Hygienearzt in zwei Gesellschaften

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Klinische Lehrer, Linser

Über die anschließenden drei Jahre klinischer Studien ist nicht viel zu berichten. Politisch war die Zeit an der Uni ruhiger. Das Studium bot jetzt Patientenkontakte und ebenfalls eindrucksvolle akademische Lehrer, von denen ich nur einige erwähnen kann. Ich erinnere mich besonders an Professor Linser, den Lehrstuhlinhaber für Hautkrankheiten der Charité. Er war ein konsequent links eingestellter, energischer bis bullig wirkender Mann. Linser kämpfte ohne Unterlass und ohne Rücksicht auf die Psyche seiner oft hochkarätigen Gesprächspartner für seine Patienten. Einmal zeigte er uns ein Bild eines durch Hauttuberkulose schrecklich entstellten Gesichtes. In das allgemeine Schaudern hinein, sagte er: „Das habe ich beim letzten Empfang Otto Grotewohl (damals Ministerpräsident der DDR) neben den Essteller gelegt und ihn gefragt, wann wir endlich dagegen wirksamere Medikamente kriegen.“

Solche Begebenheiten berichtete er häufig. Ob er bei den so Angesprochenen immer beliebt war, weiß ich nicht, erfolgreich war er allemal und für seine Ziele brannte er und konnte auch begeistern. Der Hörsaal war optisch super ausgestattet: Ferngläser an schwenkbaren Halterungen auf allen 400 Sitzplätzen, ein so genanntes Patientenepiskop, das ermöglichte, winzige Pickelchen des vorgestellten Patienten riesig groß zu projizieren. Hautärztliche Diagnosen werden weitgehend nach dem Aussehen der krankhaften Hautveränderungen gestellt, daher ist gutes Sehen hier so wichtig. Linsers Spitzenleistung war seine Klimatherapie und deren Durchsetzung. Damals kam mit seinem Zutun die Behandlung der Asthmatiker und Ekzematiker durch Seeklima auf. Nach jahrelangem Kampf hatte unser konfliktfähiger Professor tatsächlich ein Schiff für Kurreisen dieser Patienten binden können. Und nicht nur irgendein Schiff, sondern die „Völkerfreundschaft“, das bekannteste Urlauberschiff der DDR. Unter dem tat er es nicht! Das gelang ihm zwar erst nach Abschluss meines Studiums, aber gesprochen hat er schon vor uns von seinem hohen Ziel. Die Reisen schipperten nicht nur durch DDR-Hoheitsgewässer, sondern führten ins klimatisch günstige Mittelmeer, obwohl ab 1961 schon die Mauer stand und Fernreisen problematisch waren.

Prokop

Professor Otto Prokop, war aus Österreich gekommen, und las Gerichtsmedizin, die man heute meist Rechtsmedizin nennt. Er war ein bedeutender Fachmann, besonders auf dem damals neuen Gebiet der Haptoglobine. Das sind Blutbestandteile, deren Struktur präzise vererbt wird. Ihre Analyse diente daher wesentlich zur Vaterschaftsbestimmung, die vorher nur ungenauer möglich war. Mit diesem schmalen Merkmalspektrum ließen sich bei sexuell sehr wechselbereiten Kindsmüttern nicht alle als Kindesvater vermuteten Männer ausschließen. Hier konnten die von Prokop in unterschiedliche Gruppen differenzierbaren Blutbestandteile wesentlich weiter helfen, wenn auch diese Untersuchung nicht die absolute Sicherheit bot, die heute mit der Erbgutanalyse der DNS erreicht wird.

