Absprachen im Strafprozess

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa
II. Das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren im Überblick

1. Entstehungsgeschichte

22

Dem „Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“ vom 29.7.2009[37], mit dem die §§ 35a, 44, 160b, 202a, 212, 243, 257b, 257c, 267, 273 und 302 sowie § 78 OWiG mit Wirkung zum 4.8.2009 neu eingeführt bzw. geändert wurden, ging nicht nur eine intensiv und teilweise geradezu die Dimension eines Glaubenskriegs annehmende Diskussion in der Fachöffentlichkeit voraus. Vielmehr war, wie bereits oben ausgeführt worden ist, bereits in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Einführung des § 153a die Möglichkeit geschaffen worden, sich im Einvernehmen aller Verfahrensbeteiligten in jedem Verfahrensstadium darauf zu verständigen, auf eine endgültige Klärung der erhobenen Vorwürfe zu verzichten, bestimmte Auflagen und Weisungen als Ausgleich für (möglicherweise) bestehende Schuld festzulegen und auf diese Weise das Strafverfahren mit (beschränkter) Rechtskraftwirkung zu beenden ohne dass damit allerdings ein Schuldspruch verbunden wäre. In vielen Fällen konnte die Praxis seit jeher zudem, ebenfalls das Einverständnis aller Beteiligten vorausgesetzt, auch einen abgekürzten Schuldspruch in Rechtskraft erwachsen lassen, indem die Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht den Erlass eines Strafbefehls, §§ 407 ff., beantragte und der Betroffene sich gegen diesen sodann nicht wehrte. Die Praxis hatte parallel – wann damit begonnen wurde, soll hier offen bleiben[38] – diese Möglichkeiten der vom Konsens getragenen Verfahrensverkürzung durch Verzicht auf umfassende Sachaufklärung auch in das strafprozessuale Hauptverfahren hineingetragen. Aus der hier gebotenen Perspektive ist das alles andere als verwunderlich: Wenn ein rechtskräftiger Schuldspruch ganz ohne mündliche Verhandlung im Strafbefehlsweg und ein rechtskräftiger Verfahrensabschluss ganz ohne Klärung der Unrechts- und Schuldfrage möglich ist, und wenn zugleich anerkannt ist, dass eine geständige Einlassung des Beschuldigten strafmildernd berücksichtigt werden kann, dann liegt es nahe, sich die Frage zu stellen, warum nach den strengen Maßstäben des § 244 Abs. 2 in der Hauptverhandlung buchstäblich jeder Stein noch einmal herumgedreht werden soll, auch wenn keiner der Beteiligten irgendein Interesse daran hat. Die Einführung der Urteilsabsprache in die StPO folgte also einem evidenten praktischen Bedürfnis.

23

Der BGH, der in Revisionsverfahren insbesondere über verschiedene Verfahrensrügen[39] mit der Frage nach der Zulässigkeit von Urteilsabsprachen befasst war, hatte davor bereits im Jahr 1997[40] die Aufgabe übernommen, ein zumindest grobes Raster zu entwickeln, innerhalb dessen sich die Urteilsabsprachen bewegen sollten. Die übrigen Strafsenate waren dem seinerzeit unter Vorsitz von Meyer-Goßner entscheidenden 4. Strafsenat in seiner grundsätzlichen, die Urteilsabsprache nicht generell verwerfenden, ihr aber einen normativen Rahmen gebenden Linie gefolgt.[41] Der 4. Strafsenat des BGH war dabei im Kern davon ausgegangen, dass es dem Gericht nicht verwehrt sein könne, den Beschuldigten, aber auch die Staatsanwaltschaft zu irgendeinem Zeitpunkt, vor allem während der Hauptverhandlung, auf eine vorläufige Einschätzung des Verfahrensstandes und auch ein denkbares Verfahrensergebnis, jeweils aus aktueller Sicht, hinzuweisen und sich dabei auch dazu zu äußern, wie sich ein glaubhaftes und substantiiertes Geständnis des Angeklagten auf das Strafmaß konkret auswirken könne.

24

Dem 4. Strafsenat des BGH waren sodann, vergröbert gesprochen, zwei Aspekte wichtig: Zum einen sollte derartiges nicht im Hinterzimmer unter Ausschluss der Öffentlichkeit und womöglich sogar unter Ausschluss anderer Verfahrensbeteiligter stattfinden. Zum anderen sollte der Angeklagte, der sich auf solche Äußerungen des Gerichts einrichtete, davor geschützt werden, dass man ihn im Anschluss trotz des abgelegten Geständnisses schärfer bestraft, als man vorher angekündigt hatte. Ersteres wurde auch im Schrifttum vielfach akzeptiert: Dagegen, dass solche Gespräche, wenn überhaupt, jedenfalls öffentlich und unter Mitwirkung aller Beteiligter stattfinden (und sich sinnvollerweise auch im Protokoll der Hauptverhandlung wiederfinden), konnte man nicht sehr viel sagen. Der Zorn der Wissenschaft entzündete sich vor allem an dem zuletzt genannten Gesichtspunkt: Eine sogenannte „Bindungswirkung“ einer Urteilsabsprache sollte es unter keinen Umständen geben, weil über einen Schuldspruch nicht verhandelt werden könne. Ob diese Kritik, die inhaltlich darauf hinausläuft, dass der Angeklagte keine Möglichkeit haben soll, das Gericht an seinen eigenen Ankündigungen festzuhalten, inhaltlich sonderlich überzeugend ist, soll hier dahinstehen. Zu konstatieren ist jedenfalls, dass die Diskussion sich mit der Zeit sehr stark hiervon weg und schlicht zu einer Konzentration auf die Problematik der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung hin entwickelte: Viele Kritiker meinten, es könne ja vielleicht alles so geregelt werden, wie der BGH es beschlossen habe, dies müsse aber im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Kompetenzverteilung der Gesetzgeber entscheiden. Auch der BGH selbst hat schließlich im Jahr 2005 in einer Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen, in der es um die stets problematisch gebliebene Frage der Zulässigkeit von Rechtsmitteln gegen abgesprochene Urteile ging, ausgesprochen, er sehe sich nun an der Grenze dessen, was er in puncto Rechtsfortbildung leisten könne.[42] Untermauert wurde diese Kritik vielfach von dem – sicher zutreffenden, davon wird in diesem Werk noch mehrfach die Rede sein – Hinweis, dass die Praxis sich in vielen Fällen an die Regeln, die der BGH vorgegeben hatte, schlicht nicht hielt, und dass die Autorität des Gesetzes mithin erforderlich sei, um wenigstens den Rahmen, den das Gericht der Urteilsabsprache hatte geben wollen, in der Praxis durchzusetzen.

25

In unmittelbarerer zeitlicher Folge und wohl auch in kausalem Zusammenhang mit der Entscheidung des Großen Senats wurde die Politik und wurden auch Verbände und berufsständische Organisationen aktiv. So lagen schließlich aus dem Zeitraum Frühjahr 2006 bis Frühjahr 2009 Gesetzentwürfe des Landes Niedersachsen, der Bundesrechtsanwaltskammer, des Deutschen Anwaltsvereins und des Bundesrats, der Bundesregierung und der Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und SPD sowie sogenannte „Eckpunkte“ der Generalbundesanwältin und Generalstaatsanwälte aus dem Jahr 2005 und eine Reihe Entwürfe einzelner Autoren, wie etwa Wagner, Nack, Meyer-Goßner oder Niemöller vor[43]. Was schließlich Gesetz wurde, basiert im Wesentlichen auf dem Regierungsentwurf, allerdings mit zwei Änderungen, von denen eine schon an dieser Stelle erwähnt sei: Nach einer Sachverständigenanhörung am 25.3.2009 wurde der neue § 302 Abs. 1 Satz 2 eingeführt, der den Rechtsmittelverzicht nach abgesprochenen Urteilen generell für unwirksam erklärt. Am 28.5.2009 bzw. 10.7.2009 wurde das Gesetz dann von Bundestag und Bundesrat in der Form, in der es am 4.8.2009 in Kraft trat, akzeptiert.

2. Die „großen Linien“ der Reform

26

Bei der Durchsicht der Gesetzesänderung fällt vor allem auf, dass es sich in keiner Beziehung um einen großen Wurf, sondern von vornherein um eine „kleine Lösung“ handelt (und wohl auch handeln sollte). Dies wird im Schrifttum auch vielfach hervorgehoben und ist im Vorfeld der Gesetzgebung wie auch seit Inkrafttreten des Gesetzes häufig kritisiert worden. So habe der Gesetzgeber von denjenigen Problemen, die den Großen Senat für Strafsachen beschäftigt bzw. deren Lösung er angemahnt hatte, nur einen Teil geregelt.[44] Dass diese Kritik nicht treffend ist, zeigt der folgende, kurze Überblick über die gesetzlichen Regelungen.

27

Herzstück des Gesetzes, das fünf Paragraphen (§§ 160b, 202a, 212, 257b und 257c) eingeführt hat, ist die neue Vorschrift des § 257c. Hier wird im Prinzip die altbekannte Absprache „Geständnis gegen Strafmilderung“ erstmals positiv geregelt. Der Gesetzgeber hat dabei den dogmatischen Ansatzpunkt des BGH übernommen, indem § 257c Abs. 1 Satz 2 ausdrücklich bestimmt, dass die Amtsaufklärungspflicht unberührt bleibt. Worum es geht, ist also lediglich das Recht des Gerichts, für ein glaubhaftes Geständnis eine Strafmilderung in Aussicht zu stellen und vor allem um die Absicherung des hierauf gegründeten Vertrauens des Angeklagten.

28

Überblick über die Regelung des § 257c


Die möglichen Gegenstände der Verständigung finden sich in etwa dieser Weise in § 257c Abs. 2.
§ 257c Abs. 3 regelt, wie die Verständigung im Einzelnen nach der Vorstellung des Gesetzgebers zustande kommen soll.
Ebenfalls geklärt wurde die Problematik des Rechtsmittelverzichts: In § 302 Abs. 1 Satz 2 n. F. ist der Rechtsmittelverzicht, der nach einem abgesprochenen Urteil erklärt wird, schlicht wirkungslos, worüber nach § 35a Satz 3 zu belehren ist. Die Problematik war vor 2009 nie in klarer und befriedigender Weise gelöst worden. Einigkeit hatte immer bestanden, dass ein Rechtsmittelverzicht nicht abgesprochen werden kann. Andererseits ist jedem Praktiker seit jeher bekannt, dass insbesondere die Strafgerichte auf die Rechtskraft des abgesprochenen Urteils erheblichen Wert legen; sie werden zur Urteilsabsprache vielfach nur durch diese Aussicht motiviert.

Den Weg aus diesem Dilemma hatte der Große Senat für Strafsachen in einer qualifizierten Belehrung über die Möglichkeit des Rechtsmittelverzichts trotz Urteilsabsprache gesucht, aber selbstverständlich nicht gefunden, weil sich an der Praxis des abgesprochenen Rechtsmittelverzicht so, wie auf der Hand liegen dürfte, nichts ändern konnte. Die Lösung, die der Gesetzgeber nun gefunden hat, schiebt jedenfalls dieser Praxis einen Riegel vor, weil kein Angeklagter durch die Urteilsabsprache gehindert ist, Rechtsmittel einzulegen, und weil er hierüber auch belehrt werden muss. Ob man diese Regelung nun befürwortet oder nicht, so hat sie jedenfalls für Klarheit gesorgt.

 

29

Die übrigen Vorschriften seien an dieser Stelle nur knapp erwähnt. Der Gesetzgeber hat eine Reihe von Regeln über das Verfahren bei der Urteilsabsprache vorgesehen, die im Prinzip der Rechtsprechung des BGH entsprechen:

Weitere Vorschriften des VerstG (Auswahl)


So muss die Verständigung protokolliert werden, § 273 Abs. 1 Satz 1, Abs. 1a.
Die Verständigung muss in der Hauptverhandlung offengelegt werden, § 243 Abs. 4, und diejenigen Gespräche, die ihr vorangehen, sind ausdrücklich „zwischen den Verfahrensbeteiligten“ zu führen und aktenkundig zu machen (§§ 160b, 202a, 212, 257b).

30

Kurz: Der Gesetzgeber hat weitgehend die bereits vom 4. Strafsenat des BGH im Jahre 1997 vorgezeichnete Linie in die StPO übernommen. Dies gilt auch und vor allem für den dogmatischen Grundansatz, wonach es sich bei der Urteilsabsprache nicht um eine Durchbrechung des Legalitätsprinzips und auch nicht um irgendeine Art Vertragsmodell, sondern lediglich um die Verbindlichkeit der Ankündigung einer strafmildernden Wirkung eines Geständnisses handelt.

31

Das Gesetz geht allerdings an zwei Stellen pointiert über die frühe Rechtsprechung hinaus, und zwar hinsichtlich der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts nach abgesprochenem Urteil und durch die Statuierung eines Beweisverwertungsverbots bei „Bruch“ der Absprache. Die anderen Vorschriften, in denen es um die Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten als solche geht, flankieren das Ganze und sollen wohl vor allem deutlich machen, dass der Strafprozess aus Sicht des Gesetzes nicht autoritativ gestaltet werden muss, sondern durchaus dialogische Elemente aufweisen darf.

Anmerkungen

[1]

Zur Geschichte des Strafbefehlsverfahrens Heinz FS Müller-Dietz, S. 271 ff.

[2]

So auch Ostendorf ZIS 2013, 174, 175, mit dem zutreffenden Hinweis, der „Wandel vom klassischen Strafprozess“ sei nicht erst mit dem Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren eingetreten.

[3]

Der Vollständigkeit halber seien als weitere Möglichkeiten einer konsensualen Verfahrenserledigung jenseits der Urteilsabsprache zusätzlich § 46a StGB, §§ 155a, 155b, 153b (dazu nochmals unten Rn. 456 ff.) sowie der Vergleich im Privatklageverfahren, § 380, die §§ 45, 47 JGG und § 47 OWiG genannt (dazu noch unten Teil 2 Rn. 144 ff.).

[4]

Vgl. zur Entstehungsgeschichte des § 153 z.B. Zwickel S. 6 f., der im Jahr 1932 ausführt, es sei um „die Notwendigkeit“ gegangen, „erheblich an Kosten zu sparen, indem man die Strafrechtspflege bis an die Grenzen des im Interesse der Rechtspflege noch Erträglichen vereinfachte und verbilligte“, sowie darum, „einen Weg zu finden, der strengste Sparsamkeit mit guter und sicherer Strafrechtspflege zu vereinen vermochte.“

[5]

Dazu näher sogleich im weiteren Text.

[6]

Vgl. zu Terminologie und Bedeutung der Verfahrensprinzipien z. B. KK-Fischer Einl. Rn. 5 ff.

[7]

Richtig Eser ZStW 104 (1992), 361 ff., 369 f. sowie dort Fn. 40, der – schon vor Inkrafttreten des Rechtspflegeentlastungsgesetzes! – feststellt, die Anwendung des Legalitätsprinzips sei „vor allem für den Bereich der Bagatellkriminalität fast zur Ausnahme geworden“, weswegen „die übliche Redeweise von Einschränkungen des Legalitätsprinzips durch das Opportunitätsprinzip nicht ganz korrekt“ sei.

[8]

Vgl. zur damaligen Diskussion z. B. die Düsseldorfer Dissertation von Zirkel aus dem Jahr 1936, S. 26 ff., 29 f., 31 ff., 34 und passim.

[9]

So ausdrücklich Meyer-Goßner/Schmitt StPO, § 153 Rn. 1. Freilich gibt es in der Konstellation des § 153 Abs. 1 kein „Mitverfügungsrecht“ des Beschuldigten.

[10]

Sie wurde mit dem EGStGB im Jahre 1974 eingeführt.

[11]

Es fragt sich, ob der Gesetzgeber bereits mit Schaffung des § 153a den „schwersten Eingriff in das Gefüge der StPO seit 1877“ vorgenommen hat – eine Qualität, die von vielen erst dem VerstG zugeschrieben wird, exemplarisch Stuckenberg ZIS 2013, 212.

[12]

Die Erforderlichkeit der Führung solcher (Konsens-) Gespräche wurde von Anfang an auch klar gesehen, vgl. z. B. Kleinknecht Strafprozessordnung, 32. Aufl. 1975, § 153a Anm. 11. Die bundeseinheitliche Fassung der RiStBV aus dem Jahre 1967 ließ übrigens in Nr. 83 Abs. 3 auch für den Fall des § 153, wenn auch indirekt formuliert, zu, den Beschuldigten vor der Einstellungsentscheidung auf die Vorschrift und wohl auch darauf hinzuweisen, dass dabei lobenswertes Nachtatverhalten, „z. B. die Wiedergutmachung des Schadens“, eine Rolle spielen dürfe. Zu den neu eingeführten, diese informellen Gespräche nunmehr bedingt formalisierenden §§ 160b, 202a, 212 und 257b noch unten Teil 2 (Rn. 90 ff.).

[13]

Die weitere Durchführung des Strafverfahrens kann aus verschiedenen Gründen teurer kommen.

[14]

Vgl. dazu z. B. LR-Beulke § 153a Rn. 11 ff.; KK-Diemer § 153a Rn. 3 m. w. N.

[15]

Zu Recht wenden sich Beulke/Fahl NStZ 2001, 426 ff., 427 dagegen, im Zusammenhang mit § 153a geführte Gespräche zwischen Verfahrensbeteiligten „von vornherein“ als „Freikauf“, „Feilschen“, „Handeln“ oder „Tuscheln“ abzuqualifizieren. Vgl. auch LR-Beulke § 153a Rn. 2: Mit der Vorschrift sei „ein ganz neues konsensuales Verfahren, das auf Kooperation zwischen allen Verfahrensbeteiligten angelegt ist“, geschaffen worden.

[16]

Das ist allerdings streitig, vgl. zum Meinungsstand Meyer-Goßner/Schmitt Vorbemerkungen zu §§ 407 ff. Rn. 1, KK-Maur § 408 Rn. 15, jeweils m. w. N. Selbst Vertreter der Gegenauffassung, nach der beim Strafbefehlerlass ebenso wie bei § 261 stets volle richterliche Überzeugung von der schuldhaften Tatbegehung zu fordern ist, räumen indes zuweilen ein, dass der Gedanke, das Gericht könne sich diese ausschließlich anhand der Aktenlage bilden, reichlich unrealistisch ist, vgl. Weßlau ZStW 116 (2004), 150 ff., 159. Wenn 99 % aller Strafbefehlsanträge „erfolgreich“ sind (Weßlau aaO; Heinz FS Müller-Dietz S. 271 ff.), dann vertritt die Praxis offenbar die weitere Auffassung. Im Ergebnis führt jedenfalls kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass zumindest die Tatsachengrundlage, auf der die richterliche Meinungsbildung stattfindet, durch den Verzicht auf die Hauptverhandlung in aller Regel „defizitär“ sein wird (zutr. KK-Maur § 408 Rn. 15), so dass das Strafbefehlsverfahren eine Entscheidung zu Lasten des Beschuldigten entweder von vornherein auf bloßen Verdacht hin oder bestenfalls auf der Basis von Tatsachen, deren Darlegung lediglich die Funktion zukommt, einen hinreichenden Tatverdacht zu begründen, ermöglicht. Die Bestimmung, dass der Strafbefehl mit den gleichen Wirkungen wie eine Verurteilung nach mündlicher Hauptverhandlung ausgestattet ist, § 410 Abs. 3, kann deswegen sicher nicht in gleicher Weise wie ein Urteil auf den Gedanken der „forensischen Wahrheit“ zurückgeführt werden. Das (relativ) gute Image der §§ 407 ff. im Schrifttum hängt möglicherweise mit der langen Tradition zusammen, auf die diese Art der Verfahrensbeschleunigung zurückgeführt werden kann. Teilweise wird auch offen gesagt, ohne ein solches summarisches Verfahren sei eben schon aus ökonomischen Gründen nicht auszukommen; so z. B. aus der Literatur Meyer-Goßner/Schmitt Vorbemerkungen zu §§ 407 ff. Rn. 1. Nach der Begründung zum „Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege“ (BT-Drucks. 12/1217, S. 42) handelt es sich bei dem Strafbefehlsverfahren um „eines der wichtigsten Institute der Strafprozessordnung zur ökonomischen Verfahrenserledigung“. Der Nachweis für die Richtigkeit dieser auf die Wirklichkeit bezogenen Behauptung steht allerdings bis heute aus. Vgl. zu Einzelheiten des Strafbefehlsverfahrens näher unten Rn. 173 ff.

[17]

Vgl. zu dieser gesetzgeberischen Erwägung bereits Schmidt Lehrkommentar Teil I, Rn. 324 ff., 326.

[18]

Konsequent war es daher, die früher mögliche Verhängung vollziehbarer Haftstrafen hier auszuschließen, vgl. zu den Hintergründen und der Kritik an früheren Fassungen z. B. Schmidt Lehrkommentar Teil II, § 407 Rn. 4.

[19]

Dazu ausführlicher unten Rn. 108 ff.

[20]

Der „Betroffene“ ist hier und im weiteren Text im alltagssprachlichen Sinne zu verstehen.

[21]

Vgl. KK-Maur § 408 Rn. 15: Legitimation des Strafbefehlsverfahrens (wenn überhaupt) nur durch ein „Konsens-Element“. Vgl. auch Landau/Eschelbach NJW 1999, 321 ff., 324: Das Strafbefehlsverfahren als „eine Art eines konsensualen Verfahrens“, bei dem „infolge Einvernehmens ein abschließendes Prozeßergebnis gefunden“ wird, wobei „ergänzende Absprachen (…) unbedenklich“ sind. – Die Probleme und Systembrüche lassen sich nicht mit Hinweisen wie demjenigen marginalisieren, es handele sich um „Ausnahmen, die die Regeln bestätigen“ und rechtstechnisch um bloße „Zustimmungsvorbehalte“ (so aber Ignor/Matt/Weider MAH Strafverteidigung, § 13 Rn. 2). Zum einen werden sowohl bei §§ 153 ff. wie im Strafbefehlsverfahren, um es zurückhaltend auszudrücken, wesentliche Verfahrensgrundsätze teils durchbrochen, teils massiv eingeschränkt. Jedenfalls bei den §§ 407 ff. und 153a kommt der Zustimmung des Betroffenen daher weit mehr als nur formale Bedeutung zu: Sie dient als notwendige materielle Grundlage für den Verzicht auf Wahrheitsfindung bzw. auf Verfolgung der Tat bei gleichzeitiger Bestrafung bzw. Verhängung von Auflagen. Es kann durchaus davon gesprochen werden, dass die Beteiligten hier nicht nur über einzelne Verfahrensfragen etwa des Umfangs der Beweisaufnahme, sondern über die Durchführung des Verfahrens insgesamt disponieren (insoweit zutreffend Weßlau ZStW 116 [2004], 150 ff., 162: „Bagatellverfahren und Strafbefehlsverfahren als Einfallstor der Dispositionsmaxime“, und passim). Zum anderen sind mit diesen Vorschriften eben bewusst mit weitem Anwendungsbereich ausgestattete, konsensuale Möglichkeiten der Verfahrensbeendigung geschaffen worden, die – mit Wissen und Wollen des Gesetzgebers! – in der Praxis zusehends in den Vordergrund gerückt sind (nach Jehle Strafrechtspflege in Deutschland, S. 20, werden nur 11,5 % aller Ermittlungsverfahren mit Anklageerhebung, aber 11,9 % mit Strafbefehlsantrag und immerhin 4,9 % gegen Auflagen eingestellt), so dass jedenfalls nicht behauptet werden kann, die StPO ermögliche derartige Verfahrensweisen allenfalls in Randbereichen (vgl. auch den zutreffenden Hinweis von Satzger in Bockemühl, Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, Teil H, Kap. 3 Rn. 10, durch § 153a sei die Verständigung „vorgezeichnet“, im gleichen Sinne LR-Beulke § 153a Rn. 2).

 

[22]

U. a. wurden mit dem Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 die §§ 154, 154a erweitert, durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz im Jahre 1993 die Schuldschwere, bis zu der § 153a anwendbar sein soll, weiter heraufgesetzt.

[23]

Ähnliches gilt für die §§ 407 ff.

[24]

Mit Erfolg: Anträge auf Strafbefehlserlass kommen heute bereits häufiger vor als die eigentlich als Regelfall gedachte Anklageerhebung, vgl. Heinz FS Müller-Dietz S. 271 ff. – Rieß/Hilger NStZ 1987, 204 weisen zutreffend darauf hin, dass es dem Gesetzgeber bei der Erweiterung des Anwendungsbereichs des Strafbefehlsverfahrens im Jahre 1987 zwar um die Erhöhung von dessen Akzeptanz, nicht aber um die Zurückdrängung des § 153a gegangen ist; vgl. dazu auch BT-Drucks. 10/1313, 13, 34 ff., 35.

[25]

Durch empirische Forschung belegt ist das allerdings, soweit ersichtlich, nicht.

[26]

Näher dazu sogleich unten Rn. 62 ff.

[27]

Dass Einstellungsentscheidungen nach §§ 153 ff. oder Strafbefehlserlassen entsprechende Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten vorausgehen darf, teilweise sogar muss, ist unbestreitbar. Zu den neu eingeführten §§ 160b, 202a und 212 noch unten Teil 2 (Rn. 90 ff.).

[28]

Hierzu näher unten Teil 6 (Rn. 665 ff.).

[29]

Zum Umgangston unter Strafrechtlern nur ein Beispiel von vielen: Seier JZ 1988, 683 ff., 684 spricht im Zusammenhang mit Aufsätzen absprachen-freundlicher Autoren von „Ganovenjargon“.

[30]

Dazu und auch zu Problemen und Risiken ausführlich unten und Teil 6 (Rn. 665 ff.).

[31]

Dahs Handbuch Rn. 1: „Strafverteidigung ist Kampf“; dazu auch Hamm NJW 2006, 2084 ff.

[32]

Richtig Landau DRiZ 1995, 132 ff., 133: Forderungen nach strikter Beachtung des Legalitätsgrundsatzes und entsprechender Begrenzung von Verfahrensabsprachen seien durch die Erweiterung der §§ 153 ff. „vom Handeln des Gesetzgebers widerlegt“ worden.

[33]

Soweit nicht mehrere Verfahrensgegenstände i. S. d. § 264 verbunden worden sind.

[34]

Dazu näher sogleich, insb. Rn. 32 ff.

[35]

Vgl. nochmals Weßlau ZStW 116 (2004), 150 ff., 160: Angesichts der Tatsachen, dass zwei von drei Verurteilungen heute durch Strafbefehle erfolgten und die Amtsgerichte 99 % aller Strafbefehlsanträge Folge leisteten, weil sich „die Legitimation dieser Verfahrensweisen aus der Einspruchsmöglichkeit des Betroffenen“ ableite, könne heute davon gesprochen werden, dass „die Dispositionsmaxime als Bestandteil des Verfahrens mit vereinfachter Beweisführung längst Einzug in die Prozesswirklichkeit gehalten“ habe.

[36]

Dazu, dass sich beides keineswegs ausschließt, sondern vielfach und sinnvoll ergänzt und miteinander zu kombinieren ist, näher unten Teil 6 (Rn. 806 ff.).

[37]

Im Folgenden: VerstG.

[38]

Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, Teil A, Rn. 3 legt den Beginn der Entwicklung auf den Zeitraum „Ende der 1970er“ und den Ort auf Stuttgart fest.

[39]

Behauptete Befangenheit wegen in der Ankündigung bestimmter Ergebnisse der Hauptverhandlung angeblich liegender Voreingenommenheit, behauptete Verletzungen von Beschuldigtenrechten durch die Aussicht, ohne Geständnis bei voller Durchführung der Hauptverhandlung schärfer bestraft zu werden u.a.m.

[40]

BGH 4. Strafsenat, Urt. v. 28.8.1997 = BGHSt 43, 195.

[41]

Zu den Einzelheiten noch unten Teil 3 (Rn. 217 ff.).

[42]

BGH Großer Senat für Strafsachen, Beschl. v. 3.3.2005 = BGHSt 50, 40.

[43]

Der Fußnotenapparat sei dem Leser an dieser Stelle erspart, vgl. zu Details Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, Teil A, Rn. 19.

[44]

So z. B. Schünemann ZRP 2009, 104

[45]

Weshalb es verwundert, wenn eine Reihe von Autoren dem BGH nun vorwerfen, es fehle an einer gesetzlichen Regelung der Fernwirkung des Verwertungsverbots. Dies ist zu verschmerzen, weil die Frage schon seit langem auch an anderen Stellen der StPO auftaucht und für ihre Beantwortung in Rechtsprechung und Schrifttum eine Reihe von Grundsätzen entwickelt worden sind. Hierauf wird in Teil 3 nochmals zurückgekommen.