vereinbar[1]. Es ist nicht überraschend, dass diese Kritik auch nach dem Urteil des BVerfG[2] – zumindest in rechtspolitischer Hinsicht – aufrecht erhalten wird.[3] Nimmt man die Kritiker ernst – und das sollte man selbstverständlich tun – so kann man eigentlich an einer Urteilsabsprache als praktisch tätiger Strafjurist nur dann mitwirken, wenn man sich zuvor Rechenschaft darüber abgelegt hat, ob es überhaupt für die gesetzlichen Vorschriften einen legitimen Anwendungsbereich gibt oder ob man sich bei jeder Urteilsabsprache, wie dies teilweise behauptet wird, zwangsläufig in unauflösbare Konflikte mit zentralen Prinzipien des deutschen Strafprozesses begibt.

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Zum anderen beeinflusst die grundsätzliche Position, die aus rechtsdogmatischer Sicht als richtig angesehen wird, natürlich ihrerseits die Auslegung der im Jahr 2009 eingeführten Vorschriften. Es liegt auf der Hand, dass derjenige, der die von vielen Autoren seit jeher beklagten Brüche zwischen Urteilsabsprache auf der einen und sonstigem Regelungsregime der StPO auf der anderen Seiten nicht oder jedenfalls nicht in dieser Schärfe sieht, wie dies teilweise vorgebracht wird, sich mit einer aus seiner Sicht dogmatisch vertretbaren Anwendung der Vorschriften leichter tun wird als derjenige, der im Grunde meint, dass allenfalls mit großer Mühe und im ein oder anderen seltenen Einzelfall die Urteilsabsprache einmal in rechtsdogmatisch vertretbarer Weise durchgeführt werden kann. Wenn es in der Vorauflage hieß, dass die Kritik aus dem Schrifttum auch dem Praktiker nicht gleichgültig sein kann,[4] so gilt dies also in gewisser Weise trotz der Reform der StPO auch heute noch. Unsere Stellungnahme fällt, um dies schon an dieser Stelle vorweg zu nehmen, so aus, dass wir die Kritik sowohl an der Dogmatik der Urteilsabsprache, wie sie bis zum Jahre 2009 von der Rechtsprechung vertreten wurde, als auch und insbesondere an der gesetzlichen Regelung für weit überzogen halten. Wir sind der Auffassung, dass die gesetzliche Regelung im Wesentlichen gelungen ist, dies im Übrigen gerade, weil der Gesetzgeber nicht versucht hat, ein völlig neues Verfahren in die StPO einzuführen. Das Gesetz enthält nunmehr klare Regelungen zu denjenigen Problemen, die in der Theorie wie auch in der Praxis tatsächlich durch das Angebot „Geständnis gegen Strafmilderung“ entstehen, und weil uns die hier gefundenen Lösungen in weiten Teilen überzeugen. Den Bedenken, die in der Literatur geäußert werden, lässt sich aus unserer Sicht hinreichend Rechnung tragen, indem die neuen Vorschriften, soweit dies möglich ist, systemkonform interpretiert werden. Dadurch ergibt sich ein praktisch nicht nur sinnvoller, sondern auch rechtsdogmatisch sehr gut begründbarer Anwendungsbereich für die Urteilsabsprache. Diesen Befund wollen wir im Folgenden in der angesichts des Zuschnitts des vorliegenden Werks als Leitfaden für die Praxis gebotenen Kürze begründen.

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Zum Hintergrund sei vorab daran erinnert, dass die Urteilsabsprache sich in der Praxis entwickelt hatte, und dass der BGH spätestens seit der grundlegenden Entscheidung des 4. Strafsenats aus dem Jahr 1997[5] die Vereinbarkeit der Urteilsabsprache mit der StPO sowie den hergebrachten und teils Verfassungsrang genießenden grundlegenden Verfahrensprinzipien des deutschen Strafprozessrechts jedenfalls im Grundsatz bejaht hatte. Es hatte sich zugleich eine etwas befremdliche Diskrepanz zwischen der nach und nach immer umfangreicher werdenden Judikatur zu Einzelproblemen der Anwendung des vom BGH entwickelten normativen Rahmens auf der einen und zum Beitrag der Rechtswissenschaft, der im Wesentlichen aus ständig wiederholter Fundamentalkritik an dem Institut der Urteilsabsprache überhaupt bestand, auf der anderen Seite entwickelt.[6]

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Misslich daran war zunächst, dass die Rechtslehre hartnäckig den Umstand leugnete, dass die StPO seit jeher auch an anderen Stellen jedenfalls im Ergebnis rechtskräftige Beendigungen von Strafverfahren mit belastenden Folgen auch für den Beschuldigten vorsieht, die von dessen Zustimmung abhängen und mehr oder weniger auch durch diese legitimiert werden. Es konnte also schon immer davon gesprochen werden, dass neben der inquisitorischen Wahrheitsermittlung, die zahlreiche Kritiker als einzige legitime Form des deutschen Strafprozesses akzeptieren wollten, auch Alternativen der Verfahrenserledigung existierten, die mit Einvernehmlichkeit zwischen den Verfahrensbeteiligten zu tun hatten. Auf diesen Aspekt wurde schon oben und wird sodann später ausführlich im zweiten Teil des Werks eingegangen. Diese Überlegung war und ist ausschlaggebend für den hier gewählten Weg, die Urteilsabsprache in den Kontext dieser, von uns als konsensual bezeichnete Erledigungsformen, zu setzen.

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Zum anderen krankte die Literatur vor Einführung des § 257c sowie der diesen begleitenden Vorschriften daran, dass sie aufgrund ihres extrem kritischen Ansatzes Schwierigkeiten hatte, Lösungen für Einzelprobleme oder gar eine Lehre zu entwickeln, die man mit Fug und Recht als Dogmatik der Urteilsabsprache hätte bezeichnen können. Wer auf dem Standpunkt beharrte, der BGH befinde sich insgesamt auf einem Irrweg und müsse einfach jedes abgesprochene Urteil als prozessordnungswidrig ansehen und am besten aufheben, konnte sich schlecht dazu äußern, welche Urteilsabsprache denn nun lege artis vorgenommen war und welche nicht. Nebeneffekt war, dass jedenfalls die Lehre über weite Strecken diejenigen Richter, Staatsanwälte und Verteidiger alleine ließ, die sich um rechtmäßiges Vorgehen bemühten.

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Man konnte die Haltung der Literatur trotz dieser Schwächen früher noch im Ausgangspunkt akzeptieren. Das lag daran, dass der Gesetzgeber noch nicht gesprochen hatte, und dass es der Rechtswissenschaft selbstverständlich nicht verwehrt ist, eine bestimmte, in der Rechtsprechung entwickelte oder von ihr mit Konturen versehene Rechtsfigur grundsätzlich abzulehnen. Das Wort des BGH ist nicht Gesetz. Diese Ausgangslage hat sich nun aber erheblich gewandelt. Der Umstand, dass eine gesetzliche Regelung existiert – die nach der Entscheidung des BVerfG vom 19.3.2013 auch nicht als verfassungswidrig anzusehen ist – zwingt nun dazu, sich mit der Frage ihrer Anwendbarkeit zu beschäftigen.

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Letzteres gilt jedenfalls dann, wenn man, wie wir es für richtig halten, die Aufgabe der Rechtsdogmatik darin sieht „im Vagheitsbereich des positiven Rechts vernünftige Entscheidungsvorschläge zu erarbeiten“[7].

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Ganz unabhängig davon, ob man die gesetzliche Regelung für gelungen hält oder nicht, ist derjenige Rechtswissenschaftler, der sich als Rechtsdogmatiker versteht und seine Arbeit nicht ausschließlich auf die Rechtsdogmatik de lege ferenda konzentrieren will,[8] also jetzt gefordert, Anwendungsprobleme des Gesetzes aufzuspüren und sie Lösungen zuzuführen, die möglichst auf plausiblen und mit dem Gesetz vereinbaren Prämissen beruhen und zueinander nicht im Widerspruch stehen.

2. Gegenkritik

a) Vermischung von Rechtspolitik und Rechtsdogmatik

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Aus diesem Blickwinkel befremdet die wissenschaftliche Diskussion, wie sie seit 2009 geführt wird, durchaus und spätestens nach dem Urteil des BVerfG vom 19.3.2013 vielleicht noch mehr, als dies früher, vor Inkrafttreten der Reform der Fall war. Völlig zu Recht hat Peter Rieß im Jahre 2009 ganz im Sinne des soeben Dargelegten gefordert, ganz unabhängig vom persönlichen Standpunkt müsse nun eben das Gesetz respektiert und angewendet und es müsse eine Auseinandersetzung mit seinem legitimen Anwendungsbereich, also eine Dogmatik der Urteilsabsprache, entwickelt werden. Stattdessen äußern namhafte Lehrer des Strafprozessrechts in einschlägigen Veröffentlichungen, das Gesetz sei schlecht, nicht ernst zu nehmen, unanwendbar oder ähnliches.[9] Das wird beispielsweise damit begründet, dass apodiktisch behauptet wird, die Aufklärung der Wahrheit sei mit der Urteilsabsprache ganz grundsätzlich nicht zu vereinbaren.[10] Vielfach läuft die Kritik darauf hinaus, bereits der Gedanke, dass die Zustimmung aller Prozessbeteiligten bei der Verfahrensbeendigung im Strafprozess eine Rolle spielen könne, sei mit dem hohen Anspruch der Wahrheitsfindung unvereinbar, weswegen der Gesetzgeber allenfalls die Möglichkeit gehabt hätte, eine Art zweite Strafprozessordnung zu schaffen, die im scharfen Gegensatz zu dem inquisitorischen Strafprozess eine Art konsensuales Strafprozessrecht vorsieht und zugleich regelt, in welchen Fällen dieses zur Anwendung kommen soll.[11]

 

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Wir halten solche Kritik für überzogen und unplausibel. Sie stellt aus unserer Sicht eine Art Dogmatikverweigerung dar, mit der die Rechtswissenschaft ihre Aufgabe schlicht verfehlt. Im vorliegenden Text soll ein solches, destruktives Vorgehen vermieden werden. Worum es gehen soll, ist die Darstellung des Gesetzes, wie es im Jahre 2009 in Kraft getreten und, wie es von Verfassungs wegen seit dem 19.3.2013 zu verstehen ist, und auf dieser Basis konforme und mithin rechtlich vertretbare Vorschläge für die Lösung von Anwendungsproblemen zu unterbreiten. Es ist damit keineswegs gesagt, dass für die Urteilsabsprache ein sonderlich breiter Anwendungsbereich besteht. Es ist durchaus denkbar, dass die dogmatische Arbeit zu dem Resultat kommt, in einer Vielzahl von Fällen seien in der Praxis durchgeführte Urteilsabsprachen in Wahrheit gesetzeswidrig und damit rechtswidrig. Die Frage nach der Vereinbarkeit mit den Grundsätzen des Strafprozesses ist an sich natürlich berechtigt. Sie muss aber eben auf konkrete Einzelprobleme bezogen werden, die sich in der Praxis bei der Anwendung des Gesetzes stellen, und über deren Lösung man natürlich trefflich streiten kann. Aus unserer Sicht führt an diesem Weg, also an der Entwicklung einer Dogmatik der Urteilsabsprache, spätestens seit dem Jahre 2009 kein Weg mehr vorbei, denn nicht streiten kann man darüber, dass man sich an die Gesetze zu halten hat.

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Der in der Literatur nicht selten vertretene Standpunkt, § 257c und die weiteren, mit ihm neu eingeführten Vorschriften seien schlicht mit dem deutschen Strafprozess nicht vereinbar und deswegen letztlich unanwendbar, ist nach dem Vorstehenden schon deswegen nicht akzeptabel, weil die Rechtsanwendung an Gesetz und Recht gebunden ist und es Aufgabe des Rechtsdogmatikers ist, durch die Erarbeitung von Entscheidungsvorschlägen in konkreten Fällen dazu beizutragen, dass der Praktiker diesen Anspruch auch erfüllen kann. Rechtskulturell gesehen kommt hinzu, dass in der Praxis eine Vielzahl von Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern sich täglich nach Kräften bemüht, die Urteilsabsprache in rechtlich wie ethisch vertretbarer Weise in die Tat umzusetzen. Schon die frühere Fundamentalkritik, aber eben auch die heutige Verweigerungshaltung einiger Rechtswissenschaftler erschweren diesen praktisch tätigen Strafjuristen ihre Arbeit ganz erheblich, weil ihnen keine klaren Maßstäbe an die Hand gegeben werden, die das rechtlich Vertretbare vom nicht Vertretbaren unterscheiden. Damit trägt die Lehre ungewollt zum weiteren Verfall der Rechtskultur bei, weil die nicht gutwilligen Justizangehörigen und Verteidiger, die sich um das Gesetz nicht scheren, sich im Ergebnis stets auf den Standpunkt zurückziehen können, das Gesetz stelle seinerseits eine Art strafprozessrechtswidrigen Strafprozessrechts dar, weswegen man in seiner Auslegung weitgehend frei sei.[12] Anders ausgedrückt: Wenn das Gesetz die Urteilsabsprache an sich zulässt, aber keinerlei Klarheit über ihren legitimen Anwendungsbereich besteht, und zwar unter anderem deswegen, weil die Literatur behauptet, hier ließe sich nichts Rationales mehr sagen, dann wird die allseits beklagte Wildwest-Haltung in der Praxis eher gefördert als eingedämmt.

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Aber auch inhaltlich vermag die Kritik am Gesetzgeber vielfach nicht zu überzeugen. Hierauf wird im Folgenden näher eingegangen, wobei wir unsere Hinweise auf einige wenige Aspekte beschränken wollen.

b) Rechtsdogmatik contra legem

aa) Rechtsdogmatik de lege lata!

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So hat der Gesetzgeber in § 257c Abs. 1 Satz 2 explizit entschieden, § 244 Abs. 2 bleibe unangetastet, gleiches soll für die freie Beweiswürdigung nach § 261 gelten. Es ist also evident, dass das Gesetz keine Abstriche bei Wahrheitsfindung und freier Überzeugungsbildung des Gerichts macht. Eine Gesetzesauslegung, die behauptet, die Urteilsabsprache sei ohne solche Abstriche unmöglich,[13] ist also ihrerseits mit dem Gesetz schlicht nicht zu vereinbaren. Eine Behauptung wie diejenige, es handele sich bei § 244 Abs. 2 um ein „Lippenbekenntnis“[14] oder eine „Mogelpackung“[15] verkennt, dass es sich dabei nicht um irgendeine Äußerung irgendwelcher Politiker, sondern um eine gesetzliche Anordnung handelt. Es geht also nicht darum, ob irgendjemand sich glaubhaft oder nicht glaubhaft zu irgendetwas bekannt hat. Das Gesetz fordert vielmehr die strikte Einhaltung des Aufklärungsgrundsatzes ein, und dieser Forderung ist in einem Rechtsstaat schlicht und einfach nachzukommen. Wie die Forderung zu interpretieren ist, kann die Rechtsdogmatik herausarbeiten und die Rechtsprechung kann sich für eine bestimmte Gesetzesauslegung entscheiden. Das Gesetz aber schlicht und einfach so zu verstehen, als handele es sich um eine unverbindliche Meinungsäußerung, die unglaubwürdig und daher nicht ernst zu nehmen sei, verbietet sich für den Rechtsdogmatiker von selbst. Es fällt also nicht leicht, nachzuvollziehen, was mit solchen Äußerungen in der Literatur eigentlich bezweckt ist.[16]

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Diese Einsicht hat erhebliche Konsequenzen. Hat man einmal erkannt, dass es nach dem geltenden Recht Urteile, die auf Absprachen beruhen, bei denen aber nicht die Wahrheit in vollem Umfang nach der Vorgabe des § 244 Abs. 2 aufgeklärt wurde und/oder bei denen das Gericht nicht das ausspricht, was zu seiner Überzeugung im Sinne des § 261 aus der Hauptverhandlung hervorging, schlicht nicht geben darf, so bieten sich dem Dogmatiker im Prinzip zwei Wege. Entweder, es wird die Auffassung vertreten, in keinem einzigen Fall könne ein Geständnis, das im Rahmen einer Urteilsabsprache abgegeben wird, zur Wahrheitsfindung beitragen und/oder strafmildernde Wirkung haben. Dann resultierte hieraus nicht die Rechtswidrigkeit der Urteilsabsprache, sondern einfach der Umstand, dass in keinem einzigen Fall eine rechtmäßige Urteilsabsprache möglich sei.[17] Das wäre zwar unplausibel, aber in sich jedenfalls widerspruchsfrei. Oder aber, man akzeptiert, dass im Gesetz die gegenteilige Auffassung deutlich zum Ausdruck gebracht ist. Das führt dazu, dass man sich die Frage stellen muss, unter welchen Voraussetzungen denn ein im Rahmen einer Absprache abgegebenes Geständnis zur Wahrheitsfindung beitragen kann, welche weiteren Schritte bei der Sachverhaltsaufklärung dann jeweils noch geboten sind, inwieweit und aus welchen Gründen es strafmildernd berücksichtigt und unter welchen Voraussetzungen mithin ein abgesprochenes Urteil als prozessordnungsgemäß angesehen werden kann. Dass der zuletzt genannte Weg der vorzugswürdige ist, dürfte auf der Hand liegen.

bb) Keine höheren Anforderungen als an nicht abgesprochene Urteile

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Dies gilt umso mehr, als Verurteilungen nach kurzen Hauptverhandlungen ausschließlich auf der Basis von Geständnissen ebenso seit jeher von der Rechtsdogmatik anerkannte Praxis sind, wie die Berücksichtigung einer strafmildernden Wirkung des Geständnisses allgemein von der herrschenden Meinung akzeptiert wird. Die Rechtswissenschaft könnte einmal kritisch untersuchen, ob denn im normalen amtsgerichtlichen Alltag, der allseits im Großen und Ganzen nicht für komplett rechtswidrig erachtet wird, und der für eine Hauptverhandlung vielfach Zeiträume von einer halben Stunde bis zu vielleicht 90 Minuten oder zwei Stunden vorsieht, diejenigen Maßstäbe an die Wahrheitsfindung angelegt werden, die in der Debatte über Urteilsabsprachen mehr oder weniger stillschweigend vorausgesetzt werden. Zudem wäre zu prüfen, ob denn die Anforderungen an ein Geständnis, die hier, wo es um die Urteilsabsprache geht, in den Raum gestellt werden, in dieser Schärfe sonst gefordert werden. Falls die Fragen bejaht werden, so müsste wohl darüber nachgedacht werden, ob durch die Einführung der Regelung zur Urteilsabsprache in die StPO der Gesetzgeber sich nicht einfach entschieden hat, hier niedrigere Anforderungen zu stellen. Die Verneinung der Frage liegt allerdings weitaus näher. Um „absolute Wahrheit“[18] ging es jedenfalls nie. Wenn und soweit man meint, dem Aufklärungsgrundsatz könne nie durch eine kurze Hauptverhandlung, durch ein ausschließlich oder ganz entscheidend auf einem Geständnis beruhenden Urteil Rechnung getragen werden, und/oder ein Geständnis könne nie oder allenfalls dann strafmildernde Wirkung entfalten, wenn es von Reue, Einsicht oder ähnlichem getragen sei, dann muss man die Urteilsabsprache in der Tat ablehnen. Allerdings ist dann zu bedenken: Dass die von dem jeweiligen Autor vertretene Rechtsdogmatik nicht zum Gesetz passt, muss nicht auf Kosten des Gesetzes gelöst werden. Vielmehr müsste der Rechtsdogmatiker in diesem Fall selbstkritisch überlegen, ob er nicht eine Rechtsdogmatik entwickeln sollte, die den Namen verdient und sich auf dem Boden des geltenden Rechts bewegt (die Alternative besteht darin, ausschließlich de lege ferenda zu arbeiten).

cc) Widerspruch zur Anerkennung des Strafbefehlsverfahrens

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Schließlich befremdet nach wie vor, dass der Bürger, von der Wissenschaft im Großen und Ganzen ausgehandelt, per Strafbefehl nach Aktenlage und ohne jede Hauptverhandlung schuldig gesprochen werden kann, und zwar in einer Form, die nach ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung dem Urteil gleich steht, dass aber dann, wenn auf der Basis einer Absprache ein ausführliches, inhaltsreiches und detailliertes Geständnis abgelegt wird, die Verurteilung in allen Fällen einen krassen Verstoß gegen die Pflicht zur Aufklärung der Wahrheit darstellen soll. Früher konnte man diese Ungereimtheit vielleicht noch mit dem Hinweis rechtfertigen, das Strafbefehlsverfahren stelle eine ausdrückliche gesetzlich geregelte Ausnahme dar. Seit Aufnahme der Urteilsabsprache in die StPO besteht dieser Unterschied aber auch nicht mehr. Wer nach wie vor behauptet, der Gesetzgeber habe hier in völlig neuartiger, systemwidriger und letztlich inkonsistenter Weise die Quadratur des Kreises versucht, müsste Gleiches konsequenterweise auch für das Strafbefehlsverfahren behaupten und dessen Unanwendbarkeit ebenfalls propagieren (oder aber erklären, warum ersteres inakzeptabel, letzteres für die Feststellung mit dem Urteil aber akzeptabel ist).

dd) Begrenzt sinnvolle Suche nach einer „Rechtsnatur“

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Was schließlich die „Rechtsnatur“ der Urteilsabsprache angeht[19], so ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz, dass es sich jedenfalls nicht um eine Art Vertrag oder etwas einem Vertrag Verwandtes handelt. Der Gesetzgeber hat, wie bereits erwähnt, explizit vorgeschrieben, Ergebnis des Ganzen müsse ein Urteil sein, das auf der vollständigen Wahrheitsaufklärung nach denselben Maßstäben wie sonst beruht. Konsequenterweise kann das Gericht unter den gesetzlichen Voraussetzungen von dem angekündigten Urteil wieder abrücken. Vor diesem Hintergrund zu meinen, es handele sich um einen Art synallagmatische Bindung zwischen Parteien oder Ähnliches, halten wir, um es deutlich zu sagen, für fernliegend. Es hilft dabei auch nicht weiter, in den Gesetzgebungsmaterialien zu suchen und dem Gesetzgeber irgendwelche Verfehlungen oder handwerkliche Fehler oder Widersprüche nachweisen zu wollen oder aber die Behauptung aufzustellen, wenn überhaupt, lasse sich eine Urteilsabsprache in die StPO nur als alternative Verfahrensform vertragsähnlichen Charakters einführen. Letzteres ist ausweislich des Gesetzeswortlauts und der Gesetzessystematik evident nicht geschehen. Ersteres ist schon deswegen im Ansatz problematisch, weil auch sonst das Gesetz zunächst einmal so auszulegen ist, wie es tatsächlich formuliert ist. Die Nonchalance, mit der gerade viele Kritiker des Gesetzes sich für ihre Kritik stets auf die subjektiv-historische Auslegung zurückziehen und dem Gesetzgeber vorwerfen, er habe irgendwelche Absichten verfolgt, die er aber nicht verwirklicht habe, ist methodisch befremdlich. Zum einen wird regelmäßig nicht dargelegt, warum eigentlich die objektiv-teleologische Auslegung hier der subjektiv-historischen zu weichen hat. Zum anderen wären auch an dieser Stelle erst einmal die konkreten Rechtsprobleme zu benennen und es wäre zu fragen, ob die objektive Auslegung überhaupt zu anderen Ergebnissen führt als die subjektive. Eine Formulierung wie diejenige, § 244 Abs. 2 bleibe unangetastet, lässt jedenfalls an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Jede Gesetzesauslegung, die zu dem Ergebnis kommt, das sei ein „Lippenbekenntnis“[20] oder könne nicht ernst genommen werden,[21] war aus unserer Sicht bereits vor der Entscheidung des BVerfG vom 19.3.2013 unvertretbar und ist es danach erst recht. Zu klären ist vielmehr, was man unter Aufklärungspflicht hier zu verstehen hat und welche konkrete Aufklärung des Sachverhalts das Gericht also auch vor Verhängung eines abgesprochenen Urteils zu leiten hat und welche nicht.

 

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Kurz: So, wie sie in das Gesetz Eingang gefunden hat, ist die Urteilsabsprache bei unbefangener Betrachtung nichts weiter als eine Regelung bestimmter, aufeinander abgestimmter Verfahrenshandlungen wie etwa der Einstellungsbeschluss nach § 153a nebst der Einholung der hierfür erforderlichen Zustimmungserklärungen. Nun sind Prozesshandlungen bekanntlich bedingungsfeindlich und normalerweise auch einem Widerruf entzogen, so dass die Verwendung des Begriffs der „Bindungswirkung“ an sich überflüssig gewesen wäre. Sie erklärt sich aber zwanglos aus der geschichtlichen Entwicklung: Der Gesetzgeber hat vor dem Hintergrund der jahrzehntelang ergangenen Rechtsprechung des BGH entschieden.