Prokop war ein ausgezeichneter Vortragender, der uns durch ungewöhnliche Fragestellungen immer wieder überraschte. Er setzte zur Veranschaulichung sehr viel Bild- und Filmmaterial ein, das in seinem Institut angefertigt wurde. So sahen wir Tatortfotos von Verbrechen und Zeitlupendarstellungen, wie ein Pistolengeschoss den menschlichen Körper zerfetzt. Diese Versuche wurden an Leichen gemacht. Die Ergebnisse sind für die Kriminalpolizei unentbehrlich. Eines Tages brachte Prokop, der stets im schwarzen Anzug, weißem Hemd und mit Fliege angetan seine Vorlesung hielt, eine Pistole zu Demonstrationszwecken mit – eine echte Parabellum 08. Es war ein faszinierender Anblick, wie der hochelegante Herr schnell, souverän und geschickt mit diesem Mordinstrument umging, um uns mit Übungspatronen zu zeigen, wie die leeren Hülsen bei den einzelnen Waffenmodellen seitlich oder nach oben ausgeworfen und nach ihrem Fundort der Platz des Schützen am Tatort bestimmt werden kann. Auch die Entfernung des Schützen zum Beschossenen lässt sich am letzteren feststellen.

Prokop demonstrierte uns auch Schädel-Röntgenbilder mit Resten eines Geschossprojektils im Gehirn. Sie stammten von einem Offizier der Naziwehrmacht, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Antifaschist ausgab. Der Kopfschuss war ihm angeblich von einem anderen Offizier aus einer Entfernung von mehreren Metern bei einer politischen Auseinandersetzung beigebracht worden. Prokop wies nach, dass die Geschossbruchstücke eindeutig aus einem aufgesetzten Nahschuss in die rechte Schläfe stammten. In Wahrheit handelte sich also um die Überreste eines Selbstmordversuches. So lernten wir bei aller Sympathie für eine Sache eindeutig bei der Wahrheit zu bleiben!

Dost

Ein herausragend guter Erklärer schwieriger Zusammenhänge war der Kinderkliniker Professor Dost. Es gibt bei Menschen aller Altersgruppen die Fragestellung, wie rasch die Niere einen Stoff aus dem Blut ausscheidet. Das wird mit einer Zahl erfasst. Sie ähnelt mathematisch, aber eben wirklich nur rechnerisch, der Angabe von Halbwertszeiten radioaktiver Stoffe und wird Clearance-Wert (Klärwert) genannt.

In der Vorlesung über Innere Medizin beim Erwachsenen war das auch schon Thema, und ein guter Nierenspezialist und mittelmäßiger Erklärer mühte sich sechs Vorlesungsstunden mit der Darstellung ab. Danach hatte die Hälfte von uns etwa 50 Prozent des dargebotenen Stoffes verstanden. Als Kinderarzt ging Dost das Thema einige Zeit später an. Er benötigte dafür ganze 45 Minuten, drang in dieser Zeit bis zu mathematischen Beschreibungen des sinkenden Blutspiegels vor, erhielt – ganz unüblich, schon gar bei Mathematik vor Medizinern – mehrfach Szenenbeifall und vermittelte uns in dieser Zeit Kenntnisse, die ich noch heute jederzeit reproduzieren und auf analoge Sachverhalte im Beruf anwenden konnte. Leider blieb uns Professor Dost, dieser großartige Didakt und Autor des DDR-Fachbuches „Der Blutspiegel“ nicht erhalten, sondern ging nach Westdeutschland ab.

Gietzelt

Bemerkenswert war auch Professor Gietzelt, der Radiologe und Strahlentherapeut. Es war die Zeit der Atombombenversuche in der Atmosphäre und dem Boden, die weltweit entsprechende radioaktive Niederschläge hervorriefen, ahnungslose japanische Fischerbootsbesatzungen und Südsee-Touristen durch Strahlenkrankheit töteten, sowie missgebildete und radioaktiv strahlende Fische hervorbrachten. Hier sah sich Gietzelt auf seinem Fachgebiet gefordert.

Zweierlei hat er uns erklärt: Erstens gab es nach seiner Ansicht keine Untergrenze, unterhalb der radioaktive Strahlung unbedenklich ist. Um einige Details der Reparaturfähigkeit des menschlichen Körpers für Strahlenschäden ergänzt, gilt diese Ansicht auch heute weitgehend. Zweitens trifft es zwar zu, wie die Versuchsbefürworter damals entschuldigend erklären wollten, dass der Mensch im Durchschnitt bei allen Röntgenaufnahmen im Leben mehr ionisierende Strahlung(5) empfängt, als durch radioaktiven Niederschlag nach Kernwaffenversuchen. Aber ärztlich nach gewissenhafter Entscheidung vorgenommene Röntgenuntersuchungen dienen seinem Wohl, Kernwaffenversuche dem Gegenteil! Also sind derartige Vergleiche unakzeptabel.

Gietzelt stand mit seiner Meinung nicht allein und schließlich konnten derartige Versuche weltweit verboten werden. Gleichzeitig hat Gietzelt die Entwicklung strahlungsarmer Röntgenverfahren, wie der Schirmbildtechnik, unterstützt und zur überlegten Nutzung der Röntgendiagnostik gemahnt.

Die Famuli sind da

Medizinstudenten mussten in den Studienferien innerhalb der drei klinischen Studienjahre insgesamt sechs Monate Studienpraktika – sogenannte Famulaturen – in Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen durchführen, um ihr Wissen durch Praxis zu vertiefen. Sie wurden dabei unter Aufsicht der Stations- und Oberärzte an Patienten herangeführt, lernten Blutentnahmen und die Verabfolgung von Spritzen, Sie erfragten die Krankenvorgeschichte (Anamnese), deren Wichtigkeit leider oft unterschätzt wird. Die Famuli wurden daher auch gelegentlich als Anamnesenknechte verulkt. Der Patient berichtet sehr oft über seine eigenen Deutungen und die Meinungen der vorher behandelnden Ärzte, soll aber dazu angehalten werden, den Hergang und die Beschwerden zunächst ganz ohne Bewertungen zu schildern. Das erfordert eine gute Mischung von freier Rede des Patienten, die sein Wesen spiegelt und gezielten, aber nicht suggestiven Fragen. Das will gelernt sein, erfordert Übung und oft auch weitere Nachfragen, wenn neue Befunde neue ärztliche Deutungen nahe legen.

Neuerdings trainieren Medizinstudenten das richtige Fragen sogar vereinzelt an eingewiesenen Schauspielern. Trotz aller Apparatemedizin ergeben sich auch heute noch ungefähr 50 Prozent aller Diagnosen aus der sehr gut erfragten Anamnese, also einem diagnostischen Verfahren, das billig und überall anwendbar ist sowie keine Nebenwirkungen hat.

Klose

In zwei Famulaturen spiegelten sich Besonderheiten der damaligen Zeit. Eine Famulatur machte ich im Krankenhaus Berlin-Friedrichshain unter Professor Klose, einem bekannten Schilddrüsenchirurgen. Ich konnte ihm einige Kniffe bei der Untersuchung dieser Patienten abgucken. Aber auch andere chirurgisch zu behandelnde Patienten lagen auf der Station. Einer litt unter den Spätfolgen einer Schussverletzung. Anamnese: Er war auf der Seite der Nazitruppen im spanischen Bürgerkrieg 1936–1939 bei Ibiza in eine Maschinengewehrgarbe der republikanischen Verteidiger geraten.

Auch im Nachbarzimmer litt ein Mann unter alten Kriegsverletzungen, ebenfalls im spanischen Bürgerkrieg empfangen, allerdings auf der anderen, der republikanischen Seite. Beide hatten feste Bettruhe, konnten sich also nicht begegnen. Der spanische Bürgerkrieg lag damals erst 20 Jahre zurück, da war es noch nicht ausgeschlossen, dass alter Streit erwachen könnte.

 

Katholische Lebens- und Berufsauffassung

Eine weitere Famulatur absolvierte ich im kleinen katholischen Krankenhaus Hedwigshöhe, bei Berlin-Grünau, einer Zweigstelle des bekannteren Hedwigskrankenhauses im Berliner Zentrum. Ich hatte mich dort beworben, weil ich, obwohl damals selbst nur noch Christ pro forma, christliche Menschlichkeit aus der Nähe kennen lernen wollte. Schon die Anmeldung bot eine Überraschung. Frage der Anmeldeschwester: „Religion?“ Ich stutzte – diese Frage war in der DDR unzulässig und unüblich. Sie sah mein verdutztes Gesicht und entschied kühl: „Also evangelisch“ und traf es damit. Offenbar wurden die Ergebnisse dieser Befragung nicht nur notiert. Als wir Famuli – wir waren im ganzen Hause wohl drei – eines Tages in unseren Aufenthaltsraum kamen, lag kommentarlos ein großer Bildband auf dem Tisch. Er zeigte in ausgezeichneten Fotos mit Erläuterungen Prozessionen zum katholischen Fronleichnamsfest. Das Vorwort widmete den Prachtband ausdrücklich den Menschen nicht-katholischen Glaubens. Sie sollten bildhaft sehen, welche seelisch erhebenden Feiern Katholiken begehen und wie große Menschenmassen die Kirche mobilisieren konnte. Wir blätterten das Buch sorgsam durch und damit war die Sache erledigt. Niemand sagte uns, er habe es hingelegt, niemand fragte uns, ob es uns gefiele. Einige Tage später war der Band wieder fort. Da wir in keiner Weise bedrängt wurden, nahmen wir die Sache als faires geistliches Angebot, das uns zu nichts verpflichtete.

Im Krankenhaus Hedwigshöhe begegnete ich zum ersten Mal im Leben Nonnen, Krankenschwestern, die dem Boromäer-Orden angehörten. Ihre große, klapperhart gestärkte Haube war hinderlich beim Telefonieren, denn sie konnten den Hörer nur außen an die Haube halten. Wer das wusste, sprach am Telefon etwas laut mit ihnen. Das Telefon in ihrer Hand, dazu meist die moderne Armbanduhr am Handgelenk bildeten zur mittelalterlichen Tracht einen seltsamen Kontrast, der ihnen aber nicht mehr bewusst war. Trotz ihres Verzichts auf Sexualität, Ehe, Familie, Kinder fand ich in ihnen überwiegend lebensfrohe Naturen, die vielleicht zufriedener mit sich und der Welt waren, als andere Menschen, die sich weniger Verzicht auferlegten – für mich ist das bis heute erstaunlich aber unverständlich und keinesfalls nachzuahmen.

Eines Tages fiel vor den Ohren einer Krankenschwester der alltägliche Satz: „Wenn ich sterbe, dann möglichst rasch, am besten im Schlaf.“ Das galt damals wie auch meist heute als oft geäußerter Wunsch. Die Schwester aber protestierte lebhaft: „Das ist Sterben wie ein Hund! Ich will mich richtig und ordentlich von der Welt verabschieden, ehe ich gehe.“ Ich war beeindruckt, wenn auch nicht überzeugt: so hatte ich das nie gesehen. Sehr bald erlebte ich das Gesagte in der Praxis. Eine tief gläubige Patientin wusste, dass sie nur noch wenige Stunden zu leben hatte. Sie empfing die Tröstungen des Hausgeistlichen und auch die besonders liebevollen Worte und Pflegemaßnahmen der Schwestern. Dann starb sie gefasst. Kommentar der Schwestern: „So kann man nur im festen Glauben an Gott sterben. Wir haben hier schon manchen Parteifunktionär sterben sehen. Sie alle verloren beim unausweichlichen Ende die Beherrschung und starben elend und in Angst“.

Mir war es damals einfach wichtig, auch diese Haltung, die von meiner eigenen doch spürbar abwich, unmittelbar kennen zu lernen. Wie ich heute weiß, wollen auch gläubige Muslime ihr Sterben bewusst gestalten. Sie versammeln ihren Familienkreis um sich und fragen: „Gibt es noch eine unbeglichene Schuld?“(6) Und von antifaschistischen Widerstandskämpfern im Zuchthaus berichtet die Literatur, sie hätten zwischen Verhören und Foltern noch ihre letzten Kenntnisse und Meinungen an die Mitgefangenen übermittelt „weil mir vielleicht dafür keine Zeit mehr bleibt“.

Chef des Hauses Hedwigshöhe und gleichzeitig Chefchirurg war ein Dr. Pochhammer, selbst natürlich gläubiger aber in diesem Punkte schweigsamer Katholik. Er war durch die Ehe mit der Tochter eines großen Pharma-Betriebsinhabers zu viel mehr Geld gekommen, als er im Beruf je verdienen konnte. Man munkelte von Millionen, was damals noch mehr als heute bedeutete. Für seinen Lebensunterhalt brauchte er sich die Belastungen des Chefchirurgen keineswegs aufzuladen. Aber er war der Meinung, dass ein Mann im besten Leistungsalter nicht faulenzen dürfe. An ihm war zweierlei zu beobachten: Sein Geld beruhigte ihn spürbar und seine aufreibende Arbeit machte ihn offenbar zufrieden.

Vormilitärische Ausbildung für Ärzte?

Eines Abends sollten wir während einer FDJ-Versammlung wohl überrumpelt werden. Soweit ich mich erinnere, war die Tagesordnung vorher nicht bekannt gegeben worden, obwohl das FDJ-Statut das vorsah. In der Beratung wurden wir dann plötzlich und ziemlich dringlich aufgefordert, uns zur vormilitärischen Ausbildung bereit zu finden. Zwar hatte ich, wie schon beschrieben, vor Studienbeginn eine Ausbildung in der GST durchgemacht, die ebenfalls mit Waffen zu tun hatte. Aber indessen kannten wir ein wenig die Genfer Konvention, die dem Sanitätspersonal allenfalls die Selbstverteidigung bei Übergriffen gegnerischer Truppen gestattet. Genau damit wurde die Aufforderung zur Ausbildung auch begründet.

Aber allzu viel Ausbildung und die drängende Art der Aufforderung waren uns verdächtig. Was steckte wirklich dahinter? So herrschte betretenes Schweigen. Ich brach trotz meiner Furcht vor den Folgen die Stille und erklärte, das sei mit meinem Gewissen unvereinbar, auch weil unter Realbedingungen keine Garantie bestünde, dass es bei Selbstverteidigung bliebe. Ich hatte kaum gesprochen, da brachen die Dämme. Die Masse der Studierenden lehnte die Ausbildung ab. Der vorbereitete Beschluss konnte nicht durchgesetzt werden. Die Versammlung endete ohne Ergebnis und der Verlauf war am nächsten Tag im ganzen Studienjahr bekannt.

Natürlich drängten die staatlichen Oberen und die der FDJ weiter. Allerdings habe ich später erfahren, dass es auch in der Hochschulgruppenleitung der FDJ Widerspruch gegeben hatte, darunter durch eine Studentin, die wir später noch näher kennenlernen werden. Aber auch ohne diese Kenntnis wehrten wir uns weiter, zitierten die Genfer Konvention und manches weitere Argument. Ein Student bemerkte öffentlich: „Ich bin kein Held und will auch keiner werden.“ Andere, mit denen ich mich am Biertisch beriet, waren raffinierter. Einige verstanden angeblich ein wenig von militärischen Dingen. Sie argumentierten genau anders herum. Der militärisch Halbgebildete gefährdet sich bei Waffengebrauch nur unnütz. Er sollte sich besser ergeben. Aus dieser Logik heraus verlangten sie eine komplette Ausbildung, die nur so Sinn hätte. Die war natürlich neben dem Medizinstudium nicht möglich und eine Studienunterbrechung angesichts des Ärztemangels stand nie zur Diskussion. Also liefen diese schlitzohrigen Argumente ebenfalls auf eine Ablehnung hinaus, ohne dass sich die Vertreter dieser Richtung besonders exponierten. Solche aalglatte Taktik hat mir selbst nie gelegen. Ich ging die Dinge immer frontal und dabei oft unklug an. Daran hat sich bis heute wenig geändert.

Es gab in dieser Zeit eine Zwischenprüfung in Gesellschaftswissenschaften. Die Prüfungsfragen waren für mich leicht, da sie sich mit der Geschichte des Dritten Reiches befassten und ich meinen sehr guten Schulunterricht voll anwenden konnte. So steuerte schon alles auf die Note Eins hin, da kam der Schlag: Der Prüfer erwartete nicht nur Kenntnisse, sondern Zustimmung zur Staatspolitik und forderte meine Unterschrift zur vormilitärischen Ausbildung. Sonst wären meine gute Zensur und damit das Leistungsstipendium dahin. Damit wäre das Studium insgesamt in sehr ernste Gefahr geraten. So unterschrieb ich verlogen lächelnd und innerlich zähneknirschend.

Ich konnte die Blamage vor mir selbst und meinen Mitstudenten aber gerade noch so ertragen, denn der Protest gegen unsere vormilitärische Ausbildung hatte indessen so viel Eigengewicht gewonnen, dass das Vorhaben nicht mehr ernstlich durchsetzbar war. Außer ein paar Marschübungen, an denen sich trotz allgemeiner Pflicht nur wenige Kommilitonen beteiligten, und anderen lächerlichen Versuchen, so zu tun, als fände etwas statt, kam nichts von Bedeutung nach. Nur ich hatte den Ärger. Studenten aus gut situierten Arzthaushalten, die meine Geldsorgen gar nicht verstehen konnten, schalten mich ins Gesicht hinein, ich hätte mich verkauft. Das musste ich schlucken, denn sie hatten ja Recht.

Arbeitseinsätze

Arbeitskräftemangel war in der DDR ein Dauerzustand. So wurden bei besonderen Arbeitsbelastungen in der Industrie und der Landwirtschaft Studenten jährlich ein Mal zu Arbeitseinsätzen herangezogen, die meist knappe zwei Wochen dauerten. Natürlich kamen nur Hilfsarbeiten in Frage, meist Kartoffeln vom Acker sammeln. Das geschah damals noch mit Hand, Vollerntemaschinen gab es erst später. Im Winter gab es in den riesigen Tagebauen des Lausitzer Braunkohlenreviers immer wieder die gleichen Schwierigkeiten: Die beweglichen Gleise, auf denen die Kohle aus dem Tagebau gefahren wurde, versackten in Matsch und Schlamm oder froren am Erdreich fest. Die vereiste Rohbraunkohle, die von der Reibungswärme beim Baggern aufgetaut war, fror beim Transport in den stählernen Transportwagen wieder fest und musste zum Entladen losgeschlagen werden.

Ungläubig staunend sahen wir am Bahnhof Senftenberg frisch gefallenen Schnee, der schon nach zehn Minuten eine Rußschicht trug. Luftreinhaltung war in dieser Gegend damals abgeschrieben, die elektrischen Rauchgasfilter der Kraftwerke waren außer Betrieb, da sie ungefähr sechs bis sieben Prozent der erzeugten Energie fraßen. Bewundernd standen wir vor der gewaltigen Tagebautechnik: Bagger, deren Schaufeln anderthalb Kubikmeter Erdreich fassten, Schaufelradbagger, die Rohbraunkohle aus dem Flöz abschabten, als sei sie lose. Nie hatten wir lose auf die Erde gelegte, bewegliche Bahngleise gesehen. Ein Braunkohlentagebau ist ein riesiger Graben, der nach der Abbauseite wandert, das Erdreich über der Braunkohle (Abraum) abträgt, die Braunkohle darunter entnimmt und das Erdreich auf der ausgekohlten Seite mit einem riesigen Transportband, Förderbrücke genannt, abkippt.


Schema eines Braunkohlentagebaues – eigene Zeichnung


Wirkprinzip einer Abraumförderbrücke - wikipedia, modifiziert nach Loeff

Dazu muss alles auf der Tagebausohle in Abbaurichtung wandern: Tagebaugeräte, Bahngleise samt zugehörigen Stromleitungsmasten und sogar die Aufenthaltsbuden sind über einen Stahlträger mit dem Gleis verbunden. Die Gleise werden mit einer Gleisrückmaschine bewegt. Es beeindruckte uns fürs Leben, als wir in der Frühstückspause Kaffee eingossen und das Geräusch des Gleisrückers noch nicht kannten. Plötzlich ruckte unser Aufenthaltsraum 30 Zentimeter weiter und der heiße Kaffee war auf der Hose. So lernten wir, vorher zum Fenster hinaus zu sehen und erst danach mit Kanne oder Besteck zu hantieren.

Tagebaugeräte sind Wunder der Großtechnik. Die Förderbrücke in Lichterfeld bei Finsterwalde dient heute nach ihrer Stilllegung als viel bestaunte touristische Attraktion. Eine französische Delegation, für die meine Frau dolmetschte, beeindruckte es besonders, dass sie mit 502 Metern Länge wesentlich größer ist, als der Eiffelturm, der 320 Meter in der Höhe misst. Und außerdem war sie, als sie im Dienst stand, auch noch beweglich